Zwanzig
Hela
2727
Rachmika stand am Fenster, als der Eisjammer auf die vorbeiziehende Straße hinabgelassen wurde. Mit leisem Scharren setzten die Skier auf der Oberfläche auf. Zwei Männer in Druckanzügen, die auf dem Dach standen, lösten die Haken und ließen sich von den Winden hochziehen und auf das Dach des Karawanenwagens schwenken. Crozets winziges Gefährt hüpfte und schwankte noch ein paar hundert Meter neben der Karawane her, dann ließ es den polternden Zug langsam an sich vorbeirollen. Rachmika schaute ihm nach, bis es hinter den knirschenden Rädern einer der Maschinen verschwand.
Dann trat sie von dem schrägen Fenster zurück. Es war vorüber: Sie hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen. Doch sie war immer noch fest entschlossen, ihren Weg fortzusetzen. Komme, was da wolle, sie würde sich nicht aufhalten lassen.
»Sie haben sich also entschieden, wie ich sehe.«
Rachmika drehte sich erschrocken um, als sie Quästor Jones’ Stimme hörte. Sie hatte geglaubt, allein im Raum zu sein.
Das grüne Schoßtier des Quästors putzte sich mit seinem heilen Ärmchen das Gesicht. Den Schwanz hatte es wie eine Staubinde um den Oberarm seines Herrn gewickelt.
»Die Entscheidung stand schon seit langem fest«, sagte sie.
»Ich hatte gehofft, der Brief Ihres Bruders würde Sie zur Vernunft bringen. Aber Sie sind trotzdem geblieben. Wenigstens haben wir eine kleine Belohnung für Sie.«
»Wie bitte?«, fraget Rachmika.
»Wir werden unsere Route ein wenig ändern«, sagte er.
»Deshalb werden wir uns etwas später mit den Kathedralen treffen als geplant.«
»Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert?«
»Uns sind bereits Verzögerungen entstanden, die wir auf der üblichen Route nach Süden nicht einholen können. Ursprünglich wollten wir die Ginnungagap-Spalte in der Nähe des Gudbrand-Übergangs überqueren und dann auf der Hyrrokkin-Route weiter nach Süden bis zum Weg fahren, um dort auf die Kathedralen zu stoßen. Doch das schaffen wir jetzt einfach nicht mehr. Außerdem hat es irgendwo am Hyrrokkin-Pass einen größeren Eissturz gegeben, und wir haben nicht das Gerät, um die Strecke freizuräumen, jedenfalls nicht so schnell. Die nächste Karawane mit Eisräumgerät steckt an der Glum-Kreuzung in einem Gletscherbruch fest. Wenn wir uns also nicht noch weiter verspäten wollen, müssen wir eine Abkürzung nehmen.«
»Eine Abkürzung, Quästor?«
»Wir nähern uns der Ginnungagap-Spalte.« Er hielt inne. »Sie haben natürlich von der Spalte gehört. Jeder muss sie an irgendeinem Punkt überwinden.«
Vor Rachmikas innerem Auge erschien eine tiefe Erdspalte, eine Eisschlucht mit senkrechten Wänden, die sich quer über den Äquator zog. Die Ginnungagap-Spalte war Helas wichtigstes geologisches Wahrzeichen, das erste, dem Quaiche einst während des Anflugs einen Namen gegeben hatte.
»Ich dachte, es gäbe nur einen sicheren Übergang«, sagte sie.
»Für die Kathedralen schon«, räumte der Quästor ein. »Der Weg weicht hier ein wenig nach Norden ab und führt über viele Serpentinen, die aus den Wänden der Schlucht herausgehauen wurden, bis hinab auf den Grund. Die Fahrt ist mühsam, sie dauert mehrere Tage, und auf der anderen Seite wiederholt sich das Ganze in umgekehrter Richtung. Die Kathedralen brauchen einen großen Vorsprung, um nicht hinter Haldora zurückzubleiben. Man nennt diese Etappe die Teufelstreppe, und jeder Kathedralenführer fürchtet sie insgeheim. Die Fahrbahn ist sehr schmal und bricht gelegentlich ein. Aber wir brauchen die Treppe nicht zu nehmen: Es gibt nämlich einen anderen Weg über die Spalte. Für eine Kathedrale wäre er nicht befahrbar, aber eine Karawane ist ja sehr viel leichter.«
»Sie sprechen von der Brücke.« Rachmika erschauerte in einer Mischung aus Angst und Erregung.
»Sie haben sie also schon gesehen?«
»Nur auf Fotos.«
»Und was halten Sie davon?«
»Ich finde sie wunderschön«, sagte sie. »Wunderschön und so zart, als wäre sie aus Glas. Viel zu zart für diese schweren Maschinen.«
»Wir befahren sie nicht zum ersten Mal.«
»Aber niemand weiß, wie viel sie aushält.«
»Ich denke, so weit können wir den Flitzern vertrauen. Nach Ansicht der Experten überspannt sie die Schlucht schon seit Millionen von Jahren.«
»Die Experten reden viel«, gab Rachmika zurück, »aber niemand weiß mit Sicherheit, wie alt sie ist oder wer sie gebaut hat. Sie hat mit all den anderen Dingen, die uns die Flitzer hinterlassen haben, nichts gemein. Und wer kann sagen, ob sie gebaut wurde, um jemals befahren zu werden?«
»Sie machen sich unverhältnismäßig große Sorgen über ein – ich bin ganz aufrichtig – technisch einfaches Manöver, mit dem wir viele kostbare Tage einsparen werden. Darf ich fragen, warum?«
»Weil ich weiß, wie man diesen Übergang nennt«, antwortete Rachmika. »Quaiche gab der Schlucht den Namen Ginnungagap-Spalte, aber sie wird auch noch anders genannt, nicht wahr? Besonders bei Leuten, die sie überqueren wollen, heißt sie die ›Absolutionsschlucht‹, weil man nämlich frei von Sünde sein sollte, bevor man dieses Abenteuer in Angriff nimmt.«
»Aber Sie glauben doch nicht an die Existenz der Sünde?«
»An die Existenz von Leichtsinn und Dummheit glaube ich durchaus«, antwortete Rachmika.
»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Genießen Sie einfach die Aussicht, die anderen Pilger tun es auch.«
»Ich bin kein Pilger«, sagte sie.
Der Quästor lächelte und steckte seinem Tier einen Happen ins Mäulchen. »Wir alle sind Pilger oder Märtyrer. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Pilger besser fährt.«