Zweiundzwanzig
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Die Schlacht tobte in nächster Nähe des Musterschieberplaneten. Im Herzen der Kämpfe und dicht am geometrischen Zentrum seines riesigen Schiffs Zodiakallicht saß Remontoire in einer Pose zenartiger Gelassenheit. Sein Gesichtsausdruck verriet nur mäßiges Interesse am Ausgang des Geschehens. Seine Augen waren geschlossen; die Hände hielt er sittsam im Schoß gefaltet. Er wirkte gelangweilt und etwas zerstreut, wie ein Mann, der in einem Wartezimmer sitzt und vor sich hin döst.
Remontoire langweilte sich nicht, und er würde auch nicht einnicken. Langeweile war – ähnlich wie Wut oder Hass oder der Durst nach Muttermilch – ein Gemütszustand, an den er sich kaum erinnerte. Er hatte viele Gemütszustände durchgemacht, seit er vor fast fünfhundert Jahren den Mars verlassen hatte, darunter einige, die mit den eindimensionalen, beschränkten Mitteln der menschlichen Standardsprache nur ungenügend zu beschreiben waren. Aber Langeweile war nicht darunter, und er rechnete nicht damit, dass sie in Zukunft in seiner mentalen Verfassung einen breiteren Raum einnehmen würde, bestimmt nicht, solange die Wölfe noch in der Nähe waren. Und an Schlaf war vorerst wohl auch nicht zu denken.
Hin und wieder verriet ein Teil von ihm – die Augenlider oder sogar der ganze Kopf – mit kaum merklichem Zucken, wie weit er von Langeweile tatsächlich entfernt war. Eiskalt und klar wie ein Gebirgsbach wogten unablässig taktische Informationen durch sein Bewusstsein. Er hatte alle geistigen Prozesse so stark beschleunigt, dass sich die Aktivität gerade noch innerhalb der Kühlparameter seiner veralteten mentalen Synthetikerarchitektur hielt. Skade hätte ihn ausgelacht, wenn sie gesehen hätte, wie sehr ihm eine Geschwindigkeit der Gedankenverarbeitung, die – für sie – kaum der Rede wert war, zu schaffen machte. Skade konnte nicht nur schneller denken, sondern zugleich ihr Bewusstsein in ein halbes Dutzend parallel laufender Ströme aufteilen. Und dabei konnte sie noch umhergehen und Sport treiben, während Remontoire wie in Trance still sitzen musste, um Geist und Körper nicht noch mehr Stress auszusetzen. Die beiden stammten wahrhaftig aus verschiedenen Jahrhunderten.
Er hatte in letzter Zeit viel über Skade nachgedacht, doch jetzt war sie nicht seine erste Sorge. Er hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie tot war. Schon bevor er Khouri gestattet hatte, der abgestürzten Korvette in die Planetenatmosphäre zu folgen, war dieser Verdacht sehr stark gewesen, aber er hatte es vermieden, sich allzu ausgiebig damit zu beschäftigen. Denn wenn Skade tot war, dann lebte auch Aura nicht mehr.
Etwas veränderte sich: Durch die große schwarze Kriegsmaschinerie, in der er schwebte, ging ein Ruck, ein Schwirren. Stundenlang hatten die gegnerischen Parteien – die Standardmenschen, Skades Synthetiker und die Unterdrücker – den Planeten in so fester Formation umkreist, als hätten sie endlich eine mathematische Konfiguration von maximaler Stabilität gefunden. Die Synthetiker waren ernüchtert: Wochenlang hatten sie gegenüber Remontoires lockerem Bündnis aus Menschen, Schweinen und Resurgam-Flüchtlingen an Boden gewonnen. Sie hatten Aura entführt und durch sie viele der Geheimnisse erfahren, die es Remontoire und seinen Leuten ermöglicht hatten, im Delta-Pavonis-System an den Unterdrückern vorbeizukommen. Später hatte ihnen Remontoire im Gegenzug für Khouris Freiheit noch mehr verraten. Doch seit Skades Verschwinden waren sie weitaus verwirrter und orientierungsloser, als es bei einer vergleichbaren Gruppierung aus Remontoires Generation der Fall gewesen wäre. Skade war zu stark gewesen und hatte sie allzu erfolgreich manipuliert. Im Krieg gegen die Demarchisten (der Remontoire im Rückblick wie ein harmloser Kinderstreit vorkam) war die radikal demokratische Struktur der Synthetikergesellschaft durch die Schaffung von unterschiedlich geheimen Gruppen – des Inneren Konzils, des Allerheiligsten und vielleicht sogar des nur gerüchteweise bekannten Nachtkonzils – zunehmend untergraben worden. Skade war das logische Ergebnis dieses Zersplitterungsprozesses: sehr qualifiziert, sehr erfinderisch, sehr gebildet und ausnehmend geschickt darin, die Fäden zu ziehen. Unter dem Druck des Krieges gegen die Demarchisten hatte sich sein Volk – ganz unbemerkt – seinen eigenen Tyrannen gezüchtet.
Und Skade war ein ausgezeichneter Tyrann gewesen. Sie wollte nur das Beste für ihr Volk und hätte dafür auch in Kauf genommen, dass der Rest der Menschheit ausgerottet wurde. Mit ihrer Zielstrebigkeit, ihrer Bereitschaft, die Grenzen von Körper und Geist zu überschreiten, hatte sie sogar Remontoire mitgerissen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich auf ihre anstatt auf Clavains Seite geschlagen. Kein Wunder, dass die Synthetiker in ihrem Lager nicht mehr fähig waren, selbstständig zu denken. Solange sie Skade hörig waren, hatten sie das niemals nötig gehabt.
Doch jetzt war Skade fort, und ihr Heer aus schnellen, genialen Marionetten wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
In den letzten zehn Stunden hatten Remontoires Streitkräfte durch kurze Lücken in der Kommunikationsblockade, von der die gesamte Kampfzone betroffen war, von den verbliebenen Synthetikerelementen achtundzwanzigtausend Einladungen zu Verhandlungen abgefangen. Auch nach so viel Treuebruch und Bündnisverrat, nach so viel Gehässigkeit und Feindschaft galt er offenbar immer noch als ein Mann, mit dem man reden konnte. Und er hatte noch etwas herausgelesen: Sie fürchteten etwas, wovon er noch nichts wusste. Die entsprechenden Hinweise mochten bewusst eingestreut worden sein, um seine Aufmerksamkeit zu erregen und ihn zur Aufnahme von Gesprächen zu bewegen, aber sicher war er da nicht.
Er hatte vorgehabt, sie noch ein klein wenig länger schmoren zu lassen, wenigstens so lange, bis er konkrete Informationen vom Planeten hätte.
Doch jetzt hatte sich tatsächlich etwas getan. Die Verteilung der Streitkräfte hatte sich verändert. Er hatte es vor einer fünfzehntel Sekunde bemerkt, und seither war nichts geschehen, was ihn an seiner Entdeckung hätte zweifeln lassen.
Die Unterdrücker setzten sich in Bewegung. Ein Klumpen Wolfsmaschinen – sie formierten sich nicht zu geordneten Geschwadern oder Abteilungen, sondern ballten sich zu Klumpen oder flimmernden Wolken zusammen – hatte seine bisherige Position verlassen. Zwischen fünfundneunzig und neunundneunzig Prozent der Wolfstruppen um p Eridani 40 – eine Schätzung nach Masse oder Volumen (wie viele Wolfsmaschinen ihnen tatsächlich von Delta Pavonis hierher gefolgt waren, ließ sich kaum feststellen) – waren an Ort und Stelle geblieben. Aber wenn man den nicht immer zuverlässigen Sensormeldungen glauben konnte, hatte sich eine kleine Gruppe – zwischen ein und fünf Prozent der Gesamtstreitmacht – auf den Weg zum Planeten gemacht.
Die Gruppe beschleunigte gleichmäßig und ließ eine Welle von gemarterten Naturgesetzen hinter sich zurück. Wenn sich Unterdrückermaschinen bewegten, lösten sie keinerlei Gegenkraft im Newtonschen Sinn aus. Bei den Synthetikertriebwerken hatte man neuerdings durch verschiedene Modifikationen einen ähnlichen Effekt erzielt, indem man die Abgaspartikel sehr schnell in einen Quantenzustand überführte, in dem sie nicht mehr zu beobachten waren. Die Wölfe arbeiteten jedoch mit einem anderen Prinzip. Selbst aus der Nähe war keinerlei Schubmedium festzustellen. Man vermutete – und es blieb bei der Vermutung –, dass ihre Triebwerke eine Form des Casimir-Effekts verwendeten und sich von der Anziehungskraft zwischen zwei parallelen Platten durch die Raumzeit schleudern ließen. Dass die Beschleunigung mehrere Billionen Mal höher war, als diese Theorie es gestattete, hielt man für weniger peinlich, als gar keine Theorie zu haben.
Er simulierte die Flugbahn des Klumpens. Das Ding mochte sich in kleinere Elemente aufspalten oder sich mit einem anderen Haufen vereinigen, aber wenn es diesen Kurs beibehielt, musste es die Lufthülle des Planeten streifen.
Remontoire war beunruhigt. Bisher hatten es die Alien-Maschinen auffallend vermieden, der Welt zu nahe zu kommen, so als wäre tief in ihren Kontrollroutinen ein Verbot enthalten, ein Basisbefehl, der jeden unnötigen Kontakt mit Musterschieberwelten verhinderte.
Doch nun hatten Menschen den Krieg auf den Wasserplaneten getragen. Wie tief mochte das Verbot verankert sein? Der Abschuss von Skades Korvette war deutlich zu sehen gewesen. Vielleicht hatte dieses Ereignis den Schalter umgelegt, vielleicht war es schon zu spät, und die Unterdrückermaschinen waren bereits in die Biosphäre eingedrungen. Dann wären auch für diesen Schieberplaneten die Tage gezählt.
Von Remontoire aus gesehen, war der Klumpen seit fast einer Sekunde unterwegs. Wenn man die üblichen Beschleunigungskurven ansetzte, würde er den Luftraum des Planeten in weniger als vierzig Minuten erreichen. Für Remontoire bei seiner derzeitigen Denkgeschwindigkeit eine ganze Ewigkeit. Aber er wusste, dass das nicht der Realität entsprach.
Sobald Remontoires Dreizackshuttle den Rumpf der Zodiakallicht durch eine seitliche Öffnung verlassen hatte, schaltete sich der Hauptantrieb ein. Die Rückenmarkskompression war so unerbittlich wie bei einem Sturz auf Beton. Der Rumpf protestierte mit lautem Knirschen, als die Beschleunigung auf fünf, sechs, sieben Ge stieg. Das Shuttle hatte nur ein Triebwerk, das an einem Ausleger befestigt war, eine Mikrominiaturausführung eines Synthetikertriebwerks, ein Präzisionsinstrument, bei dem jedes Bauteil geradezu zwanghaft auf kleinstmögliche Dimensionen verdichtet worden war. Der Gedanke hätte Remontoire nervös gemacht, wenn er sich so etwas wie Nervosität gestattet hätte.
Das Schiffchen war erst vor kurzem von den Replikatoren hergestellt worden. Er war das einzige Lebewesen an Bord, und es schien, als hätte man erst im Nachhinein daran gedacht, ihn in die winzige augenförmige Höhlung des lang gestreckten, kohlschwarzen Nadelrumpfs zu pressen. Es gab keine Fenster und nur ein Minimum an Sensoröffnungen, doch Remontoire konnte dank seiner Implantate durch das Shuttle hindurchsehen, er empfand es nur als Erweiterung seines persönlichen Wahrnehmungsraumes. Jenseits der festen Wände schloss sich die abstraktere Sphäre der Sensorerfassung an: Die passiven und aktiven Kontakte reizten den Bereich seines Gehirns, der für die propriozeptive Wahrnehmung seines eigenen Körperbildes zuständig war.
Bei acht Ge war das Maximum erreicht. Das Shuttle hatte keine Trägheitssperre, die Remontoire vor dem Beschleunigungsdruck geschützt hätte, obwohl die Synthetiker seit mehr als einem Jahrhundert über die Technologie zur Trägheitskontrolle verfügten. In diesem Fall musste man darauf verzichten. Die zweite Technologie, die dieses Schiff mit sich führte – die flirrende Maschinerie des hypometrischen Geschützes –, war hoch empfindlich gegenüber allen Veränderungen in der lokalen Metrik. Der Einsatz hypometrischer Waffen war schon in nahezu flacher, gravitationsloser Raumzeit eine heikle Angelegenheit. Im Einflussbereich von Trägheitstechnologien verhielten sie sich so unberechenbar wie boshafte Kobolde. Remontoire hätte gern noch stärker beschleunigt, aber bei mehr als acht Ge wurde die Gefahr zu groß, die winzigen Bauteile des Geschützes in Unordnung zu bringen.
Das Geschütz selbst war von außen ziemlich unscheinbar. Es hing in seiner zigarrenförmigen Gondel an dem gleichen Ausleger wie das Triebwerk und hatte weder Rohr noch Abgasstrahl. Die Oberfläche war völlig einheitlich. Die Form wurde nur von einer einzigen Bedingung bestimmt: Das Geschütz musste so weit wie nur möglich von dem menschlichen Insassen entfernt sein. Wie bedrohlich die glanzvolle Errungenschaft war, ließ sich daran ermessen, dass Remontoire sich tatsächlich sicherer fühlte, weil er das instabile Miniaturtriebwerk zwischen sich und der exotischen Waffe wusste.
Er kontrollierte die Bahn des Unterdrückerklumpens und stellte ohne Genugtuung oder Enttäuschung fest, dass er sich genau da befand, wo er nach seinen Berechnungen sein sollte. Dafür gab es eine andere Entwicklung: Mit seinem Abflug von der Zodiakallicht hatte er die Aufmerksamkeit der anderen Protagonisten erregt. Einer von Skades ehemaligen Verbündeten befand sich mit einer höheren Beschleunigung, als er sie auf Dauer halten konnte, auf Abfangkurs. Das Synthetikerschiff würde seine Bahn in fünfzehn Minuten kreuzen. Fünf oder sechs Minuten später hätte ihn ein zweiter Klumpen erreicht.
Remontoire gestattete sich ein Fünkchen Besorgnis, gerade so viel, um etwas Adrenalin in seinen Kreislauf zu pumpen. Dann unterdrückte er das Gefühl wieder, als schlüge er die Tür zu einer ausgelassenen Party zu.
Er wusste, dass es vernünftiger gewesen wäre, auf der Zodiakallicht zu bleiben, wo er mit seiner Koordination und seinem Überblick am meisten bewirken konnte. Für den Flug mit dem Shuttle hätte er eine Beta-Simulation von sich selbst programmieren oder einen Freiwilligen suchen können. Es hätte Dutzende von Bewerbern gegeben, einige waren sogar mit Synthetikerimplantaten ausgerüstet. Aber er wollte unbedingt selbst im Schiff sitzen. Er hatte sich nicht nur länger als die meisten anderen mit dem Verhalten des hypometrischen Geschützes beschäftigt. Er hatte auch das Gefühl, dies sei seine Pflicht, und er müsse sie erfüllen.
Der Grund dafür war Ana Khouri. Es war ein Fehler gewesen, sie allein auf den Planeten fliegen zu lassen. Aus militärischer Sicht war die Entscheidung vollkommen richtig gewesen: Wozu die ohnehin überstrapazierten Ressourcen noch weiter schwächen, wenn Aura wahrscheinlich bereits tot war und außerdem aller Voraussicht nach bereits alles geleistet hatte, was man jemals von ihr erwarten konnte? Außerdem hatte ohnehin nur eine Rettungskapsel eine Chance gehabt, zur Oberfläche durchzukommen, solange die Blockade der Unterdrücker noch voll in Kraft war.
Aber Clavain hätte das anders gesehen. Er pflegte neun von zehn Entscheidungen streng nach militärischen Gesichtspunkten zu treffen. Sonst hätte er nicht fünfhundert Jahre überlebt. Doch in einem von zehn Fällen setzte er sich kurzerhand über diese Regel hinweg, und dann war seine Handlungsweise nur auf der menschlichen Ebene zu verstehen.
Remontoire ging davon aus, dass dies eine solche Gelegenheit gewesen war. Obwohl man annehmen musste, dass Skade und Aura tot waren: Clavain hätte Khouri begleitet, auch wenn sie bei diesem Rettungsversuch höchstwahrscheinlich beide ums Leben gekommen wären.
Er hatte im Lauf der Jahre Clavains Leben und vor allem solche kritischen Punkte immer wieder einmal genauer unter die Lupe genommen, um herauszufinden, ob diese irrationalen Anwandlungen seinem alten Freund mehr genützt oder geschadet hatten. Auch jetzt, während er auf das Synthetikerschiff wartete, ließ er Clavains Entscheidungen noch einmal an sich vorüberziehen. Wie immer kam er zu keiner zufrieden stellenden Lösung. Aber er hatte sich ja bereits entschieden, sich hier an Clavains Regeln und nicht an die starren Vorgaben der taktischen Analyse zu halten.
In seinem Gehirn schlug eine Glocke an. Die fünfzehn Minuten waren um.
Es hatte keinen Sinn gehabt, sich mit dem Synthetikerschiff zu beschäftigen, bevor es da war: Ein schneller Überblick über die verfügbaren Möglichkeiten hatte ihm gezeigt, dass er mit einer Abweichung von seinem Kurs nichts erreicht hätte.
Das zweite Schiff schob sich durch die konzentrisch angeordneten Sensorschichten wie ein Fisch, der scharf abgegrenzte Meeresströmungen durchschwamm. Vor Remontoires innerem Auge entwickelte es sich von einer vagen Andeutung in den Sensordaten zu einem greifbaren Objekt.
Es war eine Korvette der Moray-Klasse wie Skades Schiff, von ebenso Licht verschlingender Schwärze wie Remontoires Shuttle, aber nicht in Form eines Dreizacks, sondern eines Angelhakens. Das Schiff war so stark getarnt, dass die spektrale Signatur seiner Triebwerke selbst aus der Nähe kaum zu erkennen war. Im Durchschnitt strahlte der Rumpf eine Kälte von 2,7 Kelvin ab. Aus der Nähe zeigte sich im Mikrowellenbild ein unregelmäßiges Mosaik aus heißen und kalten Flecken. Remontoire peilte die kryo-arithmetischen Aggregate an und stellte fest, welche davon mit geringerem Wirkungsgrad arbeiteten als ihre Nachbarn und welche Besorgnis erregend kalt liefen, weil der Zyklus der Algorithmen im Begriff war, außer Kontrolle zu geraten. Gelegentlich zeigte ein blauer Funke an, dass einer der Knoten unter 1 Kelvin fiel, doch jedes Mal wurde der Ausreißer wieder in die Marschformation zurückgeholt.
Schiffe konnten willkürlich kalt gemacht werden und dadurch mit der kosmischen Hintergrundstrahlung verschmelzen. Aber diese Hintergrundkarte war nicht gleichförmig: Durch die kosmische Inflation im Anfangszustand des Universums hatten sich winzige Flecken im expandierenden Universum vergrößert, und so waren, je nachdem, wo man hinsah, leichte Abwandlungen im Hintergrund entstanden. Es handelte sich dabei um Abweichungen von der vollen Anisotropie: Runzeln im Antlitz der Schöpfung. Wenn ein Schiff seine Rumpftemperatur diesen Schwankungen nicht anpassen konnte, war auch die Anpassung an das Hintergrundspektrum nicht vollständig. In gewissen Situationen war die Suche nach solch winzigen Fehlern die einzige Möglichkeit, feindliche Schiffe überhaupt aufzuspüren.
Aber jetzt wollte sich das Synthetikerschiff mit der Kälte seines Rumpfs nur vor den Unterdrückerstreitkräften in der näheren Umgebung tarnen. Es unternahm keine größeren Anstrengungen, um sich vor Remontoire zu verbergen, sondern versuchte sogar, mit ihm zu sprechen.
Synthetiker hatten eine Eigenschaft, die selbst Menschen mit nicht aufgerüsteten Gehirnen nur bewundern konnten: Sie gaben niemals auf. Achtundzwanzigtausend unbeantwortete Verhandlungsangebote hielten sie nicht davon ab, das achtundzwanzigtausendunderste abzuschicken.
Remontoire ließ zu, dass der schmale Strahl des Nachrichtenlasers über seinen Rumpf strich, bis er einen der wenigen Sensorpunkte gefunden hatte.
Dann prüfte er, geschützt durch zahlreiche mentale Firewallschichten, die Übertragung und entschloss sich erst nach vielen Sekunden, sie in die innersten Bereiche seines Bewusstseins einzulassen. Sie war nicht in einem der höheren Synthetikerprotokolle, sondern in einer natürlichen Sprache abgefasst. Eine subtile Beleidigung, dachte er: Für Skades Verbündete war dieses Format gleichbedeutend mit dem Lallen eines Säuglings.
[Remontoire? Du bist es doch? Warum willst du nicht mit uns sprechen?]
Er verfasste einen Gedanken im gleichen Format. Woher wollt ihr so genau wissen, dass ich Remontoire bin?
[Du warst immer schon ein Freund verwegener Gesten, auch wenn du es nicht zugeben wolltest. Was du jetzt vorhast, erinnert an eine von Clavains tollkühnen Eskapaden.]
Jemand muss handeln.
[Du beweist Mut, Remontoire, aber es ist sinnlos, sich um die Menschen da unten auf dem Planeten zu kümmern. Wir können nichts mehr tun, um ihnen zu helfen. Sie sind auch nicht für den Ausgang dieses Krieges von Belang.]
Dann sollten wir sie wohl ihrem Schicksal überlassen. Das wäre doch Skades Lösung?
[Skade würde für sie tun, was sie könnte, wenn sie der Meinung wäre, es würde etwas ändern. Aber du machst alles nur noch schlimmer. Warum willst du die Kämpfe auf den Planeten tragen? Warum willst du gerade jetzt hier oben die Spannungen verstärken, wenn wir unsere Kräfte so dringend konsolidieren müssen?]
Noch ein Angebot zur Zusammenarbeit? Skade wird sich im Grab umdrehen.
[Sie war Pragmatikerin, Remontoire, genau wie du. Sie hätte eingesehen, dass jetzt der Moment gekommen ist, uns zu vereinen, unser Wissen zusammenzulegen und gemeinsam gegen die feindlichen Maschinen loszuschlagen.]
Anders ausgedrückt, ihr kommt mit Betrug und Diebstahl nicht mehr weiter. Ihr habt begriffen, dass ich euch nie wieder vertrauen werde. Deshalb könnt ihr jetzt verhandeln, ohne etwas zu verlieren.
[Es wurden tatsächlich taktische Fehler begangen, die wir sehr bedauern. Aber nachdem Skade – wie du angedeutet hast – wahrscheinlich tot ist…]
Watscheln die Entlein herum und suchen nach einer neuen Entenmutter.
[Wähle deine Vergleiche nach Belieben, Remontoire. Wir wollten dir nur die Hand der Freundschaft reichen. Die Verhältnisse hier sind komplexer, als uns bisher bewusst war. Sicherlich sind dir die kleinen Hinweise in den Daten nicht entgangen – Fragmente, an sich fast ohne Bedeutung –, die in der Summe zu einer eindeutigen Schlussfolgerung führen: Wir haben es nicht nur mit den Wölfen zu tun, Remontoire. Da ist noch mehr.]
Mir ist nichts aufgefallen, was ich nicht erklären könnte.
[Dann hast du nicht aufgepasst. Hier, Remontoire: Du kannst dir unsere Daten ansehen, wenn du uns nicht glaubst. Vielleicht wird dir dann einiges klarer, und du wirst deine Meinung ändern.]
Ein Datenpaket wurde in sein Bewusstsein übertragen. Sein Instinkt riet ihm, es zu löschen, solange es noch komprimiert und nicht eingelesen war. Doch er entschloss sich, damit noch zu warten.
Ihr wollt mir ein Bündnis vorschlagen?
[Solange wir uneins sind, werden wir sie niemals besiegen. Gemeinsam könnten wir etwas ausrichten.]
Mag sein, aber ihr seid eigentlich nicht an mir interessiert, nicht wahr?
[Natürlich nicht, Remontoire.]
Er musste lächeln: Skades Synthetiker mochten führerlos sein, sie mochten sogar durch den instinktiven Wunsch, diese Lücke zu füllen, zu dieser Kontaktaufnahme getrieben werden, aber in erster Linie ging es ihnen um das hypometrische Geschütz. Es war die einzige Technologie, die sie bisher trotz Auras Entführung weder stehlen noch rekonstruieren hatten können. Sie brauchten nur einen einzigen Prototyp, der nicht einmal funktionsfähig sein musste, solange sie die Arbeitskonfiguration erschließen konnten.
Danke für das Angebot, aber ich bin im Augenblick anderweitig beschäftigt. Könnten wir uns vielleicht später darüber unterhalten? Sagen wir, in ein paar Monaten?
[Remontoire… zwinge uns nicht zum Äußersten.]
Er gab Seitenschub und entfernte sich abrupt von dem anderen Schiff. Das Blut schwappte durch seinen Schädel, und er registrierte, wie einzelne Hirnfunktionen ausfielen und wiederkamen. Im nächsten Moment war die Korvette auch schon hinter ihm her und kopierte seine Haken mit einer Raffinesse, die an Sarkasmus grenzte.
[Wir brauchen diese Waffe, Remontoire.]
Das dachte ich mir. Und warum habt ihr das nicht gleich gesagt?
[Wir wollten dir die Chance geben, die Dinge mit unseren Augen zu betrachten.]
Heißt das, ich soll euch auch noch dankbar sein?
Ein Zittern durchlief sein Schiff. In seinem Kopf leuchteten Schadensberichte auf, grell und geometrisch wie die Schmerzen bei einem Migräneanfall. Die Gegner hatten seinen Rumpf mit mehreren Projektilen durchschlagen und dabei auf kritische Systeme gezielt. Sie hatten präzise gearbeitet: Sein Schiff sollte steuerlos dahintreiben, reif zum Entern, aber sie wollten es nicht zerstören. Ob sie auch wollten, dass er überlebte, war eine andere Frage.
[Wenn du uns das Geschütz jetzt gibst, Remontoire, lassen wir dein Shuttle so weit intakt, dass du dem Wolfsklumpen hinter uns entkommen kannst.]
Bedauere sehr, aber ich habe für heute schon andere Pläne.
Wieder erbebte das Shuttle: Weitere zentrale Funktionen fielen ganz oder teilweise aus. Das Schiff war bereits dabei, die Schäden zu überbrücken, um den Flug fortsetzen zu können, aber das war nicht unbegrenzt möglich. Remontoire erwog einen Gegenschlag, wollte sich aber seine konventionelle Artillerie für die Wölfe aufsparen. Damit blieb ihm nur das hypometrische Geschütz selbst, und das war kaum getestet worden, seit man es mühsam kalibriert hatte.
Er veranlasste es mit einem mentalen Befehl, sich zu aktivieren. Der Drehimpuls übertrug sich auf das blanke Innenleben der Waffe. Er kompensierte die Abweichung im Schiffsvektor. Äußerlich war keine Veränderung festzustellen. Er fragte sich, welche Sensoren die Korvette wohl auf ihn gerichtet hatte, und ob sie empfindlich genug wären, die schwachen Aktivierungssignaturen aufzufangen.
Es war nur ein kleines Geschütz, und entsprechend begrenzt waren seine Präzision und seine radiale Wirkung (traditionelle Begriffe wie ›Reichweite‹ und ›Zielgenauigkeit‹ ließen sich auf hypometrische Waffen nur schwer übertragen). Aber dafür war sie auch sehr schnell einsatzbereit. Er stellte den Wirkungsbereich ein und suchte in der komplexen Topografie von Waffenparametern die Lösung, die einem bestimmten Punkt im dreidimensionalen Raum entsprach.
Dann stellte er die Verbindung zur Korvette wieder her. Zieht euch zurück.
[Noch einmal, Remontoire, zwinge uns nicht zum Äußersten.]
Der erste Schuss. Im Mosaik des Mikrowellenbildes der Korvette klaffte plötzlich ein Loch: In einer Rumpfseite fehlte ein genau halbkugelförmiges Stück. Die kryogenen Temperaturgradienten rotierten wie Wasser, bevor es im Abfluss verschwindet, und suchten nach einem neuen Gleichgewicht. Kühlungsknoten erstarrten paarweise in instabilen Schwingungsmodi.
Das Geschütz fuhr wieder hoch und riss ein zweites Loch in den Rumpf der Korvette. Dieser Schuss saß etwas tiefer, sodass die Wunde konkav ausfiel.
Jetzt antwortete die Korvette. Nur zögernd parierte Remontoire den Schiff-zu-Schiff-Schuss mit einem breiten Spektrum von Maßnahmen, ohne sich dabei völlig zu verausgaben. Er musste auch an die Unterdrückermaschinen denken.
Die Waffe machte sich ein drittes Mal schussbereit. Remontoire musste sich zwingen, sich auf die Lösung zu konzentrieren und sie genau zu analysieren. Wenn er jetzt einen Fehler machte, konnte das für alle Beteiligten tödlich sein.
Schuss. Der dritte Treffer war überhaupt nicht zu sehen.
Wenn er sich nicht verrechnet hatte, müsste er soeben ein sphärisches Loch ins Innere des Schiffs gerissen haben, ohne den Rumpf zu beschädigen oder wichtige Systeme in Mitleidenschaft zu ziehen. Und – der letzte Schliff – das Zentrum dieses Lochs müsste mikrogenau auf einer Linie mit den Zentren der beiden ersten liegen.
Er ließ den anderen noch einen Moment Zeit zu begreifen, wie präzise – und mit welcher Zurückhaltung – er zugeschlagen hatte, bevor er abermals Verbindung aufnahm. Der nächste Schuss zerstört euer Lebenserhaltungssystem. Verstanden?
Die Korvette zögerte. Sekunden krochen vorbei, Zeit genug für Skades Schüler, um wie Kinder riesige wackelige Türme aus Ereignis und Gegenereignis zu errichten und tausende von möglichen Antwortszenarien durchzuspielen. Sie hatten sicher nicht erwartet, dass er das Geschütz gegen sie einsetzen würde. Ihre Informationen konnten ihnen nicht verraten haben, dass er die Technologie so perfekt beherrschte. Und selbst wenn sie das gewusst und die Möglichkeit eines Angriffs in Betracht gezogen hätten, mussten sie damit rechnen, dass er auf den Triebwerkskern zielen und ihr Schiff in einem grellen Blitz aufgehen lassen würde.
Stattdessen hatte er ihnen nur eine Warnung erteilt. Denn dies, so hatte er gedacht, war nicht der Moment, sich neue Feinde zu schaffen.
Es kam keine Antwort mehr. Remontoire beobachtete fasziniert, wie die kryo-arithmetischen Aggregate die Temperaturunterschiede im Umkreis der beiden äußeren Löcher ausglichen und sich bemühten, den Schaden so gut wie möglich zu tarnen. Dann drehte sich die Korvette um ihre eigene Achse, zündete ihre Triebwerke und machte sich aus dem Staub.
Remontoire empfand Genugtuung. Er hatte seine Karten gut gespielt. Sein Schiff war trotz der Schäden noch flugfähig. Und jetzt hatte er es nur noch mit dem Klumpen Unterdrückermaschinen zu tun. Der würde in drei Minuten bei ihm sein.
Zweitausend Kilometer, eintausend, fünfhundert. Darunter hatten seine Sensoren Mühe, die Unterdrückermaschinen als ein einziges Gebilde zu erkennen, und lieferten für Werte wie Entfernung, Größe und geometrische Beschaffenheit widersprüchliche Schätzungen. Am besten kam er zurecht, wenn er die größeren Elemente innerhalb des Klumpens anvisierte und seine Rumpftarnung so justierte, dass er sie direkt vor dem kosmischen Hintergrund beobachten konnte. Er korrigierte die Schubvektoren und steuerte die Abgasstrahlen seines Shuttles von den ständig wechselnden Konzentrationen feindlicher Maschinen weg, auch wenn er damit an Beschleunigung einbüßte. Die Abgase waren unsichtbar und mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, kaum zu entdecken. Er hoffte zwar, dass es den Aliens ähnlich erging, aber es zahlte sich nicht aus, ein Risiko einzugehen.
Die Klumpen formierten sich neu und schoben sich näher heran. Noch waren sie zu weit entfernt und zu verstreut, um Ziele für das hypometrische Geschütz abzugeben. Außerdem wollte er diese Waffe nur dann gegen die Aliens einsetzen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab. Schließlich bestand immer die Gefahr, dass er sie ihnen einmal zu oft zeigte und ihnen damit genügend Daten für einen Gegenschlag lieferte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen: Immer wieder hatten die Unterdrücker wirksame Antworten auf menschliche Technologien gefunden, darunter auch auf einige der Waffen, die sie bereits nach Auras Angaben gebaut hatten. Nicht auszuschließen, dass die Alien-Maschinen ihre Gegenmaßnahmen gar nicht selbst entwickelten, sondern sie einfach aus dem Wirrwarr ihres Rassengedächtnisses hervorkramten. Remontoire fand diese Möglichkeit erschreckender als die Vorstellung, solche gezielten Reaktionen könnten das Ergebnis intelligenten Denkens sein. Eine Intelligenz konnte von einer anderen besiegt werden oder – aus Egoismus oder Unsicherheit – ihren Untergang sogar selbst herbeiführen. Aber wenn nun die Aktivitäten der Unterdrücker nicht von Intelligenz gesteuert wären, sondern nur aus irgendwelchen Archiven stammten? Angenommen, die systematische Ausrottung wäre nur ein geistloser bürokratischer Prozess? Die Galaxis war uralt und hatte viele kluge Ideen gespeichert. Vielleicht besaßen die Unterdrücker aus grauer Vorzeit längst alle Informationen über die neuesten Waffen und Technologien der Menschheit und hatten nur deshalb noch kein wirksames Gegenmittel gefunden, weil das Suchsystem zu langsam und das Archiv zu weitläufig war. Das hieße, dass die Menschen auf lange Sicht nichts tun konnten. Sie könnten die Unterdrücker allenfalls auf lokaler Ebene in die Knie zwingen. Sobald man anfinge, galaktisch zu denken, über die Hand voll unmittelbar benachbarter Sonnensysteme hinaus, wäre bereits alles verloren.
Andererseits hatte Aura über ihre Mutter mitgeteilt, es wäre nicht alles verloren – noch nicht. Man könnte Zeit gewinnen, selbst wenn es nicht gelänge, die Unterdrücker vernichtend zu schlagen.
Fetzen, Fragmente: Mehr hatten sie Auras wirren Botschaften nicht entnehmen können. Doch aus dem Rauschen hatten sich erste Andeutungen eines Signals herausgeschält. Hin und wieder war eine Gruppe von Worten aufgetaucht.
Hela. Quaiche. Schatten.
Scherben, herausgebrochen aus einem größeren Ganzen, das Aura nicht zu artikulieren vermochte, weil sie zu jung war. Remontoire konnte die Form des größeren Bildes nur erahnen, wenn er mit einbezog, was sie erfahren hatten, bevor Skade das Kind entführt hatte. Vermutlich waren inzwischen sowohl Skade als auch Aura tot, aber diese Scherben hatte er immer noch. So unwahrscheinlich es auch war, sie mussten etwas bedeuten. Und um die Spannung noch zu erhöhen, bestand zwischen zweien davon sogar ein Zusammenhang. Hela und Quaiche: Diese beiden Worte hatten etwas miteinander zu tun. Mit den Schatten konnte er dagegen nichts anfangen.
Was waren sie, und was konnten sie bewirken?
Der Klumpen war jetzt ganz nahe. Er hatte inzwischen Hörner ausgebildet, in deren Tiefen violette Blitze zuckten, um mit ihnen Remontoires Schiff in die Zange zu nehmen. In den scharfen Kanten und den gestuften Kurven waren erstmals symmetrische Würfel zu erkennen. Remontoire listete auf, welche Systeme seines Shuttles beim Angriff der Synthetiker beschädigt worden waren, und überlegte, was ihm unter diesen Bedingungen noch blieb. Noch wollte er das hypometrische Geschütz nicht einsetzen, außerdem glaubte er nicht, dass er es für einen zweiten Angriff aktivieren könnte, bevor ihn die heil gebliebenen Unterdrückermaschinen erledigten.
Der Planet vor ihm war merklich größer geworden. Remontoire hatte den zweiten Klumpen nicht weiter beachtet, aber er raste immer noch auf die empfindliche Schieberbiosphäre und ihre menschlichen Parasiten zu. Eine Hälfte der Welt lag im Dunkel, der Rest war von einem unruhigen Türkisgrün, und davor zogen weiße Wolken und tobende Wirbelstürme vorbei.
Remontoire hatte sich entschieden: Er würde es mit den Blasenminen probieren.
Im Bruchteil einer Sekunde hatten sich die Luken am Habitatrumpf seines Dreizackshuttles geöffnet. Im nächsten Sekundenbruchteil schleuderten die Minenwerfer mit lautem Getöse ein halbes Dutzend melonengroßer Geschosse nach allen Richtungen.
Danach trat Stille ein.
Eine volle Sekunde verging, dann detonierten die Geschosse in genau festgelegter Reihenfolge. Es gab keine grellweißen Blitze. Dies waren weder Fusionsbomben noch Antimateriesprengköpfe. Auch der Ausdruck Bombe war nur im weitesten Sinne zutreffend. Wo eine Detonation stattgefunden hatte, war plötzlich eine Kugel mit zwanzig Kilometern Durchmesser entstanden wie ein rasch aufgeblasener Sperrballon. Die Kugeln waren schwärzlich violett und runzelig wie vertrocknete Früchte. Immer wieder flackerten Muster in Ekel erregenden Farben darüber hin. Wo sich zwei Kugeln durchdrangen – weil die Geschosse bei der Detonation weniger als zwanzig Kilometer voneinander entfernt gewesen waren –, entstanden an den Schnittlinien kitschig violette und pastellblaue Lichteffekte.
Der Mechanismus im Innern einer Blasenmine war ebenso kompliziert und unergründlich wie die Teile im Innern des hypometrischen Geschützes. Es gab sogar seltsame Übereinstimmungen zwischen den beiden Technologien – einzelne Elemente wiesen eine entfernte Ähnlichkeit auf und legten die Vermutung nahe, dass sie entweder von der gleichen Spezies entwickelt oder in der gleichen Epoche der galaktischen Geschichte entstanden sein könnten.
Remontoire hielt die Blasenminen für einen ersten Schritt in Richtung auf die Manipulation der Metrik, eine Technologie der Schleierweber. Während die Schleierweber gelernt hatten, Räume von Sternengröße mit einer Hülle aus umstrukturierter Raumzeit (mit eigenen unheimlichen Verteidigungseinrichtungen) zu umgeben, erzeugten die Blasenminen nur instabile Kugeln von nicht mehr als zwanzig Kilometern Durchmesser. Die Kugeln zerfielen binnen weniger Sekunden wieder zu normaler Raumzeit und verschwanden in einem Schauer exotischer Quanten. Wo sie gewesen waren, zeigten die Eigenschaften der Metrik winzige Hinweise auf frühere Spannungen. Die Hüllen konnten nicht, jedenfalls nicht mit der Technologie, die sie von Aura bekommen hatten, größer oder dauerhafter gemacht werden.
Die Kugeln zerfielen bereits wieder und verschwanden in willkürlicher Reihenfolge.
Remontoire betrachtete den angerichteten Schaden. Wo die Geschosse detoniert waren, hatten sie die Unterdrückermaschinen in ihrem Einflussbereich gnadenlos zerrissen. In den Würfelklumpen klafften mathematisch glatte, gekrümmte Wunden. Durch die Trümmer zuckten flackernde Blitze wie Äußerungen von Schmerz und Wut.
Schlag zu, solange sie am Boden liegen, dachte Remontoire und erteilte den mentalen Befehl, eine letzte tödliche Salve von Blasenminen in die Maschinen zu schleudern.
Diesmal geschah nichts. Eine Flut von Fehlermeldungen brach über sein Gehirn herein: Die Abschussvorrichtung war beim Angriff der Synthetiker beschädigt worden und hatte nun endgültig versagt. Er hatte Glück gehabt, dass sie wenigstens einmal funktioniert hatte.
Zum ersten Mal gefror Remontoire vor Angst für einen kurzen Moment das Blut in den Adern. Damit waren seine Alternativen drastisch eingeschränkt. Er hatte keine Rumpfpanzerung: Auch das war eine Alien-Technologie, die sie aus Auras Botschaften rekonstruiert hatten, die aber wie die Trägheitsunterdrückung in der Nähe des hypometrischen Geschützes nicht sehr gut funktionierte. Die Rumpfpanzerung kam von den Maden; die H-Waffe und die Blasenminen entstammten einer anderen Zivilisation. Leider gab es deshalb Kompatibilitätsprobleme. Nun hatte er nur noch das hypometrische Geschütz und die konventionelle Artillerie, aber für einen Angriff gab es immer noch kein festes Ziel.
Der Rumpf erbebte, als die konventionellen Raumminen abgesetzt wurden. Fusionszündungen rasten über den Himmel. Der elektromagnetische Rückstoß wütete in seinen Implantaten und ließ abstrakte Formen durch sein Blickfeld rasen.
Die Unterdrückermaschinen waren immer noch da. Er feuerte zwei Stinger-Raketen ab. Sie rasten mit hundert Ge auf Abfangkurs davon, aber nichts geschah: Sie waren nicht einmal richtig explodiert. Strahlenwaffen hatte er nicht. Er hatte sein Pulver verschossen.
Nun überkam ihn eine tiefe Ruhe. Seine Erfahrung sagte ihm, dass mit dem Einsatz des hypometrischen Geschützes nichts mehr zu erreichen wäre. Er würde den Maschinen nur noch einmal Gelegenheit bieten, es in Funktion zu studieren. Bislang hatten die Wölfe noch keine dieser Waffen erbeutet, und dazu durfte es auch heute nicht kommen.
Er bereitete den Selbstzerstörungsbefehl vor. Im Geiste sah er den Kranz von Fusionsminen in der Gondel der Alien-Waffe. Wenn sie explodierten, würde der Lichtblitz kaum weniger spektakulär sein als das Feuerwerk einen Augenblick später, wenn sein Synthetikertriebwerk ihrem Beispiel folgte. Wobei es wahrscheinlich keine Zuschauer mehr geben würde, die das Schauspiel zu schätzen gewusst hätten.
Remontoire stellte sein Bewusstsein so um, dass er keine Todesangst empfand. Abgesehen von einer leichten Verärgerung, weil er nun nicht mehr mit ansehen durfte, wie sich die Ereignisse entwickelten, erwartete er sein bevorstehendes Ableben mit der gelangweilten Resignation eines Menschen, der gleich niesen muss. Synthetiker zu sein, hatte auch seine Vorteile.
Gerade als er den Befehl absetzen wollte, geschah es. Die letzten Maschinen wichen überraschend schnell zurück und gaben sein Shuttle frei. Jenseits davon erspürten seine Sensoren Schüsse, große in Bewegung befindliche Massen – und Detonationen von Blasenminen mit etwas anderen Signaturen als den seinen. Explosionen von Antimaterie- und Fusionssprengköpfen folgten, dann rasten die Abgasfahnen von Raketen vorüber, und zum Abschluss gab es einen einzigen mächtigen Schlag, der wohl von einem Krustenbrecher stammte.
Normalerweise hätte auch ein so massiver Angriff wenig Wirkung gezeigt, aber er hatte die Unterdrückermaschinen bereits mit seinen eigenen Attacken geschwächt. Der Massensensor holte die Signatur eines einzigen kleinen Schiffs heraus. Sie passte zu einer Synthetikerkorvette der Moray-Klasse.
Es musste das Schiff sein, das er verschont hatte. Skades Verbündete hatten kehrtgemacht oder waren ihm schon die ganze Zeit gefolgt. Jetzt bemühten sie sich, die Unterdrückermaschinen von ihm abzulenken. Das war Selbstmord, daran bestand nicht der geringste Zweifel: Die Besatzung hatte keine Aussicht, zu ihren Kampfgenossen zurückzukehren. Und obwohl sie ihn zuvor angegriffen hatten, obwohl er sich geweigert hatte, ihnen das hypometrische Geschütz auszuliefern, hatte sie beschlossen, ihm zu helfen. Typisch Synthetiker, dachte Remontoire: Sie würden niemals zögern, in letzter Minute die Taktik zu ändern, wenn sie den Eindruck hätten, damit auf lange Sicht den Interessen des Mutternests zu dienen. Frustration oder Scham waren Fremdworte für sie.
Sie hatten zunächst versucht, mit ihm zu verhandeln, und als sie gescheitert waren, hatten sie versucht, sich mit Gewalt zu holen, was sie haben wollten. Auch das hatte nicht funktioniert, und um das noch deutlicher zu machen, hatte er ihnen mit großer Geste das Leben geschenkt. Sollte dies ein Zeichen ihrer Dankbarkeit sein? Vielleicht, dachte er, aber wahrscheinlich ging es eher um die Zuschauer, um seine eigenen Verbündeten und die anderen Synthetiker, als um ihn selbst: Die anderen sollten sehen, mit welcher Tapferkeit man sich hier opferte. Sie sollten sehen, wie reiner Tisch gemacht wurde. Achtundzwanzigtausendundein Versuche, zu einer Einigung zu kommen, waren gescheitert, aber vielleicht konnte diese Geste das Blatt wenden.
Remontoire wusste es nicht: noch nicht. Er hatte jetzt andere Dinge im Kopf.
Sein Shuttle zog sich aus dem Getümmel von Wolfs- und Synthetikertruppen zurück. Hinter ihm wurde mit nackter Energie und roher Gewalt die Materie brutal in ihre Grundbausteine zerlegt. Ein Blitz von absurder Helligkeit erleuchtete den Himmel. Das Licht war so stark, dass er sicher war, ein Splitter davon sei durch den schwarzen Rumpf seines Schiffes bis zu ihm gedrungen.
Er wandte sich dem zweiten Klumpen zu, der dem Planeten inzwischen ganz nahe gekommen war. Bei stärkster Vergrößerung konnte er die schwarze Masse ein paar Stunden jenseits des Terminators über einem bestimmten Punkt auf der Tagseite des Planeten hocken sehen. Und sie war nicht untätig.