Prolog

 

 

Sie steht allein am Ende der Mole und schaut zum Himmel auf. Der Brettersteg, der sie mit dem Strand verbindet, schimmert silbrig blau im Mondlicht. Das Wasser ist schwarz wie Tinte und schlägt leise gegen die Stützen. Westlich der Bucht flimmern weit draußen am Horizont grünliche Flecken, als läge eine ganze hell erleuchtete Galeerenflotte auf dem Meeresgrund.

Bekleidet ist sie, wenn man es so nennen kann, mit einer weißen Wolke aus künstlichen Schmetterlingen. Nun befiehlt sie ihnen, näher zu kommen. Sie legen die Flügel übereinander und bilden so etwas wie eine Rüstung. Nicht dass ihr kalt wäre – der Abendwind ist warm und gesättigt mit dem exotischen Duft ferner Inseln –, aber sie fühlt sich verwundbar, so als ruhe das Auge einer Macht auf ihr, die weit älter und stärker ist als sie. Wäre sie einen Monat früher gekommen, als noch zehntausende den Planeten bevölkerten, das Meer hätte ihr sicher nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Doch abgesehen von ein paar unverbesserlichen Schlafmützen und einigen wenigen Neuankömmlingen wie ihr selbst sind alle Inseln jetzt leer. Sie ist neu hier – genauer gesagt, sie war lange Zeit fort –, und nun weckt ihr chemisches Signal das Meer. Die Flecken vor der Bucht sind erst nach ihrer Landung aufgetaucht. Das ist kein Zufall.

Das Meer hat sie wiedererkannt, auch nach so vielen Jahren.

»Wir sollten jetzt gehen«, ruft ihr Beschützer von dem schwarzen Landkeil herüber, wo er, auf seinen Stock gestützt, ungeduldig auf sie wartet. »Du bist hier nicht sicher, seit sie den Ring nicht mehr zusammenhalten.«

Ach ja, der Ring: Sie kann ihn sehen, er durchschneidet den Himmel wie eine plump übertriebene Darstellung der Milchstraße. Die zahllosen Steinsplitter blitzen und funkeln, wo das Licht der näheren Sonne auf sie fällt. Als sie eintraf, wurde der Ring noch von den Planetenbehörden überwacht: Alle paar Minuten blitzte der rosarote Leuchtschweif einer Steuerrakete auf, weil eine der Drohnen ein Stück Schutt beschleunigte, bevor es die Planetenatmosphäre streifen und ins Meer stürzen konnte. Sie hatte mitbekommen, dass die Einheimischen sich etwas wünschten, wenn sie diese Blitze sahen. Sie waren nicht abergläubischer als andere Planetenbewohner, aber sie wussten eben, wie gefährdet ihre Welt war – und dass sie ohne die Blitze keine Zukunft hatte. Es hätte die Behörden nichts gekostet, den Ring auch weiterhin überwachen zu lassen: Die selbstreparierenden Drohnen hatten ihre Pflicht in den letzten vierhundert Jahren seit der Neubesiedlung tadellos erfüllt. Sie abzuschalten, war eine rein symbolische Geste gewesen, die den Zweck hatte, die Evakuierung voranzutreiben.

Durch den Schleier des Rings sieht sie den zweiten, ferneren Mond: den Mond, der nicht zerstört wurde. Von den Menschen hier ahnte kaum jemand, was damals geschehen war. Sie wusste es. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen, wenn auch aus sicherer Entfernung.

»Wenn wir noch lange bleiben…«, mahnt ihr Beschützer.

Sie dreht sich um und schaut zum Land zurück. »Nur eine kleine Weile noch. Dann können wir gehen.«

»Ich fürchte, dass jemand das Schiff stehlen könnte. Und ich mache mir Sorgen wegen der Nestbauer.«

Sie nickt, denn sie versteht seine Ängste, aber sie wird sich nicht abhalten lassen, das zu tun, wozu sie hergekommen ist.

»Dem Schiff wird nichts geschehen. Und von den Nestbauern haben wir nichts zu befürchten.«

»Sie scheinen sich aber sehr für uns zu interessieren.«

Sie streift einen künstlichen Schmetterling ab, der sich auf ihre Stirn verirrt hat. »Das war schon immer so. Sie sind einfach neugierig.«

»Eine Stunde«, sagt er. »Dann lasse ich dich allein zurück.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Du kannst es ja darauf ankommen lassen.«

Sie lächelt. Er wird sie nicht im Stich lassen, das weiß sie genau. Aber seine Nervosität ist berechtigt: Beim Anflug auf den Planeten mussten sie ständig gegen den Strom der unzähligen Flüchtlingsschiffe anschwimmen, die nach außen drängten. Als sie in den Orbit gingen, waren die Transitfahrstühle bereits gesperrt: Die Behörden gestatteten niemandem mehr, auf diesem Weg zur Oberfläche zu gelangen. Nur mit Heimtücke und Bestechung war es ihnen gelungen, Plätze in einer Gondel zu bekommen. Sie hatten das ganze Abteil für sich allein gehabt, aber ihr Begleiter hatte behauptet, alles sei vom Geruch der Panik durchdrungen; die chemischen Signale der Menschen hätten das Mobiliar imprägniert. Sie war froh gewesen, keine so feine Nase zu haben. Sie ist ohnedies schon verängstigt genug: mehr, als sie ihm zeigen will. Und als die Nestbauer sie bis in dieses System verfolgten, war die Angst noch größer geworden. Das halb durchsichtige Schiff mit dem kunstvoll geriffelten, von Kammern durchzogenen Spiralrumpf ist eines der letzten Raumschiffe im Orbit. Sind die Nestbauer hinter ihr her, oder sind sie nur als Zuschauer gekommen?

Sie wendet sich wieder dem Meer zu. Vielleicht bildet sie es sich nur ein, aber die leuchtenden Flecken scheinen ihr zahlreicher und größer geworden zu sein; nun erinnern sie nicht mehr an eine Galeerenflotte, sondern eher an eine versunkene Stadt. Und sie kriechen auf die Spitze der Mole zu. Der Ozean wittert ihre Gegenwart: Winzige Organismen schweben über dem Wasser, dringen in die Haut ein, wandern mit dem Blut in ihr Gehirn.

Wie viel das Meer wohl wissen mag? Es muss die Evakuierung gespürt haben, die ihm so viele menschliche Bewusstseine entzogen hat. Sicherlich vermisst es das Kommen und Gehen der Schwimmer und die neuronalen Informationen, die sie mitbrachten. Vielleicht hat es sogar mitbekommen, dass die Überwachung des Rings eingestellt wurde: Zwei oder drei kleine Fragmente des früheren Mondes sind bereits ins Wasser gestürzt, allerdings nicht in der näheren Umgebung dieser Inseln. Doch inwieweit mag dem Ozean bekannt sein, was geschehen wird?

Sie gibt den Schmetterlingen einen neuen Befehl. Ein Teil des Schwarms löst sich von ihrem Ärmel, die Tiere legen die Flügel aneinander und bilden vor ihrem Gesicht eine taschentuchgroße Fläche mit gezacktem Rand. Die Flügel an den Kanten flattern weiter. Das Tuch wechselt die Farbe und wird durchsichtig, nur der Rand bleibt violett. Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut durch den Schuttring hinauf in den Abendhimmel. Die Schmetterlinge blenden, ein Rechentrick, den Ring und den Mond aus. Der Himmel verdunkelt sich ganz allmählich, die Schwärze vertieft sich, die Sterne treten heller hervor. Sie überlegt nur kurz, dann wählt sie einen Stern aus und betrachtet ihn genauer.

Der Stern ist nicht weiter bemerkenswert, abgesehen davon, dass er nur ein paar Lichtjahre entfernt und damit von diesem System aus gesehen der nächste ist. Aber er ist zum Meilenstein geworden, zur vordersten Welle einer Flut, die nicht mehr aufzuhalten ist. Sie war dabei, als jenes System vor dreißig Jahren evakuiert wurde.

Die Schmetterlinge vollführen einen weiteren Rechentrick. Sie konzentrieren sich auf diesen einen Stern und holen ihn näher heran. Er wird heller und zeigt schließlich Farbe. Jetzt ist er nicht mehr weiß, nicht einmal bläulich weiß, sondern hat einen unübersehbaren grünen Schimmer.

Ein unnatürliches Grün.

Offenbarung
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