Achtzehn
Ararat
2675
Die Karte vom Innern der Sehnsucht nach Unendlichkeit, eine lange, abgegriffene und vergilbte Papierrolle, wurde an einem Ende von Bloods Messer gehalten, am anderen von dem schweren Silberhelm, den Palfrey im Schrott gefunden hatte. Sie war über und über mit krakeligen Bleistift- und Tintenlinien bedeckt. An manchen Stellen waren die Linien so oft ausradiert und neu gezeichnet worden, dass das Papier so durchscheinend war wie Pergament.
»Haben wir nichts Besseres?«, fragte Blood.
»Es ist besser als nichts«, sagte Antoinette. »Wir müssen eben mit sehr begrenzten Mitteln so viel wie möglich erreichen.«
»Na schön.« Das Schwein hatte diesen Satz in der vergangenen Woche hundertmal gehört. »Und was sagt uns diese Karte?«
»Sie sagt uns, dass wir ein Problem haben. Hast du mit Palfrey gesprochen?«
»Nein. Das hat Scorp erledigt.«
Antoinette spielte mit ihren klobigen Ohrringen. »Ich habe mich auch mit ihm unterhalten. Ich wollte wissen, wie die Dinge liegen. Offenbar sind in der Bilgenmannschaft alle davon überzeugt, dass sich das Spukverhalten des Captains verändert.«
»Und?«
»Nachdem wir jetzt die letzten zehn bis zwölf Auftritte eingetragen haben, glaube ich allmählich, dass sie Recht haben könnten.«
Das Schwein betrachtete blinzelnd die Karte. Es konnte im gedämpften Licht des Konferenzraums mit seinen schwachen Augen die rauchgrauen Bleistiftstriche kaum erkennen. Kartenlesen war noch nie seine Stärke gewesen, nicht einmal früher unter Scorpios Kommando in Chasm City. Damals hatte das kaum eine Rolle gespielt. Blood hatte immer die Meinung vertreten, wenn man eine Karte brauche, um sich irgendwo zurechtzufinden, sei man bereits in Schwierigkeiten.
Aber diese Karte war wichtig, denn sie stellte die Sehnsucht nach Unendlichkeit dar, den Meeresturm, in dem sie gerade saßen. Auf dem Papier zeigte sich das Schiff als lang gestreckter Kegel aus vertikalen und horizontalen Linien oder als ein mit verschnörkelten Hieroglyphen bedeckter Obelisk. Die Linien symbolisierten die Decks, die miteinander verbundenen Schächte und die größeren Innenwände. Die riesigen Lagerräume erschienen in der Zeichnung als unbeschriftete Höhlen.
Das Schiff war vier Kilometer hoch, deshalb konnten Details in menschlichen Dimensionen nicht dargestellt werden. Einzelne Räume waren nur eingezeichnet, wenn sie von strategischer Bedeutung waren. Die Kartografieversuche waren ohnehin so gut wie sinnlos. Die langsame – von keinem Menschen zu beeinflussende – innere Umstrukturierung des Schiffes hatte bisher alle derartigen Bemühungen binnen weniger Jahre zum Scheitern verurteilt.
Es gab noch weitere Komplikationen. Die oberen Decks waren noch ausreichend vermessen. Hier waren immer Besatzungsmitglieder unterwegs, und die ständige Anwesenheit von Menschen hatte das Schiff offenbar von allzu gravierenden Veränderungen abgehalten. Aber die tiefer gelegenen Decks, besonders die unter dem Meeresspiegel, waren weit weniger frequentiert. Dort hinunter begaben sich die Arbeitstrupps nur in dringenden Notfällen, um dann gewöhnlich festzustellen, dass das Innere ihren Erwartungen ganz und gar nicht entsprach. Außerdem war in den Bereichen, wo sich bereits grotesk verzerrte, archetypische Formationen gebildet hatten, eine halbwegs präzise Vermessung ohnehin schwierig. Blood hatte etliche der am schlimmsten verformten Zonen auf den unteren Decks erkundet und war sich dabei vorgekommen wie in den Höhlenlabyrinthen eines Albtraums.
Das Lichtschiff war nicht nur im Innern ständigen Wandlungen unterworfen. Bevor es den Orbit verließ und zur Landung ansetzte, hatte es sein Heck abgeflacht. Der Flug war so chaotisch verlaufen, dass kaum genauere Beobachtungen der Veränderungen möglich gewesen waren. Da sich der untere Kilometer des Schiffs – einschließlich der Doppelgondel mit den Synthetikertriebwerken – seither unter Wasser befand, wusste man noch immer nicht viel mehr. Taucher hatten zumindest die obersten hundert Meter des versunkenen Teils erkundet, doch aus ihren Berichten ergab sich wenig Neues. Sensoren konnten tiefer vordringen, aber sie lieferten nur verschwommene Bilder, die zeigten, dass die Grundform des Schiffes mehr oder weniger erhalten geblieben war. Die entscheidende Frage, ob die Triebwerke jemals wieder funktionieren würden, ließ sich daraus nicht beantworten. Der Captain, der durch ein eigenes Nervensystem Informationen aus allen Schiffsteilen empfing, wusste vermutlich schon, inwieweit sein Schiff raumtauglich war. Aber der Captain sagte nichts.
Vielleicht noch nicht.
Antoinette hatte alle neueren und gesicherten Manifestationen John Brannigans mit roten Sternchen und handschriftlichen Kommentaren versehen. Blood sah sich die Daten an. Vermerkt waren jeweils der Manifestationstyp und der oder die anwesenden Zeugen. Er setzte sein Messer auf die Karte und kratzte vorsichtig hin und her, als wollte er mit den Bleistiftstrichen fechten.
»Er steigt nach oben«, bemerkte Blood.
Antoinette nickte. Aus ihrer Frisur hatte sich eine Locke gelöst und hing ihr ins Gesicht. »Das war auch mein Eindruck. Und wenn ich mir das ansehe, muss ich Palfrey und seinen Freunden Recht geben.«
»Was ist mit den Daten? Erkennst du da irgendein System?«
»Nur insoweit, als bis vor etwa einem Monat alles so aussah wie immer.«
»Und jetzt?«
»Mach dir selbst ein Bild«, sagte sie. »Ich finde, die Karte spricht für sich. Das Spukverhalten hat sich verändert. Der Captain ist unruhig geworden. Er dehnt seine Streifzüge aus und wird immer kühner. Er taucht in Teilen des Schiffes auf, wo wir ihn nie zuvor gesehen haben. Wenn ich die Berichte einbezöge, deren Glaubwürdigkeit ich nicht für gesichert halte, würden die roten Sternchen bis zu den Verwaltungsdecks hinaufreichen.«
»Aber daran glaubst du nicht?«
Antoinette strich sich die Strähne aus dem Gesicht. »Vorerst noch nicht. Allerdings hätte ich bis vor einer Woche die Hälfte der anderen Berichte ebenfalls nicht für glaubwürdig gehalten. Jetzt fehlt mir nur noch ein guter Zeuge oberhalb von Deck 600.«
»Und was dann?«
»Dann wäre alles möglich. Wir müssten uns damit abfinden, dass der Captain aufgewacht ist.«
Für Blood stand das bereits fest. »Auf Khouri können wir es wohl nicht zurückführen. Wenn der Captain heute angefangen hätte, sein Verhalten zu ändern, hätte ich das getan. Aber wenn dies hier stimmt, geht das schon seit Wochen so. Und damals war sie noch nicht hier.«
»Aber die Schiffe waren bereits im System«, gab Antoinette zu bedenken. »Die Schlacht tobte. Woher wissen wir, ob der Captain das nicht gespürt hat? Er ist ein Schiff. Seine Sinne haben nach allen Richtungen eine Reichweite von mehreren Lichtstunden, auch wenn er fest auf einem Planeten steht.«
»Wir wissen nicht einmal, ob Khouri die Wahrheit sagt«, meinte Blood.
Antoinette zeichnete mit ihrem roten Stift einen weiteren Stern an die Stelle, die Palfrey beschrieben hatte. »Ich denke, davon können wir jetzt ausgehen«, sagte sie.
»Meinetwegen. Noch etwas. Wenn der Captain aufgewacht ist…«
Sie sah ihn abwartend an, aber er sprach nicht weiter. »Ja?«
»Bedeutet das, dass er etwas von uns will?«
Antoinette nahm den Helm vom Tisch. Die Karte rollte sich knatternd zusammen. »Ich schätze, einer von uns wird ihn fragen müssen«, antwortete sie.
Zwei Stunden vor dem Morgengrauen sahen sie am Horizont etwas funkeln.
»Da ist der Eisberg, Sir«, sagte Vasko. »Genau an der gleichen Stelle wie auf der Karte.«
Urton starrte lange angestrengt in die Ferne. »Ich sehe gar nichts«, sagte sie endlich.
»Ich schon«, rief Jaccottet vom anderen Boot herüber. »Ich denke, Malinin hat Recht. Da ist etwas.« Er griff nach einem Fernglas und hielt es sich an die Augen. Obwohl das Boot heftig schwankte, blieb der breite Linsenschutz fest auf das Ziel gerichtet.
»Was sehen Sie?«, fragte Clavain.
»Einen Eishügel. Mehr kann ich auf diese Entfernung nicht erkennen. Von einem Schiff immer noch keine Spur.«
»Gut gemacht«, sagte Clavain zu Vasko. »Sollen wir Sie von jetzt an Falkenauge nennen?«
Auf Scorpios Befehl hin fuhren die Boote nur noch mit halber Kraft und schwenkten allmählich nach Backbord ab, um das Objekt zunächst aus großer Entfernung zu umkreisen und von allen Seiten zu betrachten. Langsam wurde es heller.
Die Boote näherten sich dem Eisberg in immer engeren Spiralen. Nach einer Stunde war er zu einem runden Hügelchen angewachsen. Vasko fand ihn sehr sonderbar. Er schwamm auf dem Meer und war irgendwie auch ein Teil davon, denn er war ganz von einem weißen Saum umgeben, der etwa doppelt so breit war wie der Kern. Vasko fühlte sich an eine der Inseln erinnert, die aus einem einzigen Vulkan bestanden und deren Strände nach allen Seiten zum Meer hin sanft abfielen. Er hatte einige Eisberge gesehen, die auf die Breite von Lager eins abgetrieben waren, und dieses Ding hatte damit keinerlei Ähnlichkeit.
Der Kreis wurde enger. Hin und wieder hörte Vasko, wie Scorpio über seinen Armbandkommunikator mit Blood sprach. Im Westen war der Himmel jetzt violett wie ein Bluterguss, nur eine Hand voll heller Sterne waren zu sehen. Im Osten zeigte sich ein mattrosa Streifen. Beide Farben spiegelten sich vor dem jeweils anderen Hintergrund leicht verschoben in der hellen Oberfläche des Eisbergs.
»Das war die zweite Runde«, meldete Urton.
»Weitermachen«, befahl Clavain. »Wir verringern die Entfernung um die Hälfte und halbieren gleichzeitig unsere Geschwindigkeit. Es könnte sein, dass sie gerade nicht auf der Hut ist, und ich möchte sie nicht erschrecken.«
»Mit diesem Eisberg stimmt irgendwas nicht, Sir«, sagte Vasko.
»Wir werden sehen.« Clavain wandte sich an Khouri. »Spüren Sie schon etwas?«
»Skade?«, fragte sie.
»Ich dachte eher an Ihre Tochter. Ich hielt es für möglich, dass die Implantate bereits aus dieser Entfernung Verbindung aufnehmen können.«
»Wir sind noch sehr weit weg.«
»Zugegeben, aber sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn sich etwas tut. Ich kann Auras Emissionen mit meinen Implantaten vielleicht gar nicht oder nur aus nächster Nähe empfangen. Außerdem sind Sie ihre Mutter. Sie werden sie vor allen anderen erkennen, auch wenn die Protokolle ganz unauffällig sein sollten.«
»Sie brauchen mich nicht daran zu erinnern, dass ich ihre Mutter bin«, sagte Khouri.
»Natürlich nicht. Ich meinte nur…«
»Ich suche nach ihr, Clavain. Ich tue nichts anderes, seit Sie mich aus dieser Kapsel gezogen haben. Und wenn ich sie höre, werden Sie es als Erster erfahren.«
Eine halbe Stunde später waren sie dem Objekt so nahe gekommen, dass Einzelheiten zu erkennen waren. Auch ohne den Saum, der sich weiter im Wasser ausbreitete, sah jetzt jeder, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Eisberg handelte. Es wurde sogar zunehmend unwahrscheinlicher, dass das Ding überhaupt ein Eisberg war.
Obwohl es aus Eis bestand.
Die Wände des schwimmenden Gebildes setzten sich aus bizarren Kristallen zusammen, weder Facetten noch Platten, sondern kreuz und quer verlaufende weiße Stäbe. Ein wild wucherndes Eiszapfengestrüpp, das zusehends dichter wurde. Aus dickeren Stalagmiten und Stalaktiten, die wie Reißzähne nach oben und unten ragten, wuchsen messerscharfe Spieße. An den Ansatzpunkten breiteten sich kleinere Wucherungen nach allen Seiten aus und verschlangen sich zu einem verwirrenden Netzwerk. Die Eiszapfen waren von unterschiedlicher Größe. Es gab Stämme und Äste vom Durchmesser eines Bootes. Andere waren so dünn und fein wie ein schillernder Schleier und drohten beim leisesten Windhauch zu unzähligen Splitterchen zu zerfallen. Von ferne hatte der Berg wie ein massiver Block ausgesehen. Jetzt erschien er wie ein Haufen aus unzähligen, wahllos durcheinander geworfenen Glasnadeln, ein glitzerndes Dickicht, das zu gleichen Teilen aus Hohlräumen wie aus Eis bestand.
Vasko war von dem Anblick tief erschüttert.
Sie gingen noch näher heran.
Clavain war der Einzige, den das fremdartige Gebilde unbeeindruckt ließ. »Die Karten hatten Recht«, sagte er. »Die Größe stimmt… ich schätze, in dem Berg könnte sich leicht eine Korvette der Moray-Klasse verbergen.«
Vasko meldete sich zu Wort. »Sie glauben immer noch, dass unter dem Eis ein Schiff stecken könnte, Sir?«
»Ich will Ihnen eine ganz einfache Frage stellen, mein Sohn. Glauben Sie wirklich, hier hätte Mutter Natur die Hand im Spiel?«
»Aber wozu sollte Skade ihr Schiff mit dieser seltsamem Eisschicht umgeben?«, beharrte Vasko. »Als Panzerung ist sie kaum geeignet, und bisher hat sie lediglich bewirkt, dass das Schiff auf den Karten deutlicher zu erkennen ist.«
»Was macht Sie so sicher, dass es Skades Entscheidung war, mein Sohn?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen, Sir.«
Scorpio schaltete sich ein. »Er meint aus alledem schließen zu können, dass mit Skades Schiff irgendetwas nicht stimmt. Ist das richtig?«
»Das ist meine Arbeitshypothese«, erklärte Clavain und nickte.
»Aber was…?« Vasko verstummte, bevor er sich noch weiter verrannte.
»Was immer unter der Hülle steckt«, sagte Clavain, »wir müssen es erreichen. Wir haben kein Tunnelbohrgerät und auch nichts, womit wir dickes Eis sprengen könnten. Aber wenn wir vorsichtig sind, wird das gar nicht nötig sein. Wir müssen nur einen Weg finden, der ins Zentrum führt.«
»Und wenn Skade uns vorher entdeckt, Sir?«, fragte Vasko.
»Das hoffe ich sogar. Ich möchte auf keinen Fall an ihre Haustür klopfen müssen. Jetzt bringen Sie uns näher heran. Aber schön langsam.«
Die Helle Sonne ging auf. In den ersten Minuten nach Tagesanbruch veränderte der Eisberg vollkommen seinen Charakter. Nun stand vor dem zartvioletten Himmel ein Zauberschloss, wie aus Zucker gesponnen. Das Licht brach sich wie in tausend lupenreinen Diamanten, und die Spieße und Stangen sprühten goldene und azurblaue Blitze. Prachtvolle Lichtkränze entstanden, Splitter und Scherben erstrahlten in Farben von einer Reinheit, wie Vasko sie noch nie gesehen hatte. Das Innere war nicht dunkel, sondern verströmte einen schwach türkisgrünen Schein, der durch das Eislabyrinth nach außen sickerte. Und dieser leuchtende Kern enthielt, nur undeutlich zu erkennen, einen schwarzen Punkt.
Die beiden Boote waren bis auf fünfzig Meter an den äußeren Rand des Inselsaums herangekommen. Das Wasser war fast die ganze Fahrt über ruhig gewesen, aber hier in unmittelbarer Nähe des Eisberges bewegte es sich so träge wie ein riesiges, betäubtes Tier, als koste jede Welle das Meer große Überwindung. Am Rand des Saums begann es bereits zu gefrieren und war blaugrau und glatt wie die Haut eines Fisches. Vasko hielt kurz die Finger hinein, zog sie aber sofort wieder heraus. Selbst hier, so weit vom Saum entfernt, war es viel kälter als beim Verlassen des Shuttles.
»Seht euch das an«, sagte Scorpio. Er hatte eine der Karten vor sich ausgerollt. Auch Khouri betrachtete sie aufmerksam und nickte, als das Schwein mit einem plumpen Huf auf irgendwelche Einzelheiten hinwies und etwas dazu sagte.
Clavain öffnete seine eigene Karte. »Was gibt es, Scorp?«
»Blood hat eben ein Update geschickt. Sieh dir den Eisberg an: Er ist größer geworden.«
Clavain gab seiner Karte die gleichen Koordinaten ein. Der Eisberg sprang ihm förmlich entgegen. Vasko schaute dem Alten über die Schulter und suchte nach den beiden Booten. Sie waren nicht zu finden. Vermutlich war die Karte schon am Vorabend noch vor Sonnenuntergang aktualisiert worden.
»Du hast Recht«, sagte Clavain. »Was meinst du… dreißig oder gar vierzig Prozent mehr Volumen?«
»Mindestens«, erwiderte Scorpio mit einem Nicken. »Und das ist keine Echtzeitaufnahme. Wenn er so rasch wächst, könnte er inzwischen noch einmal zehn oder zwanzig Prozent zugelegt haben.«
Clavain rollte seine Karte zusammen: Er hatte genug gesehen. »Jedenfalls vereist auch das Wasser im Umkreis. Es dauert nicht lange, und da, wo wir jetzt stehen, ist alles fest gefroren. Wir hatten Glück, dass wir so früh kamen. Ein paar Tage später hätten wir keine Chance mehr gehabt. Dann stünden wir jetzt vor einem Gebirge.«
»Sir«, sagte Vasko, »ich begreife nicht, wieso er wächst. Eigentlich müsste er doch schrumpfen. In diesen Breiten halten Eisberge nicht lange.«
»Sagten Sie nicht, Sie verstünden nicht viel davon?«, gab Clavain zurück.
»Ich sagte nur, dass man in der Bucht nicht oft Eisberge zu sehen bekommt, Sir.«
Clavain sah ihn scharf an. »Das ist kein Eisberg. Es ist auch nie einer gewesen. Es ist eine Eiskruste, und darunter liegt Skades Schiff. Und die Kruste wächst, weil das Schiff das Meer um sich herum vereisen lässt. Erinnern Sie sich, was Khouri sagte? Sie haben Verfahren, um Schiffsrümpfe auf die Temperatur der kosmischen Mikrowellenstrahlung herunterzukühlen.«
»Aber Sie meinten doch, Skade hätte keine Kontrolle darüber.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Sir…«
Clavain ließ ihn nicht ausreden. »Vielleicht stimmt etwas nicht mit den kryo-arithmetischen Aggregaten, die den Rumpf kühlen. Ich weiß nicht, was damit passiert sein könnte, aber vielleicht kann Skade es uns sagen, wenn wir sie finden.«
Vasko hatte bis gestern noch nie von kryo-arithmetischen Aggregaten gehört. Dann hatte Khouri den Begriff in ihrer Aussage verwendet – es handelte sich um eine der Technologien, die Remontoire und seine Verbündeten auf der Flucht aus dem zerstörten Delta Pavonis-System mit Auras Hilfe vervollkommnet hatten.
Anschließend hatte Vasko unzählige Fragen gestellt, um die größten Lücken in seinem Wissen zu füllen. Er hatte nicht auf alles eine Antwort erhalten, nicht einmal von Khouri. Aber Clavain hatte ihm erklärt, die kryo-arithmetischen Aggregate seien nicht völlig neu, die Basistechnologie sei bereits von den Synthetikern gegen Ende ihres Krieges mit den Demarchisten entwickelt worden. Damals sei ein einziges derartiges Aggregat ein Koloss von der Größe eines Wohnhauses gewesen und hätte nur von einem großen Raumschiff befördert werden können. Jeder Versuch, eine kleinere Version zu produzieren, hätte in einer Katastrophe geendet. Mit Auras Hilfe hätte man jedoch Aggregate gebaut, die nicht größer waren als ein Apfel.
Gefährlich waren sie aber noch immer.
Die Kryo-Arithmetik basierte auf einer kontrollierten Verletzung der thermodynamischen Gesetze. Sie war ein Ableger der Quantenrechnung und arbeitete mit einer Klasse von Algorithmen, die ein Synthetiker-Theoretiker namens Qafzeh in den ersten Jahren des Demarchisten-Krieges entwickelt hatte. Qafzehs Algorithmen führten – wenn sie auf einem Quanten-Computer mit einer bestimmten Architektur implementiert wurden – zu einem Nettowärmeverlust der Umgebung. Ein kryo-arithmetisches Aggregat war im Grunde nur ein Computer, auf dem Rechenzyklen liefen. Anders als gewöhnliche Rechner wurde er jedoch kälter, je schneller er lief. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, zu verhindern, dass der Computer noch schneller lief, wenn er sich abkühlte, und schließlich unkontrollierbar wurde. Und je kleiner das Aggregat, desto anfälliger war es für diese Instabilität.
Vielleicht war das mit Skades Schiff passiert. Im All hatten die Aggregate die Wärme vom Rumpf der Korvette abgesaugt und dafür gesorgt, dass sie sich der Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung anglich, die nahe am absoluten Nullpunkt lag. Doch dann war das Schiff beschädigt und dabei vielleicht auch das empfindliche Netz von Kontrollsystemen zur Überwachung kryo-arithmetischen Aggregate zerstört worden. Als es in Ararats Ozean stürzte, war es ein johlendes Monstrum, das Wolken interstellarer Kälte ausstieß und alles Wasser in seiner Umgebung gefrieren ließ. Das Eis mit seinen seltsamen Formen und Strukturen verriet, wie schändlich hier gegen die Naturgesetze verstoßen wurde.
Konnte im Innern noch jemand am Leben sein?
Vasko stutzte. Vielleicht war er der Erste, dem es auffiel. Es war ein Laut, ein Wehklagen in einem extrem hohen Frequenzbereich, dem Ultraschall so nahe, dass es kaum noch mit den Ohren wahrzunehmen war. Er empfing es eher wie einen Datenstrom über einen sensorischen Kanal, von dem er bisher nichts geahnt hatte.
Es war wie ein Singen. Als strichen eine Million Finger über die feuchten Ränder einer Million Weingläser.
Obwohl seine Ohren es kaum aufnehmen konnten, drohte es ihm den Schädel zu sprengen.
»Sir«, sagte Vasko. »Ich höre etwas. Der Eisberg, Sir, oder was es auch ist – er macht ein Geräusch.«
Clavain überlegte. »Es muss die Sonne sein«, sagte er dann. »Sie erwärmt das Eis, und dabei entstehen Spannungen, die es knarren und zittern lassen.«
»Hören Sie es auch, Sir?«
Clavain sah ihn merkwürdig an. »Nein, mein Sohn, ich höre es nicht. Ich kann heutzutage so vieles nicht mehr hören. Aber ich verlasse mich auf Ihre Aussage.«
»Noch näher«, befahl Scorpio.
Antoinette Bax ging allein durch die dunklen, feuchten Korridore des versunkenen Schiffs. In einer Hand hielt sie eine Taschenlampe, die Finger der anderen steckten im Halsring des alten Silberhelms. Der goldene Lichtkreis sprang eifrig wie ein Jagdhund vor ihr her und holte die verwirrenden Formationen an den Wänden aus der Dunkelheit: hier ein Torbogen, der aus Wirbelknochen gemacht schien, dort eine Masse aus verknoteten Darmschlingen, die in den kriechenden Schatten zuckten und zappelten schienen wie ein Nest kopulierender Schlangen.
Von den unteren Decks wehte ein feuchter Wind herauf, und irgendwo in der Ferne stampfte klirrend eine Maschine. Es klang mühsam und stockend. Vielleicht eine Bilgenpumpe, vielleicht auch das Schiff selbst, das wieder einen Teil seiner Architektur umgestaltete. Der Schall verbreitete sich auf unberechenbare Weise. Die Geräusche mochten nur wenige Korridore entfernt entstanden sein oder an einem Ort kilometerweit über oder unter Antoinette.
Sie schlug ihren Mantelkragen hoch. Sie hätte gern jemanden dabei gehabt – ganz gleich wen –, aber sie wusste, dass das nicht möglich war. Wenn sie in der Vergangenheit – selten genug – dem Captain eine Reaktion entlockt hatte, die man halbwegs als sinnvolle Äußerung deuten konnte, war sie immer allein gewesen. Daraus schloss sie, dass der Captain bereit war, sich ihr zu offenbaren, und dass er ihr – zumindest eine Spur – Vertrauen entgegenbrachte. So oder so, Antoinette war immer überzeugt gewesen, dass sie sich mit dem Captain besser verständigen konnte als jeder andere aus der Kolonie. Sie hatte selbst einmal ein Schiff besessen, und obwohl es viel kleiner gewesen war als die Sehnsucht nach Unendlichkeit, war auch dort so etwas wie ein Geist umgegangen.
»Sprechen Sie mit mir, John«, hatte sie ihn früher einmal gebeten. »Sie können mir vertrauen, denn ich glaube, ich vermag zumindest in Ansätzen zu begreifen, was Sie sind.«
Sie hatte nie eine eindeutige Antwort bekommen, aber wenn sie zurückblickte auf all die Begegnungen, bei denen sie eine wenn auch noch so inhaltslose Reaktion provoziert hatte, dann kam es ihr doch so vor, als spräche der Captain auf ihre Gegenwart an. Aus keiner dieser Manifestationen ließ sich eine zusammenhängende Äußerung herauslesen. Aber vielleicht konnte man aus der jüngsten Häufung von Erscheinungen schließen, dass er geschlafen hatte und jetzt allmählich erwachte.
»Captain«, sagte sie und streckte den Helm aus. »Sie haben Ihre Visitenkarte zurückgelassen, nicht wahr? Ich bringe sie Ihnen wieder. Jetzt sollten auch Sie Ihre Seite des Abkommens einhalten.«
Nichts regte sich.
»Ich will ehrlich sein«, sagte sie. »Ich bin nicht sehr gern hier unten. Genauer gesagt, ich fürchte mich zu Tode. Ich mag kleine, gemütliche Schiffe, bei denen ich mir die Innenausstattung selbst aussuchen kann.« Sie ließ den Strahl der Taschenlampe wandern. Von der Decke hing ein Kugelhaufen, der den halben Korridor ausfüllte. Sie bückte sich und strich von unten mit den Fingern darüber. Die schockgefrosteten schwarzen Blasen fühlten sich überraschend warm und weich an. »Nein, das ist ganz und gar nicht mein Geschmack. Aber schließlich ist dies Ihr Reich. Ich möchte Ihnen nur klar machen, wie viel Überwindung es mich kostet, überhaupt hierher zu kommen. Und ich hoffe, dass es sich wenigstens lohnt.«
Nichts geschah. Aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er schon den ersten Köder annehmen würde.
Sie versuchte es mit etwas mehr Vertraulichkeit. »John«, sagte sie. »Wir haben den Eindruck, dass sich in diesem Sonnensystem etwas tut, und ich nehme an, dass auch Sie diesbezüglich gewisse Vermutungen haben. Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was wir davon halten – dann können Sie selbst entscheiden.«
Der Wind veränderte sich. Er wurde wärmer und weniger gleichmäßig. Antoinette musste an keuchende Atemzüge denken.
»Khouri ist zurückgekehrt«, begann Antoinette. »Sie fiel vor ein paar Tagen vom Himmel. Sie erinnern sich doch an Khouri, nicht wahr? Sie war lange Zeit hier an Bord, ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sie vergessen haben. Khouri sagt jedenfalls, um Ararat tobt ein Kampf, neben dem der Krieg zwischen Demarchisten und Synthetikern sich wie eine Schneeballschlacht ausnimmt. Wenn das stimmt, befehden sich da oben zwei verfeinde Menschenparteien und eine beängstigende Zahl von Wolfsmaschinen. Sie erinnern sich doch an die Wölfe, Captain? Sie wissen, dass Ilia sie mit den Weltraumgeschützen angegriffen hat, und Sie haben auch erlebt, was sie damit ausrichtete.«
Jetzt spürte sie es wieder. Der Wind hatte eine schwache Sogwirkung entwickelt.
Für Antoinette war schon das eine Manifestation Klasse eins. »Sie sind hier, nicht wahr?«
Wieder veränderte sich der Wind. Jetzt blies er von neuem in ihre Richtung und heulte wie ein Sturm. Er zauste ihr das Haar und wehte es ihr in die Augen.
Und er flüsterte ein Wort: Ilia.
»Ja, Captain. Ilia. Sie kannten sie gut, nicht wahr? Sie erinnern sich an den Triumvir. Ich auch. Ich kannte sie nicht lange, aber lange genug, um zu erkennen, dass sie eine Frau ist, die man nicht so schnell vergisst.«
Der Sturm hatte sich gelegt. Geblieben war nur dieser quälende Sog.
Eine innere Stimme mahnte Antoinette, es gut sein zu lassen. Sie hatte eine eindeutige Reaktion bekommen: auf jeden Fall eine Manifestation der Klasse eins und (wenn sie sich die Stimme nicht eingebildet hatte) mit hoher Wahrscheinlichkeit der Klasse zwei. Das sollte fürs Erste genügen. Der Captain war bekannt für seine Eigenwilligkeit, Ilia Volyova hatte Aufzeichnungen hinterlassen, aus denen hervorging, dass er oft in eine katatone Starre gefallen war, wenn sie versucht hatte, ihm noch weitere Reaktionen zu entlocken. Und mehr als einmal hatte es Wochen gedauert, bis er seinen Schmollwinkel wieder verließ.
Aber der Triumvir hatte Monate oder gar Jahre zur Verfügung gehabt, um eine tragfähige Beziehung zum Captain ihres Schiffes aufzubauen. Antoinette stand sicherlich sehr viel mehr unter Zeitdruck.
»Captain«, sagte sie. »Ich will mit offenen Karten spielen. Der Ältestenrat macht sich Sorgen. Scorpio ist so beunruhigt, dass er Clavain von seiner Insel zurückgeholt hat. Sie nehmen Khouris Angaben ernst. Sie sind unterwegs, um zu versuchen, ob sie ihr Baby zurückholen können. Wenn sie Recht hat, schwimmt ein Synthetikerschiff, das von den Wölfen beschädigt wurde, bereits in unserem Ozean. Sie sind hier, Captain. Die Krise ist da. Wir können nun die Hände in den Schoß legen und den Ereignissen ihren Lauf lassen, oder uns überlegen, ob wir handeln wollen. Und was ich damit meine, ist Ihnen sicherlich klar.«
Der Sog hörte so plötzlich auf, als hätte sich irgendwo eine Tür oder ein Ventil geschlossen. Kein Wind, kein Geräusch war mehr zu hören. Antoinette stand mit dem kleinen Lichtfleck aus ihrer Taschenlampe allein im Korridor.
»Heilige Scheiße«, sagte sie.
Doch dann erschien vor ihr ein heller Strich. Sie hörte Metall quietschen, ein Stück Wand schwang beiseite. Wieder blies ihr ein Wind ins Gesicht, eine neue Mischung von biomechanischen Gerüchen.
Hinter der Öffnung lag ein Korridor, der in einem scharfen Knick nach unten führte. Aus den Tiefen sickerte glühwürmchenfahles grüngoldenes Licht empor.
»Es war also wohl doch eine Visitenkarte«, sagte sie.