Im Orbit um Hela
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Vasko spürte, wie er schwerer wurde, als die Fähre zurück in den Orbit jagte. Das Schiffchen änderte seinen Kurs. Nun sah er auch die Morwenna wieder. Nur wirkte sie jetzt – anders als beim Anflug – winzig klein wie ein Spielzeug. Die große Kathedrale stand alleine auf dem Seitenast, der vom Ewigen Weg abzweigte, so weit von den anderen entfernt, als wäre sie wegen einer unverzeihlichen Ketzerei in die Eiswüste verbannt worden, ausgestoßen aus der Hauptfamilie der Kathedralen. Vasko wusste, dass sie sich bewegte, aber von hier oben sah es aus, als sei sie fest in der Landschaft verwurzelt und drehe sich mit Hela. Immerhin brauchte sie zehn Minuten, um eine Strecke ihrer eigenen Länge zurückzulegen.
Neben ihm saß Khouri. Er sah sie an. Sie hatte kein Wort mehr gesprochen, seit sie die Kathedrale verlassen hatten.
Ein merkwürdiger Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Der ganze Aufwand, den die Kathedralen mit den ständigen Umrundungen entlang des Äquators trieben, sollte lediglich sicherstellen, dass Haldora immer im Zenit stand und ohne Unterbrechung beobachtet werden konnte. Und das wiederum war nur nötig, weil Hela eine Winzigkeit zur gebundenen Rotation fehlte. Hätte der Mond diesen Zustand erreicht und Haldora immer dieselbe Seite zugewendet, dann wäre alles viel einfacher gewesen. Alle Kathedralen hätten sich an einem Ort sammeln und Wurzeln schlagen können. Sie bräuchten nicht unaufhörlich in Bewegung zu bleiben, und der Ewige Weg wäre ebenso überflüssig wie das schwerfällige System der Gemeinden, die einerseits die Kathedralen versorgten, aber auch von ihnen lebten. Das alles ließe sich mit einer kleinen Korrektur der Rotationsgeschwindigkeit ändern. Der Mond war wie eine Uhr, die fast richtig ging. Er brauchte nur einen winzigen Schubs, um vollends synchron zu ticken. Wie viel? Vasko ging die Zahlen im Kopf durch, er konnte nicht ganz glauben, was dabei herauskam. Helas Tag bräuchte nur um ein Zweihundertstel verlängert zu werden. Nur zwölf Minuten von vierzig Stunden.
Er fragte sich, wie viele sich wohl ihren Glauben bewahren könnten, wenn sie das wüssten. Denn wenn Haldora in irgendeiner Weise ein Wunder war, warum sollte der Schöpfer dann bei der Einrichtung von Helas täglicher Rotation über eine Kleinigkeit von zwölf Minuten in vierzig Stunden gestolpert sein? Es war ein offenkundiges Versehen, ein Zeichen kosmischer Schlamperei. Nicht einmal das. Vasko korrigierte sich. Ein Zeichen kosmischer Vergesslichkeit. Das Universum wusste nicht, was hier vorging. Es wusste es nicht und kümmerte sich nicht darum. Es wusste nicht einmal, dass es nichts wusste.
Wenn es einen Gott gäbe, dachte er, dann gäbe es keine Wölfe. Sie hatten mit Himmel und Hölle nicht das Geringste zu tun.
Die Fähre entfernte sich in weitem Bogen von der Kathedrale. Vor der Morwenna erstreckte sich die raue, ungeebnete Bahn des Ewigen Weges. Aber schon bald stieß sie an die dunkle Leere der Ginnungagap-Spalte. Vasko wusste nur zu gut, wie die Einheimischen diese Spalte nannten.
Der Weg schien an der Absolutionsschlucht zu enden. Auf der anderen Seite, vierzig Kilometer entfernt, ging die Straße weiter. Dazwischen gähnte ein vierzig Kilometer breiter, scheinbar bodenloser Abgrund. Erst als die Fähre ein klein wenig höher gestiegen war und das Licht in einem bestimmten Winkel einfiel, konnte man die Brücke erkennen. Sie wirkte lächerlich zart, so filigran, als hätte Gott sie soeben mit seinem Odem erschaffen.
Vasko schaute zur Kathedrale zurück. Die schien sich noch immer nicht von der Stelle zu rühren, aber die Landmarken, die noch vor wenigen Minuten neben ihr gewesen waren, lagen jetzt knapp dahinter. Sie kroch so langsam dahin wie eine Schnecke, aber sie war auch nicht aufzuhalten.
Und die Brücke sah wahrhaftig nicht so aus, als könnte sie das Gewicht der Kathedrale tragen.
Er öffnete die sichere Verbindung zu einem größeren Shuttle im Orbit. Es würde sein Signal zur Sehnsucht nach Unendlichkeit weiterleiten, die immer noch im parkenden Schwarm wartete.
»Hier spricht Vasko«, sagte er. »Wir haben mit Aura Kontakt aufgenommen.«
»Habt ihr etwas erreicht?«, fragte Orca Cruz.
Vasko sah Khouri an. Sie nickte stumm.
»Wir haben etwas erreicht«, sagte er.