Elf

Hela

2727

 

 

Rachmika schaute nach oben. In einem weiträumigen Innenhof des Karawanenfahrzeugs hing, ein unübersehbares Symbol des Reichtums, ein Flitzerfossil. Es mochte zumindest in Teilen eine Nachbildung sein, ein Flickwerk aus nicht zusammengehörigen Elementen, aber es war der erste offenbar vollständige Flitzer, den sie jemals gesehen hatte. Zu gerne wäre sie hinaufgeklettert, um ihn gründlich zu untersuchen und sich die Abriebmuster an den Kontaktstellen der harten Panzersegmente anzusehen. Davon hatte sie bisher nur gelesen, aber sie war überzeugt, nach einer Stunde beurteilen zu können, ob dieses Exemplar authentisch war. Zumindest könnte sie ausschließen, dass es sich um eine billige Fälschung handelte.

Vom Gefühl her hielt sie es weder für billig noch für eine Fälschung.

Im Geiste klassifizierte sie den Flitzer nach seiner Körpermorphologie. Ein DK4V8M, dachte sie. Vielleicht auch ein DK4V8L, die Schatten und der Staub um die herabhängende Schwanzschale konnten täuschen. Immerhin konnte man das gängige Klassifikationsschema anwenden. Bei billigen Fälschungen waren manchmal einzelne Körperteile zu anatomisch unmöglichen Formationen zusammengeschustert, doch dies war eine mögliche Kombination, auch wenn die Teile nicht unbedingt von der gleichen Fundstätte stammen mussten.

Die Flitzer waren der Albtraum jedes Taxonomen. Als man das erste Skelett freigelegt hatte, sah es so aus, als bräuchte man nur die verstreuten Teile wieder aneinander zu fügen, um eine Art Rieseninsekt oder einen große Hummer zu bekommen. Die Körpersegmente waren sehr komplex, es gab viele verschiedene hoch spezialisierte Gliedmaßen und Sinnesorgane, aber sie gehörten alle mehr oder weniger logisch zusammen. Nur bei den inneren Weichteilen war man auf Vermutungen angewiesen.

Doch der zweite Flitzer passte nicht zum ersten. Er unterschied sich durch die Zahl der Körpersegmente und die Zahl der Gliedmaßen. Kopf- und Mundpartien zeigten keinerlei Ähnlichkeit. Dennoch ließen sich – auch diesmal – alle Stücke zu einem kompletten Exemplar zusammensetzen, ohne dass rätselhafte Teile zurückgeblieben wären.

Der dritte Flitzer war weder mit dem ersten noch mit dem zweiten identisch, und mit dem vierten und fünften war es ebenso.

Als endlich hundert Flitzer ausgegraben und zusammengesetzt waren, gab es hundert verschiedene Versionen für den Körperbauplan eines Flitzers.

Die Theoretiker suchten nach einer Erklärung. Die Schlussfolgerung lautete zunächst, alle Flitzer seien von Geburt an verschieden. Doch diese Hypothese wurde über Nacht durch zwei Entdeckungen zerschlagen, die zur gleichen Zeit gemacht wurden. Erstens legte man ein ganzes Nest von Jungflitzern frei, die bis auf geringe Unterschiede im Körperbauplan identisch waren. Statistisch gesehen, hätte man demnach mindestens drei identische Erwachsene gefunden haben müssen. Die zweite Entdeckung lieferte die Erklärung für den ersten Fund. Im gleichen Gebiet wurden aus verschiedenen, aber miteinander verbundenen Kammern eines unterirdischen Tunnelsystems zwei erwachsene Flitzer ans Licht geholt. Als man die Körperteile zusammensetzte, entstanden abermals zwei Unikate. Doch eine genauere Untersuchung kam zu einem überraschenden Ergebnis. Eine junge Forscherin mit Namen Kimura hatte sich eingehender mit den Mustern beschäftigt, die da entstanden, wo zwei Körpersegmente aneinander rieben. Bei den beiden neuen Flitzern fiel ihr auf, dass diese Kratzspuren nicht zusammenpassten: Es gab zwar eine Schramme am Rand eines Panzers, aber kein Gegenstück dazu am nächsten Segment.

Kimura nahm zunächst an, die Funde seien getürkt; es gab bereits einen kleinen Markt für Flitzerfossilien. Dennoch wollte sie der Sache auf den Grund gehen. Das Problem ließ sie wochenlang nicht los. Sie war überzeugt, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Nach einem besonders anstrengenden Tag, an dem sie die Kratzer mit immer stärkerer Vergrößerung untersucht hatte, ging sie zu Bett und schlief ein. Doch die Muster verfolgten sie bis in ihre Träume, und als sie erwachte, stürmte sie sofort in ihr Labor. Ihr war ein Verdacht gekommen, den sie überprüfen musste.

Es gab zu jedem Kratzer ein genaues Gegenstück – aber es befand sich in allen Fällen am anderen Flitzer. Die Flitzer tauschten Körperteile aus. Deshalb waren niemals zwei Flitzer gleich. Sie schufen die Unterschiede selbst. Der Tausch wurde im Rahmen eines feierlichen Rituals vollzogen, dann kroch jeder Partner in seine eigene kleine Höhle zurück, um sich davon zu erholen. Mit jedem neuen Flitzerpaar, das ausgegraben wurde, zeigte sich deutlicher, dass die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten nahezu unendlich war. Der Tausch von Körperteilen war einerseits pragmatisch sinnvoll, denn damit ließ sich eine bessere Anpassung an bestimmte Aufgaben und Lebensräume erreichen. Aber das Ritual entsprang auch einem ästhetischen Bedürfnis: Atypisch zu sein, war das Ideal. Diejenigen Flitzer, die sich möglichst weit vom durchschnittlichen Körperbauplan entfernt hatten, waren die sozial erfolgreichsten, denn sie mussten an vielen Tauschverfahren teilgenommen haben. Waren dagegen zwei Flitzer identisch, dann galt das – so vermuteten jedenfalls Kimura und ihre Kollegen – als der größte gesellschaftliche Makel überhaupt. Mindestens einer der beiden war ein Ausgestoßener, der keinen Tauschpartner hatte finden können.

Nun kam es unter den menschlichen Forschern zu erbitterten Auseinandersetzungen. Die Mehrheit war der Ansicht, ein solches Verhalten könne sich nicht natürlich entwickelt haben; es müsse sich um das Ergebnis gezielter biotechnischer Manipulation handeln. Die Flitzer hätten in einer früheren Phase ihrer Geschichte so lange an ihrer Anatomie herumgebastelt, bis ganze Körperteile ohne mikrochirurgische Eingriffe und ohne Einsatz von Immunsuppressiva von einem auf den anderen übertragen werden konnten.

Eine Minderheit vertrat jedoch den Standpunkt, das Tauschverhalten sei zu tief in der Kultur der Flitzer verwurzelt, um der jüngeren Evolutionsgeschichte zu entstammen. Sie vermuteten, die Flitzer hätten sich vor Jahrmilliarden in einer extrem lebensfeindlichen Umgebung – dem evolutionsgeschichtlichen Gegenstück eines Hummerkochtopfs – entwickelt. Die Bedingungen wären so hart gewesen, dass es nicht genügte, eine abgetrennte Gliedmaße nur regenerieren zu können. Wer überleben wollte, musste fähig sein, sich die Gliedmaße auf der Stelle wieder anzusetzen, bevor sie aufgefressen wurde. Mit der Zeit waren die Extremitäten – und später auch die großen Körperteile – so robust geworden, dass sie vom Rest des Körpers gerissen werden konnten, ohne abzusterben. Als der Überlebensdruck noch stärker wurde, hatten die Flitzer die Fähigkeit der Interkompatibilität entwickelt. Nun konnten sie nicht nur ihre eigenen Körperteile, sondern auch die ihrer Verwandten wiederverwerten.

Vielleicht hatten die Flitzer sogar selbst vergessen, wann das Tauschritual entstanden war. Jedenfalls gab es in den wenigen bildlichen Aufzeichnungen, die auf Hela jemals gefunden worden waren, keinen Hinweis darauf. Der Tausch von Körperteilen war offenbar so selbstverständlich gewesen, ein so integraler Bestandteil ihrer Realität, dass sich jeder Kommentar dazu erübrigte.

Rachmika stand nachdenklich vor dem bizarren Geschöpf. Wie hätten die Flitzer wohl die Menschen gesehen? Wahrscheinlich wären sie ihnen ebenfalls grotesk vorgekommen. Gerade ihre Unveränderlichkeit wäre den Flitzern ein Gräuel gewesen, Schrecken erregend wie der Tod.

Rachmika ging in die Hocke, stellte sich das Familien-Notepad auf die Oberschenkel, klappte es auf und zog den Schreibstift aus dem Schlitz an der Seite. Es war keine bequeme Stellung, aber ein paar Minuten lang würde sie schon zu ertragen sein.

Sie begann zu zeichnen. Der Stift glitt mit sicheren, schwungvollen Strichen über den Bildschirm. Ein exotisches Wesen nahm Gestalt an.

 

Linxe behielt Recht: So frostig der Empfang auch gewesen sein mochte, die Karawane bot ihnen immerhin zum ersten Mal in drei Tagen Gelegenheit, den Eisjammer zu verlassen.

Rachmika war überrascht, wie sehr sich das auf ihre Stimmung auswirkte. Nicht genug damit, dass die Verfolgung durch die Gendarmerie von Vigrid ihre Schrecken verloren hatte, auch wenn die Frage, warum man sie verfolgt hatte, sie weiterhin beschäftigte. Man atmete auch freier, und jeder Luftzug brachte neue und interessante Düfte mit, die angenehmer waren als der Mief im Innern des Eisjammers.

Und man konnte sich die Beine vertreten: Der Wagen war hell erleuchtet und sehr geräumig, mit breiten, hohen Gängen und gut ausgestatteten Zimmern. Alles war blitzsauber, und sie konnten – trotz der wenig freundlichen Begrüßung – von sämtlichen Annehmlichkeiten profitieren. Sie erhielten zu essen und zu trinken, konnten ihre Kleider waschen und bekamen endlich Gelegenheit zu angemessener Körperpflege. Sogar für Unterhaltung war gesorgt, wobei Rachmika die Angebote nicht sonderlich reizvoll fand. Sie war Besseres gewöhnt. Aber man lernte neue Leute kennen und sah fremde Gesichter.

Mit der Zeit erkannte sie, dass ihr erster Eindruck falsch gewesen war. Der Quästor und Crozet waren sicherlich keine Herzensfreunde, aber bald stellte sich heraus, dass sie einander in der Vergangenheit schon den einen oder anderen Dienst erwiesen hatten. Die schroffe Begrüßung war nur Schau gewesen, dahinter verbarg sich ein eisiger Kern gegenseitigen Respekts. Der Quästor war auf Schnäppchenjagd und ahnte, dass Crozet noch etwas in der Hinterhand hatte, was er gebrauchen konnte. Crozet wiederum hatte es auf mechanische Ersatzteile und andere Tauschwaren abgesehen.

Rachmika wollte ursprünglich nur bei einigen der Verhandlungen anwesend sein, aber sie sah rasch, dass sie Crozet in bescheidenem Rahmen behilflich sein konnte, und setzte sich mit einem Blatt Papier und einem Stift an ein Ende des Tisches. Das Notepad durfte sie nicht mitbringen, es hätte ja eine Software zur Stimmstressanalyse oder ein anderes verbotenes System enthalten können.

Rachmika machte sich Notizen zu den Objekten, die Crozet verkaufen wollte. Ihre Handschrift wie ihre Skizzen wirkten wie gedruckt, darauf war sie immer stolz gewesen. Ihr Interesse an der Ware war nicht gespielt, aber ihre Anwesenheit diente noch einem anderen Zweck.

Zur ersten Sitzung waren zwei Einkäufer gekommen. Später stieß manchmal ein dritter oder vierter dazu. Der Quästor oder einer seiner Stellvertreter saßen als Beobachter immer dabei. Jede Sitzung begann damit, dass einer der Einkäufer Crozet fragte, was er denn zu bieten hätte.

»Wir suchen nicht nach Flitzerantiquitäten«, sagten sie beim ersten Mal. »Daran haben wir keinerlei Interesse. Wir wollen menschliche Artefakte von dieser Welt. Keinen Jahrmillionen alten Schrott, sondern Dinge, die im vergangenen Jahrhundert auf Hela zurückgelassen wurden. Die Nachfrage nach nutzlosem Alien-Krempel sinkt, seit alle reichen Sonnensysteme evakuiert werden. Wer will schon seine Sammlung vergrößern, wenn er gleichzeitig alle Wertgegenstände loszuschlagen versucht, um einen einzigen Kälteschlafplatz bezahlen zu können?«

»Was denn für menschliche Artefakte?«

»Alles, was sich verwenden lässt. Die Zeiten sind schlecht: Die Leute wollen keine Kunst und keinen Krimskrams, allenfalls noch als Glücksbringer. Gesucht werden hauptsächlich Waffen und Überlebenssysteme, Dinge, von denen man sich einen Vorteil erhofft, wenn einen die Bedrohung einholt, vor der man davonläuft. Geschmuggelte Synthetikerwaffen. Demarchistische Panzerungen. Alles, was seuchenfest ist, lässt sich immer gut verkaufen.«

»Ich handle in der Regel nicht mit Waffen«, sagte Crozet.

»Der Markt wandelt sich, Sie werden sich anpassen müssen«, erwiderte einer der Männer grinsend.

»Steigen die Kirchen jetzt in den Waffenhandel ein? Wie lässt sich das denn mit der Heiligen Schrift vereinbaren?«

»Die Menschen wollen sich schützen, wie kommen wir dazu, ihnen das zu verweigern?«

Crozet zuckte die Achseln. »Ich habe weder Waffen noch Munition. Wenn auf Hela noch irgendjemand menschliche Waffen ausgräbt, dann bestimmt nicht ich.«

»Irgendetwas müssen Sie aber doch haben.«

»Nicht allzu viel.« An diesem Punkt tat er so, als wollte er gehen. Das Spiel wiederholte sich auch in allen folgenden Sitzungen. »Dann mache ich mich jetzt wohl besser auf den Weg – ich will schließlich weder Ihre noch meine Zeit verschwenden.«

»Sie haben wirklich gar nichts anzubieten?«

»Nichts, woran Sie interessiert wären. Natürlich hätte ich ein paar Flitzerfunde, aber Sie sagten ja schon…« Crozet parodierte exakt den verächtlichen Ton des Einkäufers: »Keine Nachfrage nach Alien-Krempel.«

Die Einkäufer sahen sich seufzend an; der Quästor beugte sich vor und flüsterte ihnen etwas zu.

»Wir können uns ja einmal ansehen, was Sie haben«, sagte einer der Einkäufer widerwillig, »aber machen Sie sich keine Hoffnungen. Wahrscheinlich sind wir nicht interessiert. Eigentlich können Sie sogar davon ausgehen.«

Es war ein Spiel, und Crozet musste sich an die Regeln halten, so sinnlos oder kindisch sie auch sein mochten. Er griff unter seinen Stuhl und holte ein Paket hervor, das in Schutzfolie gewickelt war. Es hatte die Form einer kleinen Tierleiche.

Die Einkäufer verzogen angewidert die Gesichter.

Crozet legte das Paket auf den Tisch und wickelte es Schicht für Schicht feierlich aus. Er ließ sich aufreizend viel Zeit, rühmte die Seltenheit des Objekts, schilderte die außergewöhnlichen Umstände, unter denen es entdeckt worden war, und verknüpfte die lückenhafte Herkunftsgeschichte mit einer rührseligen Anekdote von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt.

»Kommen sie zur Sache, Crozet.«

»Ich will Sie doch nur in die richtige Stimmung versetzen.«

Endlich kam er zur letzten Verpackungsschicht und breitete sie auf dem Tisch aus. Jetzt lag das Objekt offen da.

Rachmika kannte es: Sie hatte mit ihm und einigen anderen Stücken für ihre Fahrt auf dem Eisjammer bezahlt.

Flitzerantiquitäten machten nicht viel her. Rachmika hatte tausende von Funden aus den Ausgrabungsstätten von Vigrid gesehen und sogar untersucht, bevor sie an die Händlerfamilien weitergegeben wurden, aber es war nichts darunter gewesen, was ihre Bewunderung oder ihr Entzücken erregt hätte. Die Gegenstände waren ohne Zweifel künstlich hergestellt, aber im Allgemeinen bestanden sie aus glanzlosem, fleckigem Metall oder verschmutztem, unglasiertem Ton. Die Oberflächen waren nur selten verziert – keine Farbe, kein Metallüberzug, keine Inschriften. Unter tausend Funden trug vielleicht einer eine Kette von Symbolen, und einige Forscher glaubten sogar, einige dieser Zeichen entschlüsseln zu können. Doch meistens waren die Dinge schmucklos, unförmig und primitiv. Sie erinnerten eher an die ausgegrabenen Überreste einer frühen Bronzekultur als an die blitzenden Errungenschaften einer Raumfahrerzivilisation – die sich noch dazu gewiss nicht im System von 107 Piscium entwickelt hatte.

Dennoch hatte es im vergangenen Jahrhundert lange Zeit tatsächlich einen Markt für diese Funde gegeben. Zum Teil deshalb, weil keine der anderen ausgestorbenen Kulturen – wie etwa die Amarantin – eine solche Fülle an Alltagsgerätschaften hinterlassen hatte. Jene Zivilisationen waren so gründlich ausgerottet worden, dass nichts geblieben war, und was an Objekten gefunden wurde, war so kostbar, dass es von den großen wissenschaftlichen Organisationen wie dem Sylveste-Institut in Verwahrung genommen wurde. Nur von den Flitzern waren so viele Objekte vorhanden, dass auch Privatsammler Stücke nachweislich nichtmenschlicher Herkunft erwerben konnten. Es spielte keine Rolle, dass sie klein und unscheinbar waren, Hauptsache, sie waren sehr alt und sehr fremd. Und umweht von der Tragödie einer ausgerotteten Zivilisation.

Auch bei den Antiquitäten waren niemals zwei Stücke gleich. Flitzermöbel, sogar Flitzerbehausungen verrieten, wie sehr ihre Hersteller oder Erbauer die Ähnlichkeit verabscheuten. Was mit der Anatomie begonnen hatte, hatte auch auf den Lebensraum übergegriffen. Es gab Massenproduktion, aber in der Endphase wurde jedes Objekt von einem Handwerker bearbeitet und damit einmalig gemacht.

Der Verkauf dieser Antiquitäten an das übrige Universum wurde von den Kirchen kontrolliert. Aber um die tiefere Frage, wofür die Flitzer standen und wie sie sich mit dem Mysterium des Quaiche-Wunders vereinbaren ließen, hatten sich die Kirchen von jeher herumgedrückt. Sie mussten eine Minimalversorgung mit Funden sicherstellen, um den Ultra-Händlern bei ihren Besuchen im System etwas anbieten zu können. Doch dabei saß ihnen ständig die Angst im Nacken, der nächste Fund könnte derjenige sein, der die ganze quaichistische Religion ins Wanken brachte.

Fast alle Kirchen lehrten inzwischen, die Auslöschungen Haldoras seien eine Botschaft Gottes, der Countdown vor einem apokalyptischen Weltuntergang. Aber wenn nun auch die Flitzer beobachtet hätten, wie der Planet verschwand? Ihre Symbolschrift war ohnehin schwer zu entschlüsseln, und bisher hatte man nichts gefunden, was sich direkt auf das Haldora-Phänomen bezogen hätte. Noch lagen viele Überreste unter Helas Eis, und auch die bisher ausgegrabenen Stücke waren nie mit streng wissenschaftlichen Methoden untersucht worden. Die kirchlichen Archäologen waren die Einzigen, die einen gewissen Überblick über sämtliche Funde hatten, und sie wurden genötigt, alles zu ignorieren, was im Widerspruch zur quaichistischen Lehre stand. Deshalb schrieb Rachmika so viele Briefe, und deshalb erhielt sie nur selten und lediglich ausweichende Antworten. Sie wollte einen wissenschaftlichen Disput; sie wollte die ganze anerkannte Flitzertheorie infrage stellen. Die Archäologen wollten nichts mit ihr zu tun haben.

So war es zu erklären, dass die Einkäufer in der Karawane nur nachsichtig den Kopf schüttelten, als Crozet aggressiv zur Sache ging.

»Das ist ein Plattenreiniger«, sagte er und drehte ein graues knochenähnliches Gebilde mit gespaltener Spitze hin und her. »Es diente dazu, tote organische Materie aus den Fugen zwischen den Panzersegmenten zu kratzen. Wir glauben, dass es sich dabei um ein Gemeinschaftsritual handelte, wie bei den Affen, die sich gegenseitig das Ungeziefer aus dem Pelz klauben. Sie fanden das sicher sehr entspannend.«

»Schmutzfinken.«

»Die Affen oder die Flitzer?«

»Beide.«

»Sie sollten nicht so hart urteilen, Mann. Schließlich leben Sie von den Flitzern.«

»Wir geben Ihnen fünfzig ökumenische Krediteinheiten, Crozet. Nicht mehr.«

»Fünfzig Öku? Das soll wohl ein Witz sein.«

»Es ist ein ekelhaftes Ding für einen ekelhaften Zweck. Fünfzig Öku… das ist überaus großzügig.«

Crozet sah Rachmika an. Es war nur ein Blick, aber sie hatte schon darauf gewartet. Sie hatten ein einfaches System vereinbart: Wenn der Mann die Wahrheit sagte – wenn er tatsächlich nicht bereit war, ein besseres Angebot zu machen –, schob sie das Blatt Papier ein klein wenig weiter zur Tischmitte hin. Im anderen Fall zog sie es genauso weit zu sich heran. Wenn die Reaktion des Mannes nicht eindeutig war, tat sie gar nichts. Aber das kam nicht oft vor.

Crozet nahm ihr Urteil immer ernst. Wenn nicht mehr mit einem besseren Angebot zu rechnen war, sparte er sich weitere Überredungsversuche. War allerdings noch etwas herauszuholen, dann feilschte er, was das Zeug hielt.

Bei jenem ersten Gespräch hatte der Einkäufer gelogen. Man einigte sich erst nach einem rasanten Hin und Her von Angebot und Gegenangebot.

»Ihre Ausdauer ist bewundernswert«, bemerkte der Einkäufer deutlich verärgert, bevor er ihm eine Gutschrift über siebzig Öku ausstellte, die nur innerhalb der Karawane eingelöst werden konnte.

Crozet faltete den Schein ordentlich zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte er.

Er hatte neben weiteren Plattenreinigern auch Gegenstände anzubieten, die ganz anderen Zwecken gedient haben mochten. Hin und wieder kam er mit einem Objekt zu den Verhandlungen, das so groß war, dass Linxe oder Culver ihm tragen helfen mussten – einem Möbelstück vielleicht oder einem schweren Haushaltsgerät. Flitzerwaffen waren selten und hatten offenbar nur zeremoniellen Wert, aber sie verkauften sich am besten. Einmal brachte er eine Antiquität an den Mann, die aussah wie ein Toilettensitz. Dafür bekam er nur fünfunddreißig Öku: nach seinen Worten kaum ausreichend für einen einzigen Servomotor.

Aber Rachmika brachte kein Mitgefühl für ihn auf. Wenn Crozet sich an den Ausgrabungsstätten die besten Stücke aussuchen wollte, Objekte, mit denen drei- oder vierstellige Summen zu erzielen waren, dann musste er seine Einstellung zu den Vigrid-Gemeinden ändern. Er spielte nämlich nur allzu gern den Außenseiter.

So ging es zwei Tage lang. Am dritten Tag wollten die Einkäufer nur noch mit Crozet allein verhandeln. Rachmika konnte nicht sagen, ob sie ihr auf die Schliche gekommen waren. Aber es war schließlich nicht verboten, beurteilen zu können, ob jemand log. Vielleicht war sie ihnen einfach unsympathisch geworden. Das war oft so, wenn die Leute spürten, dass sie durchschaut wurden.

Rachmika war darüber nicht unglücklich. Sie hatte Crozet geholfen und sich damit für seine Hilfe erkenntlich gezeigt. Die Flitzerfunde waren schließlich nur die Bezahlung für die Fahrt gewesen. Als er hörte, dass die Gendarmen sie verfolgten, war er ein zusätzliches Risiko eingegangen, mit dem er nicht gerechnet hatte.

Nein: Sie brauchte wahrhaftig kein schlechtes Gewissen zu haben.

Offenbarung
titlepage.xhtml
Offenbarung_split_000.html
Offenbarung_split_001.html
Offenbarung_split_002.html
Offenbarung_split_003.html
Offenbarung_split_004.html
Offenbarung_split_005.html
Offenbarung_split_006.html
Offenbarung_split_007.html
Offenbarung_split_008.html
Offenbarung_split_009.html
Offenbarung_split_010.html
Offenbarung_split_011.html
Offenbarung_split_012.html
Offenbarung_split_013.html
Offenbarung_split_014.html
Offenbarung_split_015.html
Offenbarung_split_016.html
Offenbarung_split_017.html
Offenbarung_split_018.html
Offenbarung_split_019.html
Offenbarung_split_020.html
Offenbarung_split_021.html
Offenbarung_split_022.html
Offenbarung_split_023.html
Offenbarung_split_024.html
Offenbarung_split_025.html
Offenbarung_split_026.html
Offenbarung_split_027.html
Offenbarung_split_028.html
Offenbarung_split_029.html
Offenbarung_split_030.html
Offenbarung_split_031.html
Offenbarung_split_032.html
Offenbarung_split_033.html
Offenbarung_split_034.html
Offenbarung_split_035.html
Offenbarung_split_036.html
Offenbarung_split_037.html
Offenbarung_split_038.html
Offenbarung_split_039.html
Offenbarung_split_040.html
Offenbarung_split_041.html
Offenbarung_split_042.html
Offenbarung_split_043.html
Offenbarung_split_044.html
Offenbarung_split_045.html
Offenbarung_split_046.html
Offenbarung_split_047.html
Offenbarung_split_048.html
Offenbarung_split_049.html
Offenbarung_split_050.html
Offenbarung_split_051.html
Offenbarung_split_052.html
Offenbarung_split_053.html
Offenbarung_split_054.html
Offenbarung_split_055.html
Offenbarung_split_056.html
Offenbarung_split_057.html
Offenbarung_split_058.html
Offenbarung_split_059.html
Offenbarung_split_060.html
Offenbarung_split_061.html
Offenbarung_split_062.html
Offenbarung_split_063.html
Offenbarung_split_064.html
Offenbarung_split_065.html
Offenbarung_split_066.html
Offenbarung_split_067.html
Offenbarung_split_068.html
Offenbarung_split_069.html
Offenbarung_split_070.html
Offenbarung_split_071.html
Offenbarung_split_072.html
Offenbarung_split_073.html
Offenbarung_split_074.html
Offenbarung_split_075.html
Offenbarung_split_076.html
Offenbarung_split_077.html
Offenbarung_split_078.html
Offenbarung_split_079.html
Offenbarung_split_080.html
Offenbarung_split_081.html
Offenbarung_split_082.html
Offenbarung_split_083.html
Offenbarung_split_084.html
Offenbarung_split_085.html
Offenbarung_split_086.html
Offenbarung_split_087.html
Offenbarung_split_088.html
Offenbarung_split_089.html
Offenbarung_split_090.html
Offenbarung_split_091.html
Offenbarung_split_092.html
Offenbarung_split_093.html
Offenbarung_split_094.html
Offenbarung_split_095.html
Offenbarung_split_096.html
Offenbarung_split_097.html
Offenbarung_split_098.html
Offenbarung_split_099.html
Offenbarung_split_100.html
Offenbarung_split_101.html
Offenbarung_split_102.html
Offenbarung_split_103.html
Offenbarung_split_104.html
Offenbarung_split_105.html
Offenbarung_split_106.html
Offenbarung_split_107.html
Offenbarung_split_108.html