Im interstellaren Raum
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Fünf Tage später legten einige Techniker Scorpio in den Kälteschlaftank und verkabelten ihn. Es war eine regelrechte Operation: ein Ritual mit Einschnitten, Kathetern und Tupfern mit Vereisungs- und Sterilisationsmittel.
»Du brauchst nicht zuzusehen«, sagte er zu Khouri, die mit Aura auf dem Arm am Fuße des Tanks stand.
»Ich möchte sicher sein, dass du gefahrlos einschläfst«, sagte sie.
»Du willst sicher sein, dass ich auch wirklich von der Bildfläche verschwinde.« Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, dass er unnötig grausam war.
»Wir brauchen dich, Scorp. Mag sein, dass wir nicht einer Meinung mit dir sind, was Hela angeht, aber deshalb bist du uns nicht weniger wertvoll.«
Das Kind sah fasziniert zu, wie die Techniker einen Plastik-Shunt in Scorpios Handgelenk einführten. Die Narbe des letzten Zugangs, den man ihm vor dreiundzwanzig Jahren entfernt hatte, war noch zu sehen.
»Tut weh«, sagte Aura.
»Ja«, sagte er. »Es tut weh, Kind. Aber es ist auszuhalten.«
Der Kälteschlaftank stand in einem eigenen Raum. Es war derselbe, in dem Scorpio vor vielen Jahren nach Ararat gekommen war. Jetzt wirkte er primitiv und veraltet: ein plumper schwarzer Kasten mit abgeschrägten Ecken, schwerfällig wie ein schmiedeeisernes Folterinstrument aus dem Mittelalter.
Aber er hatte bisher noch nie versagt und seine tief gefrorenen menschlichen Schützlinge auch während jahrelanger relativistische Flüge durch den interstellaren Raum zuverlässig am Leben erhalten. Er hatte keinen umgebracht, alle waren mit intakten geistigen Fähigkeiten ins Leben zurückgeholt worden. Der Tank enthielt nur das unverzichtbare Minimum an Nanotechnik. Weder die Schmelzseuche noch die Transformationen des Captains hatten ihm jemals etwas anhaben können. Jeder Standardmensch, der einige Zeit in diesem Tank verbringen sollte, konnte seiner Reanimation mit Ruhe und Gelassenheit entgegensehen. Verglichen mit den schnittigeren, moderneren Geräten waren die Übergänge in und aus dem Kälteschlaf langwierig und unangenehm. Mit körperlichen und geistigen Beschwerden war zu rechnen. Aber man konnte davon ausgehen, dass das Gerät so arbeiten würde wie vorgesehen und dass der Insasse am anderen Ende der Reise wieder aufwachen würde.
Leider galt das alles nicht für Hyperschweine. Die Tanks waren auf der Ebene der Zellchemie auf die Physiologie von Standardmenschen abgestimmt, und da gab es keine Kompromisse. Scorpio hatte schon mehrere Kälteschlafphasen hinter sich, und jedes Mal war das Risiko hoch gewesen. Er sagte sich zwar, die Wahrscheinlichkeit, in diesem Gerät zu sterben, wäre nicht größer als beim ersten Mal, aber das stimmte nicht ganz. Er war viel älter geworden. Sein eigener Körper war nicht mehr so stark wie beim letzten Mal, als er die Prozedur durchgemacht hatte. Niemand wollte mit harten Zahlen herausrücken und ihm sagen, ob die Chance, dass er nicht mehr lebend herauskäme, bei zehn, zwanzig oder gar dreißig Prozent lag, dabei war diese Weigerung allein schon beunruhigender als jede kalte Risikoeinschätzung. Immerhin hätte er dann abwägen können, was günstiger wäre – in den Tank zu steigen oder die ganze Reise über wach zu bleiben. Fünf oder sechs Jahre Schiffszeit und ein Alter von fünfundfünfzig oder sechsundfünfzig Jahren gegen eine dreißigprozentige Chance, gar nicht anzukommen? Die Entscheidung wäre nicht einfach gewesen – ein Hyperschwein konnte selbst unter normalen Umständen nicht damit rechnen, ein Alter von sechzig Jahren zu erreichen. Aber bei Kenntnis aller Fakten hätte er zumindest eine sachliche Grundlage gehabt. Jetzt trieb ihn nur der Wunsch in die Kiste, die Zeit zu überbrücken. Zum Teufel mit den Chancen; er wollte das Warten hinter sich haben, bevor er erfuhr, ob sich die Reise nach Hela gelohnt hatte.
Vorher musste er natürlich wissen, ob er einen schweren Fehler gemacht hatte, als er das Schiff überredete, zuerst nach Yellowstone zu fliegen.
Als der Staub aus seiner Hand auf den Tisch rieselte, war er nicht auf das H zugeronnen, sondern auf das Y. Die Bestätigung war schon wenige Minuten später erfolgt: Das Schiff hatte sich langsam gedreht und Kurs auf Epsilon Eridani genommen, anstatt den matten, unbekannten Stern 107 Piscium anzufliegen.
Sosehr er sich über die Entscheidung des Captains gefreut hatte, sie hatte ihm auch Angst gemacht. Der Captain hatte sich nicht der demokratischen Entscheidung des Ältestenrats angeschlossen, sondern dem Votum der Minderheit. Scorpio war es zufrieden gewesen, aber er hätte sicher nicht so empfunden, wenn sich der Captain auf die Seite der anderen geschlagen hätte. Zu wissen, dass er in John Brannigan einen Verbündeten hatte, war eine Sache. Sich als Gefangener des Schiffes zu fühlen, wäre weniger erfreulich.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Khouri. »Du kannst abbrechen und die Reise in wachem Zustand erleben.«
»Hast du das vor?«
»Ich will wenigstens so lange warten, bis Aura älter geworden ist«, sagte sie.
Das Kind lachte.
»Mir ist das Risiko zu hoch«, sagte Scorpio. »Wenn man mich nicht einfriert, überlebe ich womöglich die Reise nicht. Fünf oder sechs Jahre mögen für dich nicht viel sein, für mich sind sie ein großer Brocken meines Lebens.«
»Wenn die neue Technik funktioniert, dauert es vielleicht nicht so lange. Dann könnte sich die subjektive Zeit bis Yellowstone auf zwei Jahre reduzieren.«
»Immer noch zu viel für meinen Geschmack.«
»Machst du dir so große Sorgen? Du sagtest doch immer, du denkst nicht in die Zukunft?«
»Das ist richtig. Und jetzt weißt du auch, warum.«
Khouri trat näher an den schwarzen Kasten heran, ließ sich auf ein Knie nieder und zeigte ihm Aura. »Sie hält die Entscheidung für falsch«, sagte sie. »Ich spüre es. Sie ist überzeugt davon, dass wir sofort nach Hela fliegen sollten.«
»Irgendwann kommen wir schon dorthin«, sagte er. »So John will.« Er wandte sich dem Kind zu und schaute in die goldbraunen Augen. Die Kleine zuckte nicht vor ihm zurück, sondern hielt seinen Blick fest. Sie blinzelte kaum.
»Schatten«, gurgelte sie mit dieser Stimme, die immer so klang, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen. »Mit Schatten verhandeln.«
»Ich halte nichts von Verhandlungen«, sagte Scorpio. »Davon wird das Elend immer nur noch größer.«
»Vielleicht wird es Zeit, dass du deine Meinung änderst«, sagte Khouri.
Dann gingen die beiden und ließen ihn mit den Technikern allein. Er hatte sich über den Besuch gefreut, aber nun war er froh, in Ruhe seine Gedanken ordnen zu können, um sicherzustellen, dass er nichts Wichtiges vergaß. Eine Sache lag ihm besonders am Herzen. Er hatte bisher noch niemandem von seinem letzten Gespräch mit Remontoire erzählt, kurz bevor der Synthetiker von Bord gegangen war. Es war nicht aufgezeichnet worden, und Scorpio war nicht viel mehr als die Erinnerung an die Worte geblieben: Remontoire hatte keine Daten und keine schriftlichen Unterlagen hinterlassen, nur ein Stück durchsichtiges weißes Material, klein genug, um es in die Tasche zu stecken.
Im Rückblick fand Scorpio sein Schweigen eher bedenklich. War es richtig gewesen, Aura und ihrer Mutter Remontoires Zweifel zu verheimlichen? Der Synthetiker hatte die Entscheidung letztlich ihm überlassen: ein Zeichen dafür, wie sehr er Scorpio vertraute.
Jetzt im Tank hätte sich Scorpio gerne mit etwas weniger Vertrauen zufrieden gegeben.
Er hatte die weiße Scherbe nicht bei sich. Sie befand sich bei seinen persönlichen Sachen und wartete auf seine Reanimation. Sie war an sich nicht wertvoll, und hätte jemand anderer sie gefunden, er hätte sie wohl nicht weiter beachtet, sondern angenommen, es handle sich um ein seltsames Schmuckstück oder einen Talisman von lediglich sentimentalem Wert. Wichtig war jedoch, wo Remontoire sie gefunden hatte. Und das wusste nur Scorpio.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte Remontoire und reichte Scorpio den gekrümmten weißen Splitter. Scorpio untersuchte ihn und war zunächst enttäuscht. Das Material war durchscheinend. Die Kanten waren scharf genug, um sich daran zu verletzen, und das Ding war so hart, dass man es weder biegen noch brechen konnte. Es sah aus wie ein Stück vom Zehennagel eines Dinosauriers.
»Ich kenne das Zeug, Rem.«
»Ja?«
»Es ist Muschelmaterial. Auf Ararat wurden nach Stürmen solche Stücke überall angeschwemmt oder schwammen draußen auf dem Meer. Und die waren viel größer als das hier.«
»Wie groß?«, fragte Remontoire und legte die Finger aneinander.
»Manchmal so groß, dass man Häuser daraus bauen konnte. Sogar größere Regierungsgebäude. Wir hatten nicht so viel Metall oder Plastik, wie wir gebraucht hätten, deshalb behalfen wir uns mit dem, was der Planet zu bieten hatte. Die Muschelstücke mussten verankert werden, weil sie sonst vom ersten Sturm mitgerissen worden wären.«
»Schwer zu bearbeiten?«
»Schneiden ließen sie sich nur mit Schweißbrennern, aber das besagt nicht viel. Du weißt ja nicht, in welchem Zustand unsere Werkzeuge waren.«
»Was glaubst du, woher die Muschelstücke kamen, Scorp? Hattet ihr darüber eine Theorie?«
»Dafür waren wir zu beschäftigt.«
»Aber ihr müsst euch doch irgendetwas gedacht haben.«
Scorpio zuckte die Achseln und gab ihm das Fragment zurück. »Wir hielten sie für Schalen von ausgestorbenen Meerestieren, denn lebende Geschöpfe dieser Größe gab es auf Ararat nicht mehr. Die Schieber waren nicht die einzigen Organismen in diesem Ozean; es existierten immer auch andere Lebensformen, vielleicht Nachkommen der ursprünglichen Bewohner vor der Schieber-Kolonisierung.«
Remontoire klopfte mit dem Finger gegen die Scherbe. »Ich glaube nicht, dass wir es hier mit Meerestieren zu tun haben, Scorp.«
»Ist das denn so wichtig?«
»Möglicherweise schon, wenn man bedenkt, dass ich das Ding im All gefunden habe, im Orbit um Ararat.« Er gab dem Schwein die Scherbe zurück. »Habe ich dein Interesse geweckt?«
»Schon möglich.«
Remontoire erzählte ihm auch den Rest. In der letzten Phase der Schlacht um Ararat hatte sich eine Gruppe von Synthetikern aus Skades Gruppe an ihn gewandt. »Sie wussten, dass Skade tot war. Seit sie ohne Führung waren, zerfleischten sie sich in sinnlosen Streitigkeiten. Sie suchten Kontakt zu mir, weil sie hofften, die hypometrische Technologie stehlen zu können. Sie hatten schon vieles in Erfahrung gebracht, aber diese Waffe fehlte ihnen noch. Ich konnte den Versuch abwehren, ließ sie aber mit einer Warnung davonkommen. Ich wollte mir so kurz vor dem Ende keine neuen Feinde schaffen.«
»Und?«
»Als mich das Wolfsrudel erledigen wollte, kehrten sie zurück und kamen mir zu Hilfe. Ein Himmelfahrtskommando. Damit haben Skades Leute mich und meine Partner überzeugt, ihr Kooperationsangebot anzunehmen. Aber da war noch etwas.«
»Die Scherbe?«
»Nicht die Scherbe selbst, aber Daten, die sich ebenfalls auf diese rätselhaften Funde bezogen. Ich war misstrauisch und bin es noch immer. Ich kann nicht ausschließen, dass es sich um eine falsche Fährte handelt, die Skade legte, als sie sah, dass ihre Tage gezählt waren. Sähe ihr ähnlich, uns posthum noch Sand ins Getriebe zu streuen, meinst du nicht auch?«
»Ich würde es ihr jederzeit zutrauen«, antwortete Scorpio. Seit er wusste, dass es mit dem Muschelstück eine besondere Bewandtnis hatte, behandelte er es so ehrfürchtig wie eine kostbare Reliquie und wagte es kaum anzufassen, aus Angst, es zu beschädigen. »Was konntest du den Daten entnehmen?«
»Bevor Skades Leute sie mir übermittelten, erklärten sie, die Situation um Ararat sei komplexer, als wir angenommen hätten. Ich wollte es damals nicht zugeben, aber ihre Beobachtungen stimmten mit den meinen überein. Ich hatte schon seit längerem den Verdacht, dass noch jemand mit im Spiel war. Weder meine noch Skades Leute, nicht einmal die Unterdrücker, sondern eine weitere Partei, die außen vor blieb und den Zuschauer spielte. In den Wirren der Schlacht tat man solche Hinweise natürlich gern als Spekulation ab: Geistersignale von Massesensoren, Phantomgestalten, die bei starken Energieentladungen kurz auftauchten. Außerdem gab es natürlich jede Menge falscher Fährten.«
»Und die Daten?«
»Bestätigten die Befürchtungen. Zusammen mit dem, was ich selbst beobachtet hatte, gab es nur eine Schlussfolgerung: Wir wurden beobachtet. Irgendjemand – weder Menschen noch Unterdrücker – war uns nach Ararat gefolgt. Oder er könnte sogar schon vor uns da gewesen sein.«
»Wieso bist du sicher, dass diese Unbekannten nicht zu den Unterdrückern gehörten? Wir wissen so wenig über sie.«
»Weil ihr Verhalten darauf hinwies, dass auch sie den Unterdrückern nicht trauten. Sie waren nicht so misstrauisch wie wir, aber sie ließen doch Vorsicht walten.«
»Und wer sind sie nun?«
»Ich weiß es nicht, Scorp. Ich habe nur diese Scherbe. Sie wurde nach einem kleineren Schlagabtausch geborgen. Vielleicht kam eines ihrer Raumschiffe den Kämpfen zu nahe und wurde beschädigt. Es ist ein Trümmerstück, Scorp. Und ich denke, auch alle diese Muschelstücke, die ihr jemals auf Ararat gefunden habt, sind Reste von Raumschiffen, die ins Meer stürzten.«
»Und wer hat diese Schiffe gebaut?«
»Das wissen wir nicht.«
»Was wollen sie von uns?«
»Auch das wissen wir nicht, wir wissen nur, dass sie Interesse zeigen.«
»Mir ist das alles nicht geheuer.«
»Mir wahrhaftig auch nicht. Sie haben nie direkt Verbindung mit uns aufgenommen, und ihr Verhalten lässt darauf schließen, dass sie auch nicht die Absicht haben, sich zu zeigen. Sie sind weiter fortgeschritten als wir, so viel steht fest. Vielleicht müssen sie sich im Dunkeln verstecken und um die Unterdrücker herumschleichen, aber sie haben überlebt. Sie sind noch da, während wir kurz vor der Ausrottung stehen.«
»Sie könnten uns helfen.«
»Vielleicht sind sie auch genauso schlimm wie die Unterdrücker.«
Scorpio sah den alten Synthetiker an. Dies war ein Gespräch von ungeheurer Tragweite, aber Remontoire strahlte eine geradezu aufreizende Ruhe aus. »Das hört sich ja ganz danach an, als wollte man uns auf die Probe stellen«, sagte er.
»Ich frage mich, ob es nicht wirklich so ist?«
»Und Aura? Was sagt sie dazu?«
»Sie hat nie eine weitere Partei erwähnt«, erklärte Remontoire.
»Könnte es sein, dass wir die Schatten schon gefunden haben?«
»Warum müssen wir dann nach Hela fliegen, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Nein, Scorp: Dies sind nicht die Schatten. Es ist jemand anderer, von dem auch sie nichts weiß oder uns nichts sagen will.«
»Jetzt machst du mich wirklich nervös.«
»Das war auch meine Absicht, Mr. Pink. Jemand musste es erfahren, und warum nicht du?«
»Wenn sie von dieser anderen Partei nichts weiß, wer sagt uns dann, dass der Rest ihrer Informationen zutreffend ist?«
»Niemand. Das ist ja das Problem.«
Scorpio befingerte die Scherbe. Sie fühlte sich kühl an, kaum schwerer als die Luft, die sie verdrängte. »Ich könnte mit ihr darüber sprechen. Vielleicht erinnert sie sich.«
»Oder du behältst die Information für dich, weil es zu gefährlich ist, sie einzuweihen. Vergiss nicht: Es könnte eine falsche Fährte sein, von Skade gelegt, um unser Vertrauen in Aura zu erschüttern. Angenommen, sie bestreitet, von alledem zu wissen – könntest du ihr dann noch vertrauen?«
»Ich würde mir diese Daten doch gerne ansehen«, sagte Scorpio.
»Zu gefährlich. Wenn ich sie an dich weitergäbe, könnten sie den Weg in ihren Kopf finden. Sie ist eine von uns Scorp: ein Teil der Synthese. Du musst dich mit der Scherbe – betrachte sie als Merkhilfe – und mit diesem Gespräch begnügen. Ich finde, das sollte reichen.«
»Heißt das, ich darf ihr niemals etwas davon sagen?«
»Nein. Ich meine nur, du selbst musst entscheiden, ob und wann du es tust, und du solltest es dir gut überlegen.« Remontoire hielt inne, dann lächelte er. »Du bist nicht zu beneiden. Möglicherweise hängt ziemlich viel von deiner Entscheidung ab.«
Scorpio schob die Scherbe in die Tasche.