Hela

2727

 

 

In der großen Halle der Morwenna nahm Grelier auf einem der vielen Stühle Platz, die vor dem schwarzen Fester aufgestellt waren. In der Halle war es dämmrig, vor allen Buntglasfenstern hatte man die Außenjalousien aus Metall herabgelassen. Einige elektrische Lampen erleuchteten den Zuschauern den Weg zu ihren Plätzen, doch sonst waren die flackernden Kerzen, die in großer Zahl in Wandhaltern steckten, die einzige Lichtquelle. Sie ließen die Szene so streng und feierlich wirken wie ein altes Gemälde und verliehen allen Gesichtern – vom höchsten Würdenträger des Glockenturms bis zum einfachsten Maschinenraumtechniker – einen Hauch von Aristokratie. Von dem schwarzen Fenster selbst war natürlich nichts zu sehen, man konnte es in seinem gemauerten Bogen nur erahnen.

Grelier warf einen Blick über die Versammelten. Bis auf eine Notmannschaft, die sich um die lebenswichtigen Funktionen kümmerte, war offenbar die gesamte Bevölkerung der Kathedrale gekommen. Von den fünftausend Menschen kannte er viele, die das nie erwartet hätten, mit Namen, die anderen waren ihm mit Ausnahme von ein paar hundert Gesichtern wenigstens vom Sehen bekannt. Er fand die vielen Menschen, besonders die Vorstellung, dass sie alle durch Blutsbande miteinander verbunden waren, ungeheuer erregend. Er glaubte die Bande fast zu sehen, dichte Netze, Fahnen und Tücher, scharlachrot und kastanienbraun, ein detailreicher Bildteppich, über den man nur staunen konnte.

Das Stichwort Blut brachte ihn auf Harbin Els. Grelier hatte Quaiche nicht belogen. Der junge Mann war tot, bei Räumungsarbeiten ums Leben gekommen. Nach jenem ersten Vorstellungsgespräch auf der Karawane hatten sich ihre Wege nie wieder gekreuzt, obwohl Grelier wach gewesen war, als Harbin auf der Morwenna Dienst tat. Harbin war tatsächlich durch die Maschinerie des Blutzoll-Offiziums gegangen, war aber von Greliers Assistenten und nicht vom Generalmedikus persönlich betreut worden. Doch man hatte seine Probe wie alles von der Kathedrale gesammelte Blut katalogisiert und in der Blutbank der Morwenna gelagert. Nachdem das Mädchen nun abermals in Greliers Leben getreten war, hatte er diese Probe für alle Fälle aus der Blutbank kommenlassen und sie einer eingehenden Analyse unterzogen.

Es war ein Schuss ins Blaue, aber die Mühe könnte sich lohnen. Grelier stellte sich seit Längerem die Frage, ob die Fähigkeit des Mädchens erlernt oder angeboren war. Und wenn sie angeboren war, ob es in ihrer DNA irgendeinen Auslöser dafür gab. Er wusste, dass unter tausend Menschen nur einer überhaupt imstande war, Mikroausdrücke zu erkennen und zu deuten. Und kaum jemand beherrschte das in solchem Maß wie Rachmika Els. Natürlich war dergleichen auch erlernbar, aber Menschen wie Rachmika brauchten keine Ausbildung: Sie erkannten die Anzeichen mit traumwandlerischer Sicherheit. Ihre Beobachtungsgabe war mit dem absoluten Gehör zu vergleichen. Seltsam fanden sie nur, dass nicht auch alle anderen so reagierten. Doch deshalb musste es sich noch nicht um eine rätselhafte, übernatürliche Eigenschaft handeln. Aus gesellschaftlicher Sicht war die Fähigkeit eine schwere Belastung. Wer damit geschlagen war, musste darauf verzichten, sich mit einer Lüge trösten zu lassen. War der Betreffende hässlich und jemand sagte ihm, er wäre schön, dann war der Kontrast zwischen Absicht und Wirkung umso verletzender, weil er so offensichtlich war, dass er als hochgradig zynisch empfunden wurde.

Grelier hatte das Archiv der Kathedrale durchsucht und jahrhundertealte medizinische Literatur gewälzt, um irgendeine genetische Prädisposition zu finden, die auf den Zustand des Mädchens passte. Aber die Unterlagen waren frustrierend unvollständig. Es gab reichlich Material zum Thema Klonen und Lebensverlängerung, aber kaum etwas über genetische Markierungen bei Menschen, die hyperempfindlich für Mikroveränderungen der Mimik waren.

Dennoch hatte er sich die Mühe gemacht, Harbins Blutprobe zu analysieren und insbesondere in den Genen, die mit den Wahrnehmungszentren des Gehirns assoziiert wurden, nach Auffälligkeiten oder Anomalien zu suchen. Bei Harbin war die Gabe sicher bei weitem nicht so stark gewesen wie bei seiner Schwester, doch auch das wäre ein Hinweis. Wenn es in den Genen keine signifikanten Unterschiede abseits der normalen Variationen zwischen nichtidentischen Geschwistern gab, dann hatte es doch eher den Anschein, als wäre Rachmikas Gabe erworben und nicht ererbt. Ein Zufall in der Entwicklung vielleicht, ein Umstand in der frühkindlichen Umgebung, der sich förderlich ausgewirkt hatte. Tauchte andererseits doch eine Abweichung auf, dann konnte man die ungleichen Gene vielleicht spezifischen Hirnfunktionsbereichen zuordnen. In der Literatur wurde vermutet, dass Menschen, die durch einen Hirnschaden nicht mehr fähig waren, Sprache zu verarbeiten, mit dieser Fähigkeit das Defizit kompensierten. Wenn dem so wäre und die zugehörigen Hirnregionen zu identifizieren wären, dann ließe sich der Zustand womöglich sogar chirurgisch herbeiführen. An diesem Punkt ging die Fantasie mit Grelier durch: Er malte sich neuronale Blockaden aus, die er Quaiche einsetzen könnte, kleine Ventile und Dämme, die per Fernsteuerung zu öffnen oder zu schließen wären. Wenn es gelänge, die entsprechenden Hirnregionen zu isolieren – sie je nach Funktion zu aktivieren oder zu dämpfen –, wäre es sogar denkbar, die Fähigkeit an oder abzuschalten. Eine faszinierende Vorstellung. Man stelle sich vor, ein Unterhändler könnte wählen, ob er die Lügen seiner Verhandlungspartner durchschauen wollte.

Doch zunächst hatte er nur eine Probe des Bruders. Die Tests hatten keine größeren Anomalien zutage gefördert, nichts, was ihn auf die Probe aufmerksam gemacht hätte, wäre er nicht schon vorher an der Familie interessiert gewesen. Das könnte die Hypothese stützen, dass die Fähigkeit erworben war. Doch um Gewissheit zu haben, brauchte er auch Blut von Rachmika Els.

Der Quästor hatte sich als sehr nützlich erwiesen. Wenn man ihn richtig anpackte, ließe sich über ihn sicherlich auch eine Blutprobe von Rachmika beschaffen. Aber warum einen Prozess stören, der gerade so reibungslos angelaufen war? Der Brief hatte genau den gewünschten Effekt erzielt. Sie hatte ihn als Fälschung erkannt, einen Versuch, sie von der Fährte abzubringen. Sie hatte auch die plumpen Erklärungsversuche des Quästors für die Existenz dieses Briefes durchschaut. Und das Manöver hatte sie in ihrem Vorhaben nur noch weiter bestärkt.

Grelier lächelte in sich hinein. Nein, er konnte warten: Sie würde bald hier sein, und dann bekäme er auch sein Blut.

So viel, wie er brauchte.

Es war plötzlich still geworden. Grelier sah sich um. Quaiche steuerte seine fahrbare Kanzel in den Saal. Das hohe schwarze Gefährt rollte leise durch den Mittelgang. Ganz oben saß Quaiche in seinem fast senkrecht gestellten Krankenstuhl. Selbst hier verlor er Haldoras Licht nicht aus den Augen. Es wurde durch ein kompliziertes Arrangement aus. Gelenkröhren und Spiegeln vom Glockenturm herabgeleitet. Techniker in langen Gewändern folgten der Kanzel und justierten die Röhren mit langen Stangen. Im Halbdunkel des Saales verzichtete Quaiche auf seine Sonnenbrille. Das Folterinstrument, das seine Augen geöffnet hielt, war für jedermann sichtbar.

Für viele von den Anwesenden – ganz sicher für all jene, die erst in den letzten zwei bis drei Jahren auf die Morwenna gekommen waren, mochte dies das erste Mal sein, dass sie Quaiche persönlich zu Gesicht bekamen. Er verließ den Glockenturm in letzter Zeit kaum noch. Seit Jahrzehnten waren Gerüchte über seinen Tod im Umlauf, die sich durch diese seltenen Auftritte kaum in Schach halten ließen.

Vor der Versammlung angekommen, fuhr die Kanzel einen Bogen und blieb schließlich genau unter dem schwarzen Fenster so stehen, dass Quaiche dem Publikum das Gesicht zuwandte und das Fenster im Rücken hatte. Im Schein der Kerzen schien er ein fester Bestandteil der Kanzel zu sein, eine Statue vielleicht wie jene Heiligenfiguren in Druckanzügen, die in Halbrelieftechnik auf der unteren Hälfte der Konstruktion prangten.

»Mein Volk«, sagte er, »lasst uns frohlocken. Dies ist ein Tag der Wunder, ein Tag des Glücks im Unglück.« Seine Stimme klang rau und krächzend wie immer, wurde aber durch versteckte Mikrofone nicht nur verstärkt, sondern bekam auch mehr Fülle. Hoch oben untermalte die Orgel seine Ansprache mit dumpfem, kaum hörbarem Grollen.

»Seit zweiundzwanzig Tagen fahren wir nun schon dem Hindernis in der Gullveig-Schlucht entgegen. Wir haben unsere Geschwindigkeit verringert, wir haben zugelassen, dass Haldora uns überholte, aber angehalten haben wir nie. Wir hatten auf eine Räumung vor zwölf bis dreizehn Tagen gehofft. In diesem Fall wären wir nicht ins Hintertreffen geraten. Doch die Barriere erwies sich als hartnäckiger, als wir befürchtet hatten. Mit herkömmlichen Räumungsmethoden war sie nicht zu beseitigen. Schon bei der Besichtigung der Stelle kamen gute Männer ums Leben, und beim Anbringen der Sprengladungen waren weitere Opfer zu beklagen. Ich brauche kaum jemanden von den Anwesenden daran zu erinnern, wie schwierig die Aufgabe ist: Die Blockade muss beseitigt werden, aber der Weg darf dabei keinen größeren Schaden nehmen.« Er hielt inne. Das Kerzenlicht spiegelte sich in den Drahtbügeln des Lidspreizers und ließ sie golden aufleuchten. »Aber jetzt ist die gefährlichste Phase vorüber. Alle Ladungen sind an Ort und Stelle.«

Die Orgel wurde lauter, und der Chor erhob seine Stimme. Grelier umklammerte seinen Krückstock fester und kniff die Augen zusammen. Er wusste, was jetzt kam.

»Sehet das Gottesfeuer«, sang Quaiche.

Das schwarze Fenster flammte förmlich auf. Durch jede Facette, jedes Mosaiksteinchen schossen bunte Lichtstrahlen von solcher Kraft und Reinheit, dass Grelier sich unversehens in ein Kinderzimmer voller Farben und Fantasieformen versetzt fühlte. Künstlich erzeugte Glücksgefühle überfluteten sein Gehirn, er wollte sich dagegen wehren und spürte doch gleichzeitig, wie seine Willenskraft ins Wanken geriet.

Quaiche stand vor dem Fenster auf der Kanzel. Nur seine Silhouette zeichnete sich ab. Die dürren Arme hielt er hoch erhoben. Grelier kniff die Augen noch fester zusammen und versuchte, die Darstellung in dem schwarzen Fenster zu erkennen. Gerade als sich das Bild erschließen wollte, wurde die gesamte Kathedrale von der Druckwelle getroffen. Die Kerzen flackerten und erloschen, die Kronleuchter schwankten.

Das Fenster wurde wieder schwarz. Doch das Nachbild auf seiner Netzhaut blieb etwas länger erhalten. Es zeigte Quaiche selbst auf den Knien vor dem Ehernen Panzer. Das eiserne Ungetüm war entlang einer Schweißnaht aufgeklappt. Quaiche hatte beide Hände zur Schale geformt. Sie waren gefüllt mit einer zähen roten Masse, von der sich dickere und dünnere Fäden ins Innere des Ehernen Panzers zogen, so als hätte er hineingegriffen und das klebrige Zeug herausgeholt. Quaiche selbst schaute nach oben. Sein Blick war auf Haldoras gebänderte Kugel gerichtet.

Doch der Planet sah nicht so aus, wie Grelier ihn kannte.

Das Nachbild erlosch. Grelier fragte sich schon, ob er bis zum nächsten Eissturz warten müsste, um das Fenster noch einmal zu sehen, da folgte der ersten Detonation eine zweite und machte das Bild abermals sichtbar. In Haldoras Antlitz war ein geometrisches Muster eingearbeitet, das durch die atmosphärischen Bänder des Gasriesen hindurchstrahlte. Ein dreidimensionales Gitter aus silbernen Fäden, verwirrend kompliziert wie ein kaiserliches Wachssiegel. Und im Herzen dieses Gitters, inmitten eines Strahlenkranzes, stand ein einzelnes menschliches Auge.

Wieder wurde die Morwenna von einer Druckwelle erschüttert. Eine letzte Detonation folgte, dann war die Vorstellung vorüber. Das schwarze Fenster wurde wieder schwarz. Seine Facetten waren so dick und trüb, dass sie nur durch die nukleare Strahlkraft von Gottes eigenem Feuer zum Leuchten gebracht werden konnten.

Orgel und Chor verstummten.

»Jetzt kann der Weg geräumt werden«, sagte Quaiche. »Es wird nicht einfach sein, aber wir können mehrere Tage mit normaler Geschwindigkeit fahren. Vielleicht bedarf es noch weiterer Sprengladungen, aber die Hauptmasse ist nicht mehr da und behindert uns. Dafür danken wir Gott. Doch die Zeit, die wir verloren haben, lässt sich nicht so leicht aufholen.«

Wieder umfasste Grelier seinen Krückstock fester.

»Die anderen Kathedralen mögen versuchen, die Verspätung wettzumachen«, fuhr Quaiche fort. »Sie werden sich alle Mühe geben. Ja, die Jarnsaxa-Ebene liegt vor uns, und dort wird man sich ein Rennen liefern. Die Morwenna ist nicht die schnellste Kathedrale auf dem Weg, diesen billigen Triumph hat sie nie angestrebt. Aber was hat es für einen Sinn, verlorenen Boden auf der Ebene gut zu machen, wenn gleich dahinter die Teufelstreppe liegt? Normalerweise würden wir versuchen, Haldora bis zu diesem Punkt voranzueilen und einen Zeitvorsprung herauszufahren, bevor wir uns an den langsamen und schwierigen Abstieg über die Treppe machen. Diesen Luxus können wir uns diesmal nicht leisten. Wir haben in einer Phase, in der wir uns das am wenigsten erlauben können, wichtige Tage verloren.«

Quaiche wartete einen Augenblick, wohl wissend, dass ihm die entsetzte Versammlung atemlos lauschte. »Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte er endlich und beugte sich auf seiner Kanzel so weit vor, dass er aus dem Krankenstuhl zu kippen drohte. »Eine Lösung, die Mut und Glauben erfordert. Wir brauchen die Teufelstreppe gar nicht zu nehmen. Es gibt eine andere Route über die Ginnungagap-Spalte. Ihr wisst natürlich alle, wovon ich spreche.«

Grelier hörte durch die Panzerung, wie überall an der Kathedrale die Außenläden rasselnd hochgezogen wurden. Die gewöhnlichen Buntglasfenster wurden in strenger Reihenfolge wieder freigegeben und vom Licht durchflutet. Normalerweise wäre er gebührend beeindruckt gewesen, aber die Erinnerung an das schwarze Fenster war noch nicht erloschen, sein Nachbild geisterte immer noch durch sein Blickfeld. Wer einmal nukleares Feuer durch Schweißglas gesehen hatte, für den war alles andere so blass wie ein Aquarell.

»Gott gab uns eine Brücke«, sagte Quaiche. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir sie auch benutzen.«

 

Rachmika konnte es nicht lassen, wieder auf das Dach der Karawane zu steigen und von einem Wagen zum anderen zu wechseln, bis sie die schrägen Plattformen mit den Observatoren erreichte. Die identisch glatten, ordentlich aufgereihten Spiegelgesichter erschienen ihr diesmal seltsam abstrakt, wie die Böden übereinander gestapelter Flaschen in einem Keller oder die Facetten einer der Messstationen für Gammastrahlen draußen im Ödland. Sie wusste nicht, ob sie das mehr oder weniger tröstlich fand als die Erkenntnis, dass es sich um menschliche Individuen handelte – zumindest waren sie das gewesen, bis der Zwang, zu Haldora emporzustarren, auch den letzten hartnäckigen Rest einer Persönlichkeit aus ihrem Bewusstsein gelöscht hatte.

Die Karawane schlingerte gerade über ein Straßenstück, das erst vor kurzem von Eisstürzen befreit worden war. Hin und wieder – häufiger, wie ihr schien, als noch einen Tag zuvor – schwenkte sie aus, um eine Gruppe von Pilgern zu umfahren, die zu Fuß unterwegs waren. Die Pilger sahen aus dieser Höhe klein und dumm aus. Die Glücklicheren unter ihnen trugen Druckanzüge mit geschlossenem Kreislauf, die auch längere Reisen über die Oberfläche einer Welt gestatteten. Einige dieser Anzüge linderten sogar Beschwerden, heilten kleinere Wunden und betäubten arthritische Gelenke. Der Rest musste sich mit Modellen behelfen, die nicht dafür gedacht waren, ohne Fahrzeug mehr als ein paar Kilometer zurückzulegen. Diese Pilger trugen sperrige, selbst gemachte Rucksäcke auf dem Rücken und stapften schwerfällig dahin wie Bauern, die alle ihre Habe bei sich trugen. Einige hatten sich so groteske Apparate zusammengebastelt, dass sie ihre Habseligkeiten sowie die provisorischen Lebenserhaltungssysteme auf Skiern oder Raupenketten hinter sich herziehen mussten. Zu den Anzügen, Helmen, Rucksäcken und den Gefährten im Schlepptau kamen religiöse Symbole, die oft die Last noch beträchtlich vergrößerten. Da gab es goldene Statuen, Kreuze, Pagoden und Dämonen, Schlangen, Schwerter, Ritter in Rüstung, Drachen, Seeungeheuer, Heilige Laden und hundert andere Dinge, die Rachmika gar nicht erst zu identifizieren versuchte. Alles wurde mit Muskelkraft und ohne mechanische Unterstützung befördert. Selbst bei Helas mäßiger Schwerkraft gingen die Pilger tief gebeugt, und jeder ihrer rutschenden Schritte verriet ihre Erschöpfung.

Weit weg in einer Richtung, die sie für Süden hielt, zog etwas ihren Blick auf sich. Sie kniff die Augen zusammen, sah aber nur einen verblassenden Lichtschein, ein bläulich violettes Leuchten, das hinter der nächsten Hügelkette versank.

Gleich darauf blitzte es in der gleichen Richtung wieder auf, scharf und schnell wie ein Lidschlag, gefolgt von der gleichen rasch erlöschenden Aura.

Das Schauspiel wiederholte sich noch ein drittes Mal. Dann kam nichts mehr.

Sie konnte sich nicht so recht vorstellen, was diese Blitze erzeugt haben mochte, aber etwa in dieser Richtung müsste die Etappe des Ewigen Weges liegen, die derzeit von den Kathedralen befahren wurde. Vielleicht hatte sie eine der Räumungsaktionen beobachtet, von denen der Quästor gesprochen hatte.

Doch jetzt passierte etwas ganz in ihrer Nähe. Die Plattform mit den Observatoren kippte nach hinten. In einem Winkel von dreißig Grad hielt sie an, die Fesseln wurden gelöst, und alle Observatoren setzten sich mit einer einzigen unglaublich fließenden Bewegung auf. Das kam so plötzlich, dass Rachmika erschrak. Es war, als setzte sich ein Heer von Schlafwandlern auf Kommando in Marsch.

Etwas drängte sich an ihr vorbei – nicht mit Gewalt, aber auch nicht gerade behutsam. Ein zweites Etwas folgte.

Eine ganze Prozession vermummter Pilger zog an ihr vorüber. Sie sah sich um. Die lange Reihe strebte der Plattform zu. Sie kam aus einer Falltür im Karawanendach, die sie bisher nicht bemerkt hatte. Zugleich stiegen die Pilger, die bisher auf der Plattform gelegen hatten, Reihe für Reihe mit gleichgeschalteten Bewegungen von der schiefen Ebene. Auf dem Karawanendach bildete sich ebenfalls eine Prozession, die hinten um die Plattform herum marschierte und durch eine zweite Falltür verschwand. Die neue Observatorengruppe nahm ihre Position ein, bevor die Plattform noch vollends leer war: Alle legten sich flach auf den Rücken und schnallten sich an. Der Wechsel dauerte insgesamt nicht mehr als zwei Minuten und vollzog sich in einer so zwanghaften Präzision, dass man sich nicht vorstellen konnte, wie er schneller abzuwickeln sein sollte. Rachmika hatte das Gefühl, als wäre jede Sekunde dieses Schichtwechsels mit Blut erkauft. Immerhin entstand dadurch eine Lücke, in der Haldora unbeobachtet blieb. Doch dann begriff sie, dass das ja gar nicht stimmte. Auf keinem anderen Karawanendach war eine ähnliche Aktivität im Gange: Die übrigen Plattformen standen immer noch im richtigen Winkel für die Beobachtung. Die Schichten waren wohl so gestaffelt, dass immer einige Gruppen von Observatoren bereit waren, um Zeugen einer eventuellen Auslöschung zu werden.

Rachmika hatte bisher angenommen, dass die Observatoren ihre Plattformen niemals verließen. Doch nun marschierte eine ganze Gruppe treu und brav in den Wagen zurück. Sie überlegte. Lag es daran, dass zu viele Observatoren auf einen Platz warteten, oder mussten sie aus Gesundheitsgründen hin und wieder von ihrem Posten abgelöst werden?

Die Blitze in der Ferne waren sicher nur zufällig in diesem Moment zu sehen gewesen, aber sie hatten den Wachwechsel auf eine Weise betont, die Rachmika beunruhigte. Schon bei ihrem letzten Besuch hier oben hatte sie sich wie ein unerwünschter Zuschauer bei einer heiligen Zeremonie gefühlt. Nun kam sie sich vor, als hätte man sie auf frischer Tat bei einer Schändung des Heiligtums ertappt.

Inzwischen hatten auch die letzten der neuen Observatoren ihre Plätze eingenommen. Obwohl sie im Weg gestanden hatte, war anscheinend keine Verzögerung eingetreten. Die Plattform wurde wieder im gleichen Winkel schräg gestellt wie alle anderen, sodass die Beobachter Haldora direkt im Blick hatten.

Rachmika drehte sich um. Die letzten Angehörigen der vorherigen Schicht verschwanden im Wageninnern. Drei waren noch zu sehen, dann zwei, und schließlich stieg der letzte in das Loch. Die Falltür, aus der die neue Gruppe gekommen war, hatte sich geschlossen, doch die andere blieb offen.

Rachmika schaute zur Plattform zurück. Die Observatoren behandelten sie wie Luft, vielleicht hatten sie sie gar nicht bemerkt oder höchstens als kleineres Hindernis auf dem Weg zu ihren Pflichten wahrgenommen.

Sie strebte der offenen Falltür zu, ohne die Plattform ganz aus den Augen zu lassen. Doch die stand jetzt in einem Winkel, bei dem die Observatoren sie nicht einmal aus dem Augenwinkel sehen konnten, schon gar nicht mit Helm und Kapuze.

Sie hatte nicht die Absicht, durch die Falltür hinabzusteigen. Aber sie wollte doch wenigstens wissen, wohin sie führte. Einen kurzen Blick musste sie riskieren. Vielleicht sähe sie ja nur einen Schacht mit einer Leiter, die in irgendeiner Luftschleuse endete. Oder aber… eine weitere Möglichkeit fiel ihr nicht ein. Doch im Geiste sah sie lange Reihen von Observatoren, die an Maschinen angeschlossen waren, um für die nächste Schicht frisch gemacht zu werden.

Der Wagen schwankte heftig. Sie fasste nach einem Geländer und war darauf gefasst, dass die Falltür jeden Moment von innen zugezogen würde. Noch näher wagte sie sich nicht heran. Die Observatoren hatten sich bisher ganz friedlich verhalten, aber wie würden sie reagieren, wenn sie die Grenze zu ihrem Territorium überschritt? Sie wusste so gut wie nichts über diese Sekte. Vielleicht hielt sie eine Reihe von ausgefallenen Todesarten für all jene bereit, die ihre Geheimnisse verletzten. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Hatte Harbin womöglich genau das getan, was sie vorhatte? Sie war ihrem Bruder sehr ähnlich. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Harbin nur aus Langeweile auf der Karawane herumschlenderte, durch Zufall ebenfalls einen Wachwechsel miterlebte und, neugierig, wie er nun einmal war, nachsehen wollte, was sich da unten befand. Ein zweiter unerfreulicher Verdacht schloss sich an: Wenn Harbin nun einer der Observatoren wäre?

Sie schob sich weiter, bis sie die Kante der Falltür erreichte. Sie war noch immer nicht geschlossen. Von unten strömte warmes rotes Licht herauf.

Wieder hielt sie sich am Geländer fest, um nicht hinunterzufallen, sollte der Wagen noch einmal ausscheren. Dann spähte sie in den Schacht. Eine einfache Leiter führte nach unten, aber das Ende war von ihrem Standort aus nicht zu erkennen.

Rachmika ließ das Geländer los und beugte sich vor. Jetzt sah sie, dass die Leiter auf einem Gitter im Boden stand. Eine Luke oder eine Tür führte ins Wageninnere – vielleicht durch eine Luftschleuse, es sei denn, die Observatoren verbrächten ihr ganzes Leben im Vakuum.

Der Wagen machte einen Satz. Rachmika wurde nach vorn geschleudert. Sie schlug wild um sich, suchte nach dem Geländer. Ihre Finger griffen ins Leere. Sie kippte weiter. Vor ihr gähnte das Loch, der Schaft erschien mit einem Mal viel breiter und tiefer als zuvor. Rachmika schrie auf. Gleich würde sie hinabstürzen. Die Leiter befand sich auf der falschen Seite; sie würde sie nicht zu fassen bekommen.

Doch dann blieb ihr der Schrei in der Kehle stecken. Sie fühlte sich festgehalten und sanft zurückgezogen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie hatte nie verstanden, was mit dieser Wendung gemeint war, doch jetzt wusste sie es ganz genau.

Sie schaute zu ihrem Retter auf. Nur ihr eigenes verspiegeltes Visier starrte ihr entgegen, und darin viele weitere Spiegelbilder, die immer kleiner wurden und schließlich im nicht allzu weit entfernten Fluchtpunkt verschwanden. Hinter dem Spiegel und der Kapuze ahnte sie das Gesicht eines jungen Mannes. Das Licht ließ seine Wangenknochen scharf hervortreten. Er schüttelte langsam, aber unmissverständlich den Kopf.

Rachmika hatte kaum begriffen, wie ihr geschah, da war auch schon alles vorbei. Der Observator ging um den Schacht herum an die Seite mit der Leiter, schwang sich in das Loch und stieg hinab. Rachmika, die den Schock noch nicht überwunden hatte, trat etwas zu spät näher und sah gerade noch, wie der Observator mit einer Hebelvorrichtung die Falltür schloss. Die Klappe drehte sich um neunzig Grad und verschmolz mit dem Wagendach.

Rachmika war wieder allein.

Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie hatte sie nur so töricht, so verantwortungslos handeln können? Wie unvorsichtig, sich von einem der Pilger retten zu lassen. Wie unklug, einfach anzunehmen, man hätte ihre Anwesenheit nicht registriert. Viel zu spät brach die Erkenntnis über sie herein. Die Pilger hatten sie durchaus bemerkt, sie hatten nur keine Notiz von ihr genommen. Doch als sie etwas tat, was sich nicht mehr ignorieren ließ – genauer gesagt, als sie eine Dummheit machte –, hatte man sie schnell und entschlossen zurechtgewiesen wie ein ungezogenes Kind. Sie schämte sich, obwohl keine Verwarnung, kein Vorwurf laut geworden war. Rachmika war Zurechtweisungen nicht gewöhnt, die Erfahrung war neu und nicht sehr angenehm.

Plötzlich geriet sie völlig außer sich. Sie kniete sich auf die gepanzerte Falltür und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Der Observator sollte zurückkommen. Er sollte ihr erklären, warum er den Kopf geschüttelt hatte. Er sollte sich entschuldigen, weil er ihr das Gefühl gegeben hatte, es sei unrecht gewesen, das Ritual zu beobachten. Er sollte sie freisprechen und selbst die Schuld auf sich nehmen. Er sollte ihr die Absolution erteilen.

Wieder und wieder schlug sie gegen die Tür, aber nichts geschah. Die Karawane ratterte weiter. Die Observatoren auf ihren Plattformen beobachteten Haldora so unermüdlich wie eh und je. Rachmika fühlte sich gedemütigt und kam sich noch törichter vor als in dem Moment, als der Pilger sie gerettet hatte. Sie stand auf und ging über die Dächer zu ihrem Karawanenwagen zurück. Unter ihrem Helm weinte sie über ihre eigene Schwäche. Wie hatte sie nur jemals glauben können, sie hätte genügend Kraft und Mut, um ihre Mission zu Ende zu führen?

Offenbarung
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