Ararat

2675

 

 

»Glauben Sie an Zufälle?«, fragte die Schwimmerin.

»Ich weiß nicht«, sagte Vasko. Er stand in der Hohen Muschel an einem Fenster hundert Meter über dem Netz der nächtlichen Straßen. Hoch aufgerichtet stand er da, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Beine in den Stiefeln leicht gespreizt. Er hatte gehört, dass hier ein Treffen stattfinden sollte und dass man ihn nicht ausschließen würde. Wieso das Treffen im Muschelgebäude und nicht in den angeblich sichereren Räumen des Schiffes abgehalten wurde, hatte ihm niemand erklärt.

Er schaute hinaus zu dem Wasserband zwischen dem Festland und dem schwarzen Meeresturm. Die Schieberaktivität war nicht geringer geworden, doch seltsamerweise reichte ein Streifen aus ruhigem Wasser wie eine Zunge in die Bucht hinaus. Zu beiden Seiten davon wucherten die Inseln, aber dazwischen war das Wasser so glatt wie geschmolzenes Metall. Vom Ufer legten Boote mit Laternen ab und steuerten auf diesem Streifen in einer ungeordneten, schwankenden Prozession auf das Schiff zu. Es war, als wollten ihnen die Schieber die Bahn frei machen.

»Gerüchte verbreiten sich schnell«, sagte die Schwimmerin. »Sie haben doch sicher davon gehört?«

»Von Clavain und dem Mädchen?«

»Nicht allein. Es heißt, das Schiff sei wieder zum Leben erwacht. Die Neutrinodetektoren – Sie wissen doch, was das ist?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Sie registrieren einen raschen Anstieg in den Triebwerkskernen. Nach dreiundzwanzig Jahren wärmen sie sich auf. Das Schiff macht sich für einen Start bereit.«

»Das hat ihm niemand befohlen.«

»Es wartet nicht auf Befehle. Es trifft seinen eigenen Entscheidungen. Die Frage ist, wo wir beim Start besser aufgehoben wären, auf dem Schiff oder auf der anderen Seite von Ararat. Da draußen tobt eine Schlacht, das wissen wir jetzt, auch wenn wir zunächst nicht alle glauben wollten, was die Frau erzählte.«

»Daran besteht kaum noch ein Zweifel«, sagte Vasko. »Und die Schieber haben wohl ebenfalls eine Entscheidung getroffen. Sie helfen diesen Menschen, das Schiff zu erreichen. Sie wollen, dass sie sich in Sicherheit bringen.«

»Vielleicht wollen sie nur nicht, dass sie ertrinken«, sagte die Schwimmerin. »Oder sie tragen einfach jede unserer Entscheidungen mit. Oder es ist ihnen egal, was geschieht.«

Sie hieß Pellerin, und er hatte sie bei jener ersten Sitzung auf der Sehnsucht nach Unendlichkeit kennen gelernt. Sie war groß und kräftig wie alle Schwimmer und hatte ein attraktives, kantiges Gesicht mit hoher Stirn. Das glatt nach hinten gekämmte Haar war mit Duftpomade eingerieben und glänzte, als wäre sie eben erst aus dem Wasser gestiegen. Die Flecken auf Wangen und Nasenrücken, die Vasko zunächst für Sommersprossen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit eine hellgrüne Pilzflechte. Alle Schwimmer mussten diese Flecken im Auge behalten. Sie zeigten an, dass die See Gefallen an ihnen fand, in sie eindrang, die Grenzen zwischen sehr unterschiedlichen Organismen überwand. Früher oder später, so hieß es, würde das Meer sich ihrer vollends bemächtigen und sie in der Matrix der Musterschieber auflösen.

Die Schwimmer, besonders altgediente Schwimmer wie Pellerin, betonten gerne, welchen Gefahren sie sich jedes Mal aussetzten, wenn sie in den Ozean stiegen.

»Könnte schon sein, dass die Schieber die Menschen in Sicherheit bringen wollen«, sagte Vasko. »Warum schwimmen Sie nicht? Dann wüssten Sie es.«

»Wenn es so ist, schwimmen wir nie.«

Vasko lachte. »So? So war es noch nie, Pellerin.«

»Wir schwimmen nicht, wenn die Schieber so erregt sind«, erklärte sie. »Dann sind sie so unberechenbar wie eure Schaber in den Bioanlagen. Wir haben schon genügend Leute verloren, besonders, wenn das Meer so wild war wie gerade jetzt.«

»Ich finde ja, unter diesen Umständen wäre jedes Risiko gerechtfertigt«, sagte er. »Aber was weiß ich schon? Ich arbeite ja nur in den Bioanlagen.«

»Wenn Sie Schwimmer wären, Malinin, dann kämen Sie gar nicht auf die Idee, sich in einer solchen Nacht ins Meer zu wagen.«

»Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte er.

»Und was heißt das?«

Er dachte an das Opfer, das heute gebracht worden war. Die Geste überstieg auch jetzt noch jedes Begreifen. Er hatte begonnen, sie auszuloten, um etwas von ihren Dimensionen zu erahnen, aber es gab immer noch Momente, in denen sich Abgründe vor ihm auftaten und er über so viel selbstlosen Mut nur staunen konnte. Und wenn er noch so lange lebte, nichts würde das Geschehen im Eisberg jemals in den Schatten stellen.

Clavains Tod würde immer in seiner Seele stecken wie ein Granatsplitter, etwas schmerzhaft Fremdes, das er mit jedem Atemzug spürte.

»Das heißt«, sagte er, »wenn mir mein eigenes Wohl wichtiger wäre als die Sicherheit von Ararat… ja, dann hätte ich vielleicht Bedenken.«

»Malinin, Sie sind ein unverschämter kleiner Scheißkerl, der von nichts eine Ahnung hat.«

Jetzt hatte sie ihn wütend gemacht. »Sie irren sich«, sagte er. »Ich weiß mehr als genug. Danken Sie Gott, dass Ihnen erspart blieb, was ich heute erleben musste. Ich weiß, was Tapferkeit ist, Pellerin. Ich weiß, was das Wort bedeutet, und ich wünschte, ich hätte es nie erfahren müssen.«

»Soviel ich hörte, war doch Clavain dieser Ausbund an Tapferkeit«, gab sie zurück.

»Habe ich etwas anderes behauptet?«

»Es klang so, als wären Sie es gewesen.«

»Ich war dabei«, sagte er. »Das hat mir schon gereicht.«

Sie zwang sich zur Ruhe. »Ich will Ihnen noch einmal verzeihen, Malinin. Ihr alle habt schreckliche Stunden hinter euch, die euch offenbar ziemlich zugesetzt haben. Aber ich musste zusehen, wie zwei meiner besten Freunde vor meinen Augen ertranken. Zwei weitere wurden vom Meer aufgelöst, und sechs wurden in die Psychiatrie gebracht. Dort sitzen sie herum, sabbern vor sich hin, kratzen sich die Finger blutig und malen damit an die Wände. Eine davon ist meine Geliebte. Sie heißt Shizuko. Wenn ich sie besuche, sieht sie mich nur an, dann lacht sie und malt weiter. Ich bin für sie ungefähr so wichtig wie das Wetter.« Pellerins Augen sprühten Blitze. »Also erzählen Sie mir nicht, was Tapferkeit ist. Jeder von uns hat so seine Erlebnisse, die er lieber vergessen würde.«

Die ruhigen Worte hatte seine leidenschaftliche Selbstgerechtigkeit ins Wanken gebracht. Er merkte erst jetzt, wie er zitterte. »Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«

»Schon vergessen«, sagte sie. »Aber werfen Sie mir niemals wieder vor, wir wären zu feige zum Schwimmen, verdammt noch mal, wenn Sie keine Ahnung von uns haben.«

Damit ging sie. Er blieb allein zurück. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber. Die Boote waren immer noch zu sehen, doch jetzt waren die Laternen etwas weiter vom Ufer entfernt.

Offenbarung
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