Zweiunddreißig

Hela

2727

 

 

Die Karawane schob sich an den Weg heran und überholte eine Kathedrale nach der anderen. Die gewaltigen Maschinen ragten nun dicht vor Rachmika auf. Sie war zu überwältigt, um alles aufzunehmen, und so hatte sie nur den undeutlichen Eindruck von dunkelgrauen, zu Übergröße aufgeblähten Kolossen. Die Karawane schlängelte sich zwischen den Kathedralen hindurch, die selbst völlig still zu stehen schienen, so fest in der Landschaft verwurzelt wie die Gebäude, die sie auf der Jarnsaxa-Ebene gesehen hatte. Nur waren diese Gebäude hier wahre Wolkenkratzer, spitze Finger, die über Haldoras Antlitz scharrten. Und die Reglosigkeit war nur Illusion, erzeugt durch die Geschwindigkeit der Karawane. Sollten sie anhalten, dann würde die eine oder andere Kathedrale binnen weniger Minuten über sie hinwegrollen.

Es hieß, die Kathedralen hielten niemals an. Es hieß auch, sie wichen nur selten von der Bahn ab, es sei denn, ein Hindernis wäre zu groß, um von ihren Antriebsmechanismen gefahrlos zermalmt zu werden.

Der Ewige Weg war viel schmaler, als Rachmika erwartet hatte. Jetzt erinnerte sie sich an Quästor Jones’ Worte: Er sei nirgendwo mehr und meist sehr viel weniger als zweihundert Meter breit. Entfernungen waren ohne vertraute Landmarken nur sehr schwer abzuschätzen, aber auf diesem Abschnitt maß der Weg wohl nirgendwo mehr als einhundert Meter in der Breite. Von den größeren Kathedralen waren einige selbst schon fast so breit und beanspruchten wie mechanische Kröten die Fahrbahn von einer Seite zur anderen. Kleinere Kathedralen konnten zu zweit nebeneinander fahren, aber nur, wenn ihre Aufbauten zum Teil nach außen über den Rand hinausragten. Das war hier weiter kein Problem. Der Weg war nur ein glatterer Streifen auf der ansonsten flachen Ebene, auf der es keinerlei Hindernisse gab. Jede Kathedrale hätte die planierte Bahn verlassen können, um ihr Glück auf dem kaum holprigeren Gelände zu beiden Seiten zu versuchen. Aber solche Manöver waren an diesem Tag sicherlich nicht vorgesehen, es sah ganz danach aus, als stünde die Reihenfolge für die nächste Zeit fest. Das war normal: Die Drängeleien, Rempeleien und schmutzigen Tricks, von denen man im Ödland hörte, waren eher die Ausnahme, und Rachmika vermutete schon seit längerem, dass solche Geschichten einiges an Ausschmückungen erfahren hatten, bevor sie den Norden erreichten.

Vorerst würden die Flottillen also in mehr oder weniger fester Formation über den Weg kriechen. Wenn sie die Kathedralen als Stadtstaaten betrachtete, befänden sie sich eher in einer Phase des Handels und der Diplomatie als im Krieg. Sicher gab es Spionage und raffinierte Intrigen, und man schmiedete unentwegt Pläne für alle Eventualitäten. Doch im Moment waren die Beziehungen freundlich bis herzlich, wenn auch bestimmt von den strengen protokollarischen Formen, die unter historischen Rivalen üblich waren.

Rachmika war das gerade recht: Es würde ihr auch ohne Krisen und Komplikationen von außen schwer genug fallen, sich in den Wartungstrupp zu integrieren.

Sie hatte Anweisung erhalten, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und in einem Karawanenfahrzeug zu warten. Wie sich bald herausstellte, hatte das seine Gründe: Die Karawane spaltete sich nämlich in kleinere Einheiten auf. Rachmika sah, wie die Techniker des Quästors von einem Wagen zum anderen hüpften und Versorgungsleitungen und Kupplungen lösten, ohne sich von den Gefahren, denen sie dabei ausgesetzt waren beeindrucken zu lassen.

Einige Karawanenteile bestanden immer noch aus mehreren Wagen. Sie trennten sich nun, um sich den größeren Kathedralen oder Kathedralengruppen anzuschließen. Rachmika sah enttäuscht, dass der Wagen, dem man sie zugewiesen hatte, für sich blieb. Sie befand sich nicht allein darin – ein Dutzend Pilger und Wanderarbeiter warteten mit ihr –, aber jede Hoffnung, die Eiserne Katharina könnte eine der größeren Kathedralen sein, wurde rasch zunichte. Sie war nur ein kleines Fahrzeug.

Wie der Quästor gesagt hatte – jeder fing einmal klein an.

Der Wagen entfernte sich rasch von den großen Kathedralen und kämpfte sich mühsam über die Furchen und Schlaglöcher, die sie zurückgelassen hatten.

»Ihr da«, sagte Rachmika zu den anderen Reisenden und stellte sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor sie hin. »Welche von denen ist die Morwenna?«

Einer ihrer Begleiter wischte sich den Rotz von der Oberlippe. »Keine davon, Schätzchen.«

»Eine davon muss es sein«, sagte sie. »Das ist die Hauptgruppe. Das Zuckerstück muss hier sein.«

»Es ist die Hauptgruppe, aber niemand hat behauptet, dass die Mor dazugehört.«

»Das ist Haarspalterei.«

»Hört, hört«, sagte ein anderer. »Die kleine Kuh ist ja ganz schön eingebildet.«

»Na schön«, gab sie zurück. »Wenn die Morwenna nicht hier ist, wo ist sie dann?«

»Warum willst du das denn unbedingt wissen?«, fragte der Erste.

»Sie ist die älteste Kathedrale auf dem Weg«, sagte sie. »Ist es da nicht nur natürlich, dass man sie sehen will!«

»Wir suchen nur Arbeit, Schätzchen. Wo wir sie finden, ist uns egal. Das Dreckseis, das man wegschaufeln muss, ist immer das gleiche.«

»Ich möchte es trotzdem wissen«, sagte sie.

»Es ist keine von diesen Kathedralen«, ließ sich eine dritte Stimme vernehmen. Sie klang gelangweilt, aber nicht unverschämt. Ganz hinten lag ein Mann auf einer Liege. Er hielt in einer Hand eine Zigarette, mit der anderen kratzte und rieb er in den Tiefen seiner Hose herum. »Aber man kann sie sehen.«

»Wo?«

»Komm hierher, kleines Mädchen. Ich zeige sie dir«

Sie ging auf ihn zu.

»Nimm dich in Acht«, sagte eine andere Stimme. »Der fällt dich an wie die Krätze.«

Sie zögerte. Der Mann wedelte mit seiner Zigarette und zog auch die Hand aus der Hose. Sie endete in einer primitiven Metallklaue. Er steckte die Zigarette in die Klaue und winkte Rachmika mit der heilen Hand zu sich. »Schon gut. Ich stinke zwar, aber ich beiße nicht. Keine Angst, ich will dir nur die Mor zeigen.«

»Ich weiß«, sagte sie und drängte sich an den vielen Leibern vorbei.

Der Mann deutete hinter sich auf ein kleines, beschlagenes Fenster und wischte es mit dem Ärmel ab. »Wenn du hier durchschaust, kannst du gerade noch die Turmspitze sehen.«

Sie beugte sich vor, aber sie sah nur Landschaft. »Ich kann nicht…«

»Da.« Der Mann drehte ihr Kinn, bis sie genau in die richtige Richtung schaute. Er stank säuerlich. »Siehst du dort zwischen den Klippen etwas herausragen?«

»Und ob da etwas herausragt«, bemerkte jemand.

»Schnauze!«, zischte Rachmika. Offenbar hatte sie genau den richtigen Ton getroffen, denn niemand widersprach.

»Siehst du es jetzt?«, fragte der Mann.

»Ja. Aber wieso ist sie denn so weit draußen? Fährt sie überhaupt noch auf dem Ewigen Weg?«

»O doch«, sagte der Mann. »Nur nicht auf dem Teil, auf dem wir gewöhnlich fahren.«

»Weißt du das denn nicht?« fragte eine andere Stimme.

»Wenn ich es wüsste, bräuchte ich nicht zu fragen«, gab Rachmika gereizt zurück.

»Nicht weit von hier teilt sich der Weg«, erklärte der Mann so herablassend, als hätte er ein Kind vor sich. Rachmika kam zu dem Schluss, dass er ihr doch unsympathisch war. Er war zwar hilfsbereit, aber es kam auch darauf an, wie man jemandem half. Manchmal war es besser, eine Bitte abzulehnen, als sie widerwillig zu erfüllen. »Gabelt sich in zwei Äste«, fuhr er fort. »Der eine wird normalerweise befahren und führt hinunter zur Teufelstreppe.«

»Die kenne ich«, sagte sie. »Zickzackrampen, die in die Wand der Spalte gehauen wurden. Die Kathedralen fahren bis zum Grund der Spalte, überqueren sie und fahren auf der anderen Seite wieder hinauf.«

»Richtig. Und nun rate mal, wohin der andere Ast führt?«

»Über die Brücke, nehme ich an.«

»Kluges Kind.«

Sie wich vom Fenster zurück. »Wenn ein Ast des Weges von der Brücke hierher führt, warum haben wir dann nicht den genommen?«

»Weil das für eine Karawane nicht die schnellste Möglichkeit ist. Karawanen können Ecken abschneiden, Hänge hinaufkriechen und um enge Kurven fahren. Kathedralen können das nicht. Sie müssen jedes Hindernis, das sie nicht sprengen können, weiträumig umfahren. Jedenfalls wird der Ast zur Brücke kaum gewartet. Wenn wir ihn genommen hätten, hätten wir womöglich gar nicht erkannt, dass er zum Weg gehört.«

»Dann wird sich die Morwenna immer weiter von der Hauptgruppe der Kathedralen entfernen«, sagte Rachmika. »Bedeutet das nicht auch, dass Haldora nicht mehr genau über ihr steht?«

»Nicht genau, nein.« Er kratzte sich mit seiner Klaue die Wange, dass man die Stoppeln knistern hörte. »Aber auch die Teufelstreppe liegt nicht genau auf dem Äquator. Man musste graben, wo es eben ging, und nicht, wo man es gern getan hätte. Noch etwas: Wenn man die Teufelstreppe fährt, muss man mit überhängendem Eis rechnen. Das ist nicht gut für die Observatoren: versperrt ihnen den Blick auf den Planeten. Und auf der Treppe haben die Kathedralen die beste Gelegenheit, einen Vorsprung herauszufahren. Sollte es jedoch einer Kathedrale irgendwann gelingen, die Brücke zu überqueren, dann wäre sie den anderen so weit voraus, dass sie anhalten müsste, um sie aufholen zu lassen. Danach würde sie nie wieder überholt werden. Sie könnte sich nach Belieben verbreitern. Es wäre nicht nur eine große Ehre – diese Kathedrale würde den Weg beherrschen.«

»Aber keine Kathedrale hat jemals die Brücke überquert.« Sie erinnerte sich an das Trümmerfeld, das sie vom Karawanendach aus gesehen hatte. »Es wurde einmal versucht, ich weiß…«

»Niemand bestreitet, dass es Wahnsinn wäre, Schätzchen, aber so ist er nun einmal, der glubschäugige Dekan Quaiche. Sei froh, dass man dich auf die Käthe schickt. Angeblich verlassen selbst die Ratten inzwischen die Mor.«

»Der Dekan denkt wahrscheinlich, er hätte gute Chancen«, sagte sie.

»Oder er ist verrückt.« Der Mann grinste und ließ dabei schadhafte gelbe Zähne sehen. »Du kannst dir aussuchen, was dir lieber ist.«

»Wozu?«, sagte sie und fügte hinzu: »Warum nennst du ihn glubschäugig?«

Alle lachten. Einer hielt sich die Finger wie eine Brille vor die Augen.

»Das Kind hat noch viel zu lernen«, sagte jemand.

 

Die Eiserne Katharina war eine von den kleineren Kathedralen im Zug und fuhr allein im Abstand von mehreren Kilometern hinter der Hauptgruppe her. Andere lagen noch weiter zurück, aber von denen sah man kaum mehr als die Turmspitzen am Horizont. Sicherlich taten sie, was sie konnten, um die anderen einzuholen und dem gedachten wandernden Punkt auf dem Weg, der sich genau unter Haldora befand, möglichst nahe zu kommen. Es galt als schwere Schande, wenn eine Kathedrale so weit zurückfiel, dass selbst einem zufälligen Beobachter auffiel, dass Haldora nicht mehr ganz im Zenith stand. Noch unsäglich viel schlimmer war die Schmach, wenn eine Kathedrale den Planeten vollends aus den Augen verlor. Deshalb hatte die Tätigkeit der Räumtrupps einen so hohen Stellenwert. Ein verlorener Tag hier oder dort war kein Problem, aber viele solcher Verzögerungen konnten für eine Kathedrale katastrophale Folgen haben.

Als die Eiserne Katharina in Sicht kam, wurde der Wagen langsamer, fuhr einen weiten Bogen und setzte sich hinter sie. Dadurch konnte sich Rachmika zumindest eine Hälfte ihrer neuen Heimat gründlich betrachten. Die Kathedrale, der man sie zugewiesen hatte, konnte trotz ihrer geringen Größe durchaus als typisches Beispiel für den gängigen Stil betrachtet werden.

Die Bodenplatte war ein Rechteck von dreißig Metern Breite und etwa einhundert Metern Länge. Darüber erhob sich der Aufbau, darunter – von Metallblenden teilweise verdeckt – lagen die großen Motoren und Antriebssysteme. Diese Kathedrale schob sich mithilfe von vielen parallelen Raupenfahrwerken voran. Derzeit schwebte auf einer Seite eine ganze Antriebseinheit etwa zehn Meter über dem Eis. Techniker in Druckanzügen hingen unten an einer der stillgelegten Ketten und führten Reparaturen aus. Die bläulich violetten Schweißflammen bildeten einen hübschen Kontrast. Rachmika hatte sich nie überlegt, wie die Kathedralen solche Wartungsarbeiten erledigten. Nun war sie doch sehr beeindruckt von der blinden Skrupellosigkeit dieser Lösung – man reparierte Teile der Antriebsmaschinerie einfach im Fahren.

Wie sie erst jetzt bemerkte, wurde auch an der Kathedrale selbst überall gearbeitet. Große Teile der Aufbauten verschwanden hinter einem Gespinst von Baugerüsten. Wohin sie auch schaute, waren winzige Gestalten eifrig am Werk. Sie kamen in schwindelnder Höhe aus verschiedenen Öffnungen hervor und verschwanden wieder wie mechanische Figürchen.

Über der Bodenplatte entsprach die Kathedrale mehr oder weniger traditionellen architektonischen Vorstellungen. Von oben gesehen, war sie etwa kreuzförmig, ein Langschiff, von dem nach rechts und nach links zwei kürzere Querschiffe abgingen, mit einer kleineren Kapelle am oberen Ende des Kreuzes. Am Schnittpunkt von Lang- und Querschiff erhob sich ein quadratischer Turm, der nach hundert Metern – etwa so hoch wie die Kathedrale lang war – in einer vierseitigen, noch einmal fünfzig Meter hohen Spitze mit gezackten Kanten auslief.

Ganz oben thronte ein Gewirr von Satellitenschüsseln und Spiegeltelegrafen. Am Rand des Fundaments wuchsen etwa ein Dutzend Gittermasten empor, die sich nach innen neigten, bis sie das Dach des Langschiffs berührten. Ein paar dieser Strebepfeiler fehlten offensichtlich oder waren nicht vollständig. Die Kathedrale wirkte überhaupt in großen Teilen planlos zusammengewürfelt, die verschiedenen Teile wollten nicht so recht harmonieren. Ganze Abschnitte waren offenbar in höchster Eile oder mit sparsamsten Mitteln ersetzt worden – vielleicht auch beides. Die Turmspitze war nicht ganz senkrecht und musste von einer Seite mit einem Gerüst abgestützt werden.

Rachmika wusste nicht, ob sie traurig oder erleichtert sein sollte. Seit sie wusste, was Dekan Quaiche mit der Morwenna vorhatte, war sie froh, dass man sie nicht dorthin geschickt hatte. Sie konnte nach Herzenslust in Tagträumen schwelgen, aber sie hätte keine Chance, ihren Bruder zu retten, bevor die Morwenna die Brücke erreichte. Sie bräuchte schon viel Glück, um bis dahin überhaupt eine Hierarchieebene der Kathedrale zu infiltrieren.

Der Gedanke an Infiltration brachte in ihrem Innern eine Saite zum Schwingen. Es war ein sehr persönliches, intimes Gefühl, das an das Innerste ihres Wesens rührte. Wieso hatte das Wort plötzlich eine so starke, so unmittelbare Wirkung? Eigentlich war ihre Mission doch auf Infiltration angelegt, seit sie ihr Dorf verlassen hatte, um sich der Karawane anzuschließen. Der Plan, sich so lange durch die verschiedenen Schichten emporzuarbeiten, bis sie Harbin ausfindig machte, war nur ein späterer, gefährlicherer Aspekt eines Abenteuers, auf das sie sich im Geiste längst eingestellt hatte. Den ersten Schritt hatte sie schon vor vielen Wochen getan, als sie hörte, dass eine Karawane so nahe am Ödland vorbeiziehen würde.

Doch genau genommen hatte es noch früher begonnen.

Sehr viel früher.

Ein Schwindel erfasste Rachmika. In einem lichten Moment hatte sich eine Tür geöffnet und sofort wieder geschlossen. Sie selbst hatte sie zugeschlagen, wie um zu laute Geräusche, zu grelles Licht auszuschließen. Sie hatte einen Plan gesehen – eine Infiltrationsstrategie –, der anders war als jener, den sie zu kennen glaubte. Einen Plan, der ihr eigenes Vorhaben einschloss und noch weit darüber hinausging. Eine weit reichende, ungeheuer ehrgeizige Infiltrationsstrategie, neben der ihre lange Reise quer durch Hela nur ein einzelnes Kapitel in einer sehr viel längeren Geschichte war.

In dieser Geschichte war sie nicht nur die Puppe, sondern zugleich auch der Puppenspieler. Ein Gedanke flammte mit schmerzhafter Deutlichkeit auf: Du selbst hast das alles in Gang gesetzt.

Du wolltest, dass es so kommt.

Sie riss sich los von solchen Gedanken und zwang sich dazu, sich wieder mit den Kathedralen zu beschäftigen. Sie durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Ein Augenblick der Unachtsamkeit könnte alles verderben.

Ein Schatten fiel auf den Wagen. Er war nun unter der Eiserne Katharina und fuhr zwischen den mächtigen Schlepperketten dahin. Räder und Ketten bewegten sich langsam, aber unaufhaltsam. Ihre Fehler waren nicht mehr von Belang: Sie musste sich auf den Fahrer verlassen.

Sie ging auf die andere Seite der Kabine. Von der Bodenplatte der Kathedrale senkte eine Rampe herab. Die Ränder waren mit blinkenden roten Lichtern gekennzeichnet. Das untere Ende schrammte über den Boden und hinterließ eine glatte Spur. Das Karawanenfahrzeug schob sich auf die schiefe Ebene, die Räder drehten kurz durch, bevor sie Halt fanden, dann fuhr es hinauf. Rachmika hielt sich an einem Handgriff fest. Das Getriebe arbeitete auf Hochtouren und brachte die gesamte Metallkarosserie zum Vibrieren.

Es dauerte nicht lange, dann waren sie oben. Der Wagen stellte sich wieder gerade. Sie standen in einer großen halbdunklen Halle. Hier warteten bereits zwei weitere Fahrzeuge neben einer Vielzahl von offenbar uralten Gerätschaften, deren Funktion Rachmika fremd war. Dazwischen bewegten sich Gestalten in Druckanzügen. Drei davon versuchten, eine fahrbare Schleuse an der Seite des Wagens einrasten zu lassen und rätselten an den Schaltungen herum, als hätten sie so etwas noch nie gemacht.

Endlich ertönten mehrere dumpfe Schläge, es zischte durchdringend, und schließlich waren Stimmen zu hören. Ihre Reisegefährten sammelten ihre Habseligkeiten ein und strebten der Schleuse zu. Auch sie hob ihr Bündel auf und machte sich bereit. Eine Weile geschah gar nichts. Die Stimmen wurden lauter, das hörte sich nach einem Streit an. Da sie am Fenster stand, konnte sie beobachten, was draußen vorging. Im luftleeren Teil der Schleuse stand reglos eine Gestalt. Rachmika sah durch das Visier des Rokokohelms kurz ein Männergesicht: Es war ausdruckslos, aber es kam ihr irgendwie bekannt vor.

Wer immer der Mann sein mochte, er stützte sich mit einer Hand auf einen Krückstock und beobachtete aufmerksam das Geschehen.

Das Gezänk ging noch eine Weile weiter. Endlich trat Ruhe ein. Rachmikas Gefährten setzten sich ihre Helme auf und schlurften in die Luftschleuse. Eben hatten sie noch viel munterer gewirkt. Mit dem Erreichen der Eiserne Katharina war ihre Reise zu Ende, und ihren Blicken nach zu urteilen, entsprachen der halbdunkle, schmuddelige Raum mit seinen Schrottmaschinen und den gelangweilten Technikern nicht ganz dem, was sie sich erhofft hatten. Aber Rachmika rief sich die Worte des Quästors in Erinnerung: Der Dekan der Käthe sei ein anständiger Mann, der Arbeitskräfte und Pilger gut behandle. Wenn das stimmte, konnten sie sich alle glücklich preisen. Besser eine abgetakelte Kathedrale mit einem guten Mann an der Spitze, als ein Irrenhaus wie die Morwenna, das in sein Verderben fuhr. Dennoch musste sie irgendwie versuchen, auf die Mor zu kommen.

Als sie die Tür endlich erreicht hatte, legte ihr jemand die Hand auf die Brust und hielt sie zurück. Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein dicker Adventistenvertreter mit teigigen Gesichtszügen.

»Rachmika Els?«, fragte er.

»Ja.«

»Die Pläne wurden geändert« sagte er. »Sie fahren mit der Karawane weiter.«

 

So brachte man sie fort von der Eiserne Katharina und von der glatten Straße des Ewigen Weges. Abgesehen von dem Mann mit dem Krückstock war sie der einzige Fahrgast im Karawanenwagen. Der Mann im Druckanzug saß einfach da, ohne den Helm abzunehmen, und klopfte mit dem Krückstock gegen seinen Stiefelabsatz. Sein Gesicht konnte sie meist nicht sehen.

Der Wagen holperte minutenlang über Eisrillen, während die Hauptgruppe der Kathedralen langsam in der Ferne verschwand.

»Wir fahren zur Morwenna, nicht wahr?«, fragte Rachmika.

Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine. Der Mann fasste nur seinen Krückstock fester und neigte den Kopf, sodass das Licht schräg auf das Visier fiel und es zu einer undurchsichtigen Maske werden ließ. Als sie auf ebeneren Grund kamen und sich an die Seite der Kathedrale setzten, war Rachmika übel. Das kam nicht nur vom Schaukeln des Karawanenfahrzeugs, auch das Gefühl, in der Falle zu sitzen, trug seinen Teil dazu bei. Sie hatte zwar auf die Morwenna gewollt, aber sie hatte nicht gewollt, dass die Morwenna sie einfach so zu sich holte.

Der Wagen fuhr neben dem majestätisch dahingleitenden Kathedralengebirge her. Die Eiserne Katharina war auf Raupenketten über Hela gekrochen, doch die Morwenna marschierte im wahrsten Sinne des Wortes auf zwanzig riesigen trapezförmigen Füßen daher, zehn auf jeder Seite. Jede Reihe war zweihundert Meter lang. Darüber erhob sich die Masse des Hauptgebäudes. Sie war durch Strebepfeiler in Form von riesigen Teleskopsäulen mit den Füßen verbunden. Die Säulen waren keine Stützen im eigentlichen Sinn, sondern eher die zu den Füßen gehörigen Beine: eine komplexe, plumpe Mechanik mit Kolben an Stelle von Sehnen und Gelenken, die von dicken segmentierten Kabeln und Stromleitungen durchzogen waren. Bewegt wurden sie über Kurbelwellen, die waagerecht wie die Ruder einer Sklavengaleere in der Wand des Hauptgebäudes steckten. Ein Fuß um den anderen wurde drei bis vier Meter weit angehoben, ein kleines Stück nach vorne geschoben und wieder auf den Boden gesetzt. Auf diese Weise schob sich das ganze Gebäude mit einer Geschwindigkeit von einem Drittel Meter pro Sekunde gemessen voran.

Rachmika wusste, dass die Kathedrale sehr alt war. Sie hatte sich aus einem winzigen Samenkorn entwickelt, das bei der ersten Besiedlung Helas durch die Menschen gepflanzt worden war. Überall entdeckte das Mädchen Spuren von Beschädigungen und Reparaturen, Umbauten und Erweiterungen, fast wie bei einer Stadt, die man immer wieder mit ehrgeizigen öffentlichen Bauvorhaben und Verbesserungsprojekten traktiert hatte, wobei mit jedem neuen Plan der alte verworfen wurde. Zwischen den mechanischen Teilen, sozusagen in Koexistenz damit, wimmelte es nur so von unheimlichen Skulpturen: Teufelsfratzen und Greifen, Drachen und Dämonen, aus Stein gehauen oder aus Metall zusammengeschweißt. Einige der Ungeheuer waren sogar mit der Beinmechanik verbunden, sodass sie bei jedem Schritt der Kathedrale das Maul weit aufrissen und wieder zuklappten.

Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Fenstern empor. Die große Halle der Kathedrale reichte weit über den Punkt hinaus, wo die Teleskoppfeiler abknickten und in die Mauer einmündeten. Gewaltige Buntglasfenster waren auf Haldoras Antlitz gerichtet. Auf Vorsprüngen aus Stein und Metall hockten Greife und andere Wappentiere. Noch spektakulärer war der Glockenturm, ein spitz zulaufender, schwankender Eisenfinger, der sogar die Halle in den Schatten stellte. Rachmika hatte noch nie ein Gebäude gesehen, das so hoch in den Himmel ragte. An diesem Turm konnte man die ganze Geschichte der Kathedrale ablesen. Die Wachstumsschichten lagen offen zutage, sodass man genau verfolgen konnte, wie das riesige Bauwerk zu seiner jetzigen Größe herangereift war. Da gab es architektonische Torheiten und Projekte, die man wieder verworfen hatte. Ellbogenförmige Auswüchse endeten im Nichts. Mehrfach wurde der Turm schmäler, so als hätte er schon kurz vor der Vollendung gestanden und sich dann doch entschlossen, noch hundert Meter weiter zu wachsen. Und irgendwo ganz nahe der Spitze – von unten schwer zu erkennen – wölbte sich eine kleine Kuppel, deren erleuchtete Fenster zweifelsfrei signalisierten, dass dort jemand wohnte.

Der Wagen schwenkte näher an die Reihe der gemächlich stampfenden Füße heran. Ein metallisches Klirren war zu hören, dann wurde er hochgehievt und schwebte frei über dem Boden wie Crozets Eisjammer, als ihn die Karawane aufnahm.

Der Mann im Druckanzug löste mit einer zwanghaften Beharrlichkeit, als sei jede Bewegung an sich schon ein Akt der Buße, die Schnalle seines Helms.

Endlich konnte er den Helm abnehmen. Er fuhr sich mit behandschuhter Hand durch die weiße Mähne. Die Haare stellten sich auf. Sie waren oben auf dem Kopf zu einer mathematisch ebenen Fläche geschoren. Er sah Rachmika an. Sein langes Gesicht mit den flachen Zügen erinnerte sie an eine Bulldogge. Nun war sie ganz sicher, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, aber sie konnte ihn vorerst noch nicht einordnen.

»Willkommen auf der Morwenna, Miss Els«, sagte er.

»Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, warum ich hier bin.«

»Ich bin Generalmedikus Grelier«, stellte er sich vor. »Und sie sind hier, weil wir es so wollen.«

Sie wusste nicht, was er damit sagen wollte, aber sie sah, dass er die Wahrheit sprach.

»Kommen Sie mit mir«, fuhr der Mann fort. »Ich möchte Sie jemandem vorstellen. Danach können wir uns über Ihren Anstellungsvertrag unterhalten.«

»Anstellungsvertrag?«

»Sie suchen doch Arbeit?«

Sie nickte kleinlaut. »Ja.«

»Ich denke, wir hätten genau die richtige Beschäftigung für Sie.«

Offenbarung
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