Sechsunddreißig

Im interstellaren Raum,
unweit von Epsilon Eridani

2698

 

 

Im Augenblick des Erwachens nahm er an, es sei etwas schief gegangen. Er lag immer noch in dem schwarzen Kasten. Eben erst hatten ihn die Techniker aufgeschnitten, hatten Röhren in ihn hineingesteckt und andere Teile herausgezogen, untersucht und ersetzt – wie Kinder, die nach Bonbons suchten. Jetzt waren die weiß vermummten Gestalten wieder da und schlurften in einer trüben Dunstwolke um ihn herum. Es fiel ihm schwer, sie zu beobachten, die weißen Flecken verschwammen und verschmolzen miteinander wie Wolken.

Was…?, wollte er sagen. Aber er konnte nicht sprechen. Man hatte ihm etwas in den Mund gesteckt, scharfe Kanten reizten seine Kehle.

Einer der Techniker beugte sich in sein Blickfeld. Der weiße Fleck wurde zu einem Gesicht unter einer Kapuze, die untere Hälfte war unter einer Chirurgenmaske verborgen.

»Langsam, Scorp, Sie dürfen noch nicht sprechen.«

Er stieß einen Laut aus, Frage und Ausdruck der Wut. Der Techniker verstand. Er schob die Kapuze zurück und zog die Maske ab. Ein Gesicht wurde sichtbar, das Scorpio fast erkannt hätte. Ein Mann, wie der ältere Bruder eines Bekannten.

»Sie sind wieder da«, sagte der Mann. »Es ist alles gut gegangen.«

Er knurrte noch eine Frage. »Die Wölfe?«

»Das ist erledigt. Kurz vor dem Ende entwickelten sie ein Gegenmittel gegen die hypometrischen Waffen – zumindest setzten sie es ein. Die Waffen wirkten nicht mehr. Aber wir hatten ja noch die Weltraumgeschütze, die wir Remontoire nicht gegeben hatten.«

»Wie viele?«, gestikulierte er.

»Wir brauchten alle bis auf eins, um die Wölfe zu schlagen.«

Scorpio verstand zunächst einmal gar nichts. Dann rückten die Erinnerungen in eine gewisse Ordnung und fügten sich zu einem Sinn. Er fühlte sich so desorientiert, als stünde er auf einer Seite einer immer breiter werdenden Spalte, die in geologische Tiefen führte. Das Land, das noch vor ein bis zwei Sekunden zum Greifen nahe gewesen war, raste davon und wurde unerreichbar. Die Erinnerung an die Techniker, die ihre Leitungen in ihn hineinsteckten, erschien ihm plötzlich uralt, ein Bericht aus zweiter oder dritter Hand, als wäre es jemand ganz anderem passiert.

Sie zogen ihm den Beatmungsschlauch aus dem Hals. Er sog keuchend die Luft ein. Jeder Atemzug fühlte sich an, als hätte man ihm fein gemahlenes Glas in die Pleurahöhle gefüllt. Ob Reanimationen für Menschen wohl auch so schlimm waren? Oder war der Kälteschlaf eine besondere Hölle für Hyperschweine? Wahrscheinlich würde man das nie so genau erfahren.

Jetzt musste er lachen. Ein Geschütz war noch übrig. Ein verdammtes Geschütz. Mit fast vierzig hatten sie angefangen.

»Hoffentlich haben wir uns das Beste bis zum Schluss aufgehoben«, sagte er, als er glaubte, einen Satz zustande zu bringen. »Was ist mit den hypometrischen Geschützen? Heißt das, sie sind Schrott?«

»Noch nicht. Mit der Zeit vielleicht, aber die hiesigen Wölfe haben die Abwehrwaffe der anderen offenbar noch nicht. Eine Weile sind sie noch zu gebrauchen.«

»Wie schön. Was heißt hiesig? Wo sind wir?«

»Wir haben Yellowstone erreicht«, sagte der Mann. »Oder vielmehr das Epsilon Eridani-System. Aber es sieht nicht gut aus. Wir können nicht auf Systemgeschwindigkeit abbremsen, es reicht gerade, um zu wenden und Kurs auf Hela zu nehmen.«

»Warum können wir nicht abbremsen? Ist mit dem Schiff etwas nicht in Ordnung?«

»Nein«, antwortete der Mann. Scorpio hatte inzwischen begriffen, dass er mit einer älteren Ausgabe von Vasko Malinin sprach. Aus dem Jungen war ein Mann geworden. »Aber mit Yellowstone stimmt etwas nicht.«

Das hörte sich nicht gut an. »Das will ich sehen«, sagte Scorpio.

 

Vorher besuchte ihn noch Aura. Sie kam mit ihrer Mutter in den Kälteschlafraum. Der Schock hätte Scorpio fast umgeworfen. Er wollte nicht glauben, dass sie es war, aber die goldbraunen Augen waren unverwechselbar. Mit ihren eingebetteten Metallspänen schillerten sie in allen Regenbogenfarben wie ein Ölfilm auf dem Wasser.

»Hallo«, sagte Aura. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und reichte Khouri bis zur Hüfte. »Sie haben gesagt, sie wollen dich aufwecken, Scorpio. Wie geht es dir?«

»Recht gut«, antwortete er. Weiter wollte er nicht gehen. »Es war immer ein Risiko, in dieses Ding hier zu steigen.« Die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte er. »Wie geht es dir, Aura?«

»Ich bin sechs«, sagte sie.

Khouri fasste die Hand ihrer Tochter fester. »Sie hat einen ihrer Kindertage, Scorp, dann benimmt sie sich mehr oder weniger so, wie es für eine Sechsjährige angemessen wäre. Aber sie ist nicht immer so. Ich wollte dich nur darauf vorbereiten.«

Er betrachtete die beiden. Khouri war etwas, aber nicht dramatisch gealtert. Die Linien ihres Gesichts waren ausgeprägter, als hätte ein Künstler eine Weichzeichnung von einem Frauengesicht genommen und mit scharfem Stift liebevoll jede Furche und jede Hautfalte nachgefahren. Sie hatte sich das Haar schulterlang wachsen lassen, trug es seitlich gescheitelt und hielt es mit einer kleinen ambrafarbenen Spange zurück. Inzwischen zeigten sich weiße und silbergraue Strähnen darin, die aber die Schwärze nur noch betonten. Am Hals warf die Haut Falten, an die er sich nicht erinnerte, und die Hände wirkten irgendwie schmale und anatomischer geformt.

Aber sie war immer noch Khouri, und hätte er nicht gewusst, dass sechs Jahre vergangen waren, er hätte die Veränderungen vielleicht gar nicht bemerkt.

Mutter und Tochter waren weiß gekleidet. Khouri trug einen bodenlangen Rüschenrock, eine weiße Jacke mit runden Halsausschnitt und darunter eine Bluse mit tiefem Dekolletee, ihre Tochter einen knielangen Rock über weißen Strumpfhosen und ein schlichtes Hemd mit langen Ärmeln. Auras schwarzes Haar war knabenhaft kurz geschnitten, der Pony bildete eine gerade Linie über ihren Augen. Wie zwei Engel standen sie vor ihm, zu rein, um Teil des Schiffes zu sein, wie er es kannte. Aber vielleicht hatte sich auch das Schiff verändert. Immerhin waren sechs Jahre vergangen.

»Ist dir noch etwas eingefallen?«, fragte er Aura.

»Ich bin sechs«, sagte sie. »Soll ich dir das Schiff zeigen?«

Er lächelte. Hoffentlich erschreckte er das Kind nicht. »Das wäre schön. Aber jemand hat gesagt, ich muss mich erst um etwas anderes kümmern.«

»Was hat man dir gesagt?«, fragte Khouri.

»Es sähe nicht gut aus.«

»Die Untertreibung des Jahrhunderts«, gab sie zurück.

 

Valensin ließ ihn nicht aus dem Kälteschlafraum, ohne ihn gründlich untersucht zu haben. Der Doktor zwang ihn, sich auf einer Liege auszustrecken, und setzte die stummen grünen Medizin-Servomaten auf ihn an. Die Maschinen machten sich mit Scannern und Sonden über seinen Unterleib her, während Valensin ihm die Lider zurückzog und ihm mit einem Migräne auslösenden Licht in die Augen leuchtete. Dabei schnalzte er mit der Zunge, als hätte er etwas Unappetitliches entdeckt.

»Ich habe sechs Jahre lang geschlafen«, beklagte sich Scorpio. »Hatten Sie da nicht Zeit genug für Ihre Untersuchungen gehabt?«

»Was Sie umbringt, ist die Reanimation«, sagte Valensin forsch. »Und die Zeit unmittelbar danach. Wenn man bedenkt, wie alt der Tank ist, aus dem Sie eben herausgeholt wurden, und die unvermeidlichen Idiosynkrasien Ihrer Anatomie dazurechnet, dann gebe ich Ihnen höchstens eine Chance von fünfundneunzig Prozent, die nächste Stunde zu überleben.«

»Ich fühle mich gut.«

»Wenn das stimmt, sind Sie zu bewundern.« Valensin hob die Hand und fuhr Scorpio mit den Fingern vor dem Gesicht herum. »Wie viele?«

»Drei?«

»Jetzt?«

»Zwei.«

»Und jetzt?«

»Drei.«

»Und jetzt?«

»Drei. Zwei. Was soll das Ganze?«

»Ich muss noch genauere Tests durchführen, aber es sieht so aus, als hätte sich Ihr peripheres Sehvermögen um zehn bis fünfzehn Prozent verschlechtert.« Valensin lächelte, als hätte Scorpio genau das gebraucht: einen letzten Anstoß, um ihn von der Liege zu holen und federnden Schrittes davoneilen zu lassen.

»Ich komme eben aus dem Kälteschlaf. Was haben Sie denn erwartet?«

»Mehr oder weniger das, was ich sehe«, antwortete Valensin. »Schon bevor wir Sie in Kälteschlaf versetzten, waren beim peripheren Sehen gewisse Einbußen festzustellen, aber jetzt ist es deutlich schlimmer geworden. In den nächsten Stunden könnte es zu einer leichten Erholung kommen, aber es würde mich überhaupt nicht überraschen, wenn Sie den Ausgangszustand nie wieder erreichen würden.«

»Aber ich bin nicht gealtert. Ich war die ganze Zeit im Tank.«

»Es sind die Übergänge«, sagte Valensin und breitete bedauernd die Arme aus. »In mancher Hinsicht sind sie genauso schlimm, als würden Sie wach bleiben. Es tut mir Leid, Scorp, aber diese Technologie ist einfach nicht für Hyperschweine gemacht. Die beste Nachricht für Sie ist: Wären Sie wach geblieben, dann wäre der Sehverlust noch um fünf bis zehn Prozent höher.«

»Na schön. Beim nächsten Mal werde ich es berücksichtigen. Schließlich tue ich nichts lieber, als zwischen zwei Alternativen zu wählen, die gleich beschissen sind.«

»Oh, sie haben schon richtig entschieden«, sagte Valensin. »Nüchtern statistisch betrachtet, hatten Sie auf diese Weise die besten Chancen, die letzten sechs Jahre zu erleben. Aber überlegen Sie sich das mit dem ›nächsten Mal‹ sehr gründlich, Scorp. Die gleiche nüchterne Statistik gibt Ihnen eine Chance von etwa fünfzig Prozent, eine weitere Versetzung in den Kälteschlaf zu überleben. Danach fällt die Chance auf etwa zehn Prozent. Überall in Ihrem Körper werden die Zellen ihre Angelegenheiten in Ordnung bringen, ihre Schulden begleichen und ihr Testament aktualisieren.«

»Was soll das heißen? Dass ich nur noch einen Versuch frei habe?«

»So in etwa. Sie hatten doch nicht vor, so schnell wieder in diese Kiste zu hüpfen?«

»Nachdem Sie mir mit Ihrem ärztlichen Zuspruch so viel Mut gemacht haben? Ich müsste ja verrückt sein.«

»Das war doch nur ein ganz harmloser Scherz«, sagte Valensin.

»Immer noch besser als ein Tritt in die Zähne.«

Scorpio stemmte sich von der Liege hoch. Valensins Roboter brachten sich hastig in Sicherheit. Das Schwein verabschiedet sich, dachte er.

 

Die Symbole in dem kugelförmigen holografischen Display wurden zu Sonnen, Welten, Schiffen und Ruinen. Scorpio, Vasko, Khouri und Aura standen davor. Ihre Spiegelbilder flimmerten gespenstergleich im Glas der Kugel. Bei ihnen waren ein halbes Dutzend Älteste, darunter Cruz und Urton.

»Scorp«, sagte Khouri, »bitte nicht gleich übertreiben, ja? Valensin ist eine approbierte Nervensäge, aber deshalb solltest du trotzdem auf ihn hören. Wir brauchen dich in einem Stück.«

»Ich bin immer noch da«, sagte er. »Außerdem hattet ihr doch einen Grund, mich aufzuwecken. Kann ich die schlechten Nachrichten jetzt hören?«

Sie waren noch viel schlechter, als er gedacht hätte.

Wölfe hatten auch Epsilon Eridani und das Yellowstone-System erreicht. Nach den Meldungen abziehender Schiffe hatten die Verwüstungen erst vor kurzem begonnen. Yellowstone war im Umkreis von drei Lichtmonaten von einer löchrigen Kugel aus Lichtschiffen umgeben, die sich ständig weiter entfernten: die vorderste Front einer Evakuierungswelle. Er sah sie auf dem Display, nachdem man eine Einstellung gefunden hatte, bei der der gesamte Raum im Umkreis von einem Lichtjahr von Epsilon Eridani erfasst wurde. Die Schiffe, jedes durch ein eigenes Symbol mit bunten Anmerkungen – für Schiffskennung und Vektor – repräsentiert, erinnerten an verschreckte Fische, die vor einer Bedrohung im Zentrum nach allen Seiten davonstoben. Einige hatten einen kleinen Vorsprung, andere hinkten nach, aber da alle Antriebe mit einer Maximalbeschleunigung von einem Ge arbeiteten, verlor die Kugel erst jetzt allmählich ihre Symmetrie.

Vor und hinter der Welle waren kaum Schiffe zu sehen. Die wenigen, die weiter draußen waren, mussten Yellowstone vor dem Eintreffen der Wölfe verlassen haben. Sie befanden sich auf den üblichen Handelsrouten. Einige flogen so schnell, dass die Nachricht von der Krise sie erst in einigen Jahren einholen würde. Innerhalb der Kugel befanden sich eine Hand voll Raumfahrzeuge – entweder waren sie als Letzte gestartet oder konnten aus irgendeinem Grund die übliche Beschleunigung nicht erreichen. Näher an Epsilon Eridani, im Umkreis von einer Lichtwoche vom System, war der Verkehr nach außen völlig zum Erliegen gekommen. Wenn in den schwelenden Ruinen noch interstellare Raumschiffe zurückgeblieben waren, würden sie so schnell nirgendwohin fliegen. Auch von interplanetarem Verkehr war nichts zu sehen, und die Kolonien oder die Navigationssatelliten des Systems sendeten keine Signale mehr. Die wenigen Schiffe, die sich beim Ausbruch der Krise im Anflug befunden hatten, entfernten sich langsam in weiten Bögen. Sie hatten die Warnungen gehört und die Schiffe mit den Flüchtlingen gesehen; jetzt versuchten sie, in den interstellaren Raum zurückzukehren.

Vor Delta Pavonis hatten die Wölfe ein Jahr gebraucht, um jede Welt zu sterilisieren. Hier, so schätzte Scorpio, war seit dem Anfang des großen Schlachtens nicht mehr als ein halbes Jahr vergangen.

Doch dieses Abschlachten war anders als die Aktionen, die Resurgam und seine Mitplaneten ausgelöscht hatten. Um Delta Pavonis war – eine Million Jahre zuvor – schon einmal ein Schlag gescheitert, deshalb hatten sich die Unterdrückerelemente, die mit der aktuellen Säuberungsaktion betraut waren, außerordentlich bemüht, diesmal ganze Arbeit zu leisten. Sie hatten zunächst Welten auseinander gerissen, um Rohstoffe zu gewinnen. Daraus hatten sie dann eine Maschine gebaut, die Sterne mordete, und sie gegen Delta Pavonis gerichtet. Sie hatten tief ins Herz der Sonne hineingestochen, bis eine Blutfontäne aus Kernmaterial mit Fusionsdrücken und -temperaturen aufspritzte. Dieses Höllenfeuer hatten sie über Resurgams Oberfläche versprüht und jeden Organismus in Brand gesetzt, der nicht das Glück hatte, von einer mehrere hundert Kilometer dicken Kruste geschützt zu sein. Sollte auf Resurgam jemals wieder Leben entstehen, dann müsste es fast bei null anfangen. Konfrontiert mit den eindeutigen Spuren zweier früherer Ausrottungen, würden sich auch andere Raumfahrerzivilisationen von dieser Welt tunlichst fern halten.

Doch das war nicht die übliche Vorgehensweise der Unterdrücker. Felka hatte Clavain offenbart, die Wölfe seien nicht einfach darauf programmiert, intelligentes Leben auszulöschen. Sie arbeiteten raffinierter und zielstrebiger, und letztlich seien einfache Massenausrottungen nicht ihre eigentliche Aufgabe. Vielmehr sollten sie eine explosionsartige Vermehrung von Raumfahrerzivilisationen verhindern und die Galaxis für die nächsten drei Milliarden Jahre im Zustand einer Schäferidylle erhalten. Das Leben sollte auf einzelne Welten beschränkt bleiben, um so durch eine unvermeidliche kosmische Krise gesteuert zu werden, die – in den Augen der Wölfe – in nicht allzu ferner Zukunft stattfinden würde. Dann, aber erst dann, mochte es sich uneingeschränkt entfalten. Doch die Erhaltung des Lebens auf planetarer Ebene sei ebenso Teil des Wolfsplans wie der Wunsch, die Expansion auf interstellarer Ebene zu kontrollieren. Deshalb sei die Sterilisierung fruchtbarer Systeme wie Delta Pavonis nur ein letztes Mittel, eine Folge der Unfähigkeit einer lokalen Gruppierung. Verschiedene Wolfsrudel stünden untereinander in heftigem Wettstreit, jedes suchte die anderen zu übertreffen und mehr Subtilität bei der Kontrolle neu entstandener Zivilisationen an den Tag zu legen. Zuerst mehrere Welten und dann sogar eine Sonne zerstören zu müssen, verriete eine unverzeihliche Nachlässigkeit. Wenn einem Rudel dermaßen die Kontrolle entglitt, könne es geschehen, dass es von den anderen geächtet und nicht mehr über die neuesten Ausrottungsverfahren informiert würde.

Um Epsilon Eridani wurde weniger drastisch und mit chirurgischer Präzision vorgegangen. Die Angriffe konzentrierten sich auf die von den Menschen geschaffene Infrastruktur anstatt auf die Welten selbst. Es war nicht nötig, Yellowstone zu sterilisieren: Der Planet war ohnehin nicht wirklich bewohnbar, und einheimisches Leben existierte nur auf mikroskopischer Ebene. Die Kolonien auf der Oberfläche waren Kuppelbauten aus dünnem Material. Der Planet lieferte zwar Mineralstoffe und Wärme, aber nur, weil es bequemer war. Hätte es die Ressourcen nicht gegeben, die Kolonien wären so unabhängig gewesen wie Habitats im All. Die Wölfe begnügten sich damit, diese Kuppeln ins Visier zu nehmen. Yellowstone selbst ließen sie unversehrt. Wo Ferrisville, Loreanville und Chasm City gewesen waren, leuchtete nun die Glut aus radioaktiv verseuchten Kratern durch den dicken gelben Qualm der Planetenatmosphäre. Hier hatte nichts und niemand überlebt.

Im Umkreis des Planeten das gleiche Bild. Vor der Schmelzseuche hatte man den funkelnden Schwarm von Habitats im Orbit das Glitzerband genannt. Zehntausende von bunten Stadtstaaten hatten über Yellowstone geschwebt, Bug an Bug, manche mit einer Bevölkerung, die in die Millionen ging. Die Schmelzseuche hatte dieser Pracht den Glanz genommen, aber Scorpio hatte das Glitzerband ohnehin erst nach der Seuche kennen gelernt, als es bereits zum Rostgürtel umbenannt worden war. Viele der Habitats waren nur noch luftleere Hüllen gewesen, aber es gab immer noch hunderte von weiteren, die ihre Ökologie erhalten konnten, lauter Eiterbeulen, Minikönigreiche mit eigenen Gesetzen, Spielwiesen für abenteuerlustige Kriminelle. Scorpio war nicht gierig gewesen. Der Rostgürtel hatte seine Bedürfnisse mehr als befriedigt, erst recht, als er auch noch Zugriff auf Chasm City bekam. Doch jetzt gab es auch den Rostgürtel nicht mehr. Nur ein Glutring umgab Yellowstone, ein Armband aus kirschrot leuchtenden Ruinen, keine größer als ein Felsblock. Alle menschlichen Bauwerke waren zu Staub zermahlen worden. Ein Anblick von Grauen erregender Schönheit.

Aber nicht nur der Rostgürtel war betroffen. Die Unterdrückermaschinen hatten auch alle andere menschlichen Habitats im Raum um Yellowstone zerschlagen und sterilisiert. Scorpio identifizierte die Ruinen an ihren Orbits. Es gab kein Haven mehr. Kein Idlewild, nicht einmal Marcos Auge, der Mond des Planeten, war verschont geblieben. Nichts wies darauf hin, dass jemals ein Gebäude größer als ein Iglu auf der Oberfläche gestanden hätte. Keine Städte, keine Raumhäfen, nur lokal erhöhte Radioaktivität und ein paar interessante Spurenelemente, bei deren Analyse man sich die Zähne ausbeißen konnte.

Und das wiederholte sich überall im System: Nichts war geblieben. Keine Habitats. Keine Oberflächensiedlungen. Keine Schiffe. Keine Sender.

Scorpio weinte.

»Wie viele sind rausgekommen?«, fragte er, als er sich wieder gefasst hatte. »Zählt die Schiffe und sagt mir, wie viele Überlebende sie befördern konnten.«

»Es spielt keine Rolle«, sagte Vasko.

»Verdammt, was soll das heißen, es spielt keine Rolle? Für mich spielt es eine Rolle. Deshalb stelle ich die verdammte Frage.«

Khouri warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Scorpio… sie ist erst sechs.«

Er warf einen Blick auf Aura. »Es tut mir Leid.«

»Sie haben mich missverstanden«, sagte Vasko leise und deutete mit einem Nicken auf die Display-Sphäre. »Das ist keine Echtzeitdarstellung, Scorp.«

»Was?«

»Es ist ein Schnappschuss. So sah es vor zwei Monaten aus.« Vasko sah ihn mit seinen allzu erwachsenen Augen an. »Seither ist es noch schlimmer geworden, Scorp. Ich will Ihnen zeigen, wovon ich rede, dann werden Sie einsehen, warum es keine allzu große Rolle spielt, wie viele rausgekommen sind.«

Vasko ließ das holografische Display vorwärts laufen. In einer Ecke rasten Zeitangaben, mit der Weltzeit synchronisiert, unaufhaltsam weiter. Scorpio sah das Datum und war gründlich verwirrt: 7.4.2698. Die Zahlen waren ohne Bedeutung, zu weit entfernt von seinem eigenen Leben in Chasm City, um ihn emotional zu berühren. Ich bin für diese Zeiten nicht gemacht, dachte er. Man hatte ihn aus dem gewohnten Zeitfluss herausgerissen, und jetzt trieb er auf dem Strom der Geschichte haltlos dahin. Mit einem Schauer begriff er, dass genau diese Orientierungslosigkeit die Psyche der Ultras geprägt hatte. Wie mochte es erst für Clavain gewesen sein?

Die löchrige Migrationssphäre expandierte weiter und verlor ihre Kugelform. Die Abstände zwischen den Schiffen wuchsen. Und dann verschwand allmählich ein Schiff nach dem anderen. Die Symbole blitzten rot auf und erloschen. Nichts blieb zurück.

Urton faltete die Hände vor der Brust und sagte: »Die Unterdrücker hatten die Flüchtenden bereits im Visier. Als der Angriff begann, hatten sie keine Chance. Die Unterdrücker jagten ihnen nach, drangen in die Schiffe ein, zerlegten sie und machten aus dem Material neue Maschinen.«

»Das lässt sich sogar mathematisch verfolgen«, ergänzte Vasko. »Mit Modellen, die auf der Rohstoffmasse der Schiffe basieren. Jedes gekaperte Schiff wird zum Kern einer neuen Expansionssphäre von Wolfsmaschinen.«

Die Kugel zerfiel. Anfangs waren es hunderte von Schiffen gewesen, jetzt waren allenfalls noch drei Dutzend übrig. Und immer noch verschwanden Funken vom Display.

»Nein«, sagte Scorpio.

»Wir waren machtlos«, sagte Vasko. »Das ist das Ende dieser Welt, Scorp. Es konnte nicht anders sein.«

»Lassen Sie es weiterlaufen. Ich will das Ende sehen.«

Vasko gehorchte. Die Ziffern verschwammen, der Maßstab des Displays vergrößerte sich ruckartig. Noch waren einige Schiffe übrig: vielleicht zwanzig. Scorpio brachte es nicht übers Herz, sie zu zählen. Mindestens ein Drittel gehörte zu denen, die sich beim Ausbruch der Krise im Anflug auf Yellowstone befunden hatten. Von den Schiffen in der Flüchtlingswelle hatten es höchstens ein Dutzend so weit geschafft.

»Es tut mir Leid«, sagte Vasko.

»Habt ihr mich deshalb geweckt?«, fragte Scorpio. »Um mir das unter den Rüssel zu reiben? Um mir zu zeigen, wie verdammt sinnlos es war, die weite Reise zu machen?«

»Scorpio«, tadelte Aura. »Bitte, ich bin doch erst sechs.«

»Wir haben Sie geweckt, weil Sie verlangt hatten, bei der Ankunft geweckt zu werden«, sagte Vasko.

»Wir sind aber nirgendwo angekommen«, sagte Scorpio. »Sie haben es selbst gesagt. Wir machen kehrt, genau wie die anderen Dreckskerle, die Glück hatten. Ich frage noch einmal: Warum habt ihr mich geweckt, wenn nicht, um mir das zu zeigen.«

»Sagen Sie es ihm«, verlangte Khouri.

»Es gab noch einen Grund«, sagte Vasko.

Das Bild im Tank flackerte und stabilisierte sich wieder. Etwas Neues tauchte auf. Auch nachdem die Filter zugeschaltet wurden, blieben die Umrisse verschwommen. Die Computer extrapolierten die Einzelheiten, fügten sie ein und verglichen ihre Vermutungen immer wieder mit dem schwachen Signal im Hintergrundrauschen. Das Beste, was die hochauflösenden Kameras zu bieten hatten, war ein Rechteck mit vagen Andeutungen von Triebwerksmodulen und Kommunikationszellen.

»Es ist ein Schiff«, sagte Vasko. »Nicht so groß wie ein Lichtschiff. Ein interplanetares Shuttle vielleicht oder ein Frachter. Es ist das einzige menschliche Raumschiff im Umkreis von zwei Lichtmonaten von Epsilon Eridani.«

»Was, zum Teufel, tut es da draußen?« fragte Scorpio.

»Das Gleiche wie alle anderen«, sagte Khouri. »Es versucht, so schnell wie möglich wegzukommen. Es fliegt bei fünf Ge, aber das kann es nicht lange durchhalten. Falls es wirklich das ist, wonach es aussieht«, fügte sie hinzu.

»Was soll das heißen?«

»Sie meint, wir haben es an seinen Ausgangspunkt zurückverfolgt«, sagte Vasko. »Einiges ist natürlich Spekulation, aber in etwa müsste Folgendes passiert sein.«

Er schaltete zurück zum Hauptdisplay, das die expandierende Sphäre von Lichtschiffen zeigte. Jetzt liefen die Zahlen in umgekehrter Richtung. Das Shuttle-Symbol stürzte zurück ins Herz der Kugel und verschmolz mit einem Lichtschiff, das soeben aufgetaucht war. Vasko fuhr das Szenario noch etwas weiter zurück und ließ es dann im Zeitraffer vorwärts laufen. Das Lichtschiff entfernte sich auf seiner eigenen Fluchtbahn von Yellowstone. Scorpio konnte seinen Namen lesen: Wilde Pallas.

Das Symbol erlosch. Im gleichen Augenblick raste das Shuttle-Emblem von der Stelle weg, wo das Lichtschiff gewesen war.

»Jemand ist herausgekommen«, sagte Scorpio erstaunt. »Sie haben das Shuttle als Rettungsboot benutzt, bevor die Wölfe sie kriegen konnten.«

»Wenn dieses Lichtschiff hunderttausende von Schläfern transportierte, können es nicht viele gewesen sein«, sagte Vasko.

»Wenn wir ein Dutzend retten, hat sich der Flug gelohnt. Und das Shuttle kann leicht tausende aufnehmen.«

»Das wissen wir nicht, Scorp«, gab Khouri zu bedenken.

»Es sendet nicht, jedenfalls nicht auf einer Sichtlinie, wo wir die Signale abfangen könnten. Kein Notruf, nichts.«

»Wer würde schon senden, wenn er befürchten müsste, dass ringsum alles von Wölfen verseucht ist?«, sagte Scorpio. »Das ist kein Grund, die armen Teufel ihrem Schicksal zu überlassen. Deshalb habt ihr mich doch geweckt, nicht wahr? Ich soll entscheiden, ob wir sie retten sollen oder nicht?«

»Eigentlich«, sagte Vasko, »haben wir Sie geweckt, um Ihnen zu sagen, dass sich das Schiff in Reichweite der hypometrischen Geschütze befindet. Wir halten es für sicherer, es zu zerstören.«

Offenbarung
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