Ararat
2675
Khouri erwachte. Scorpio war bei ihr, als sie die Augen aufschlug. Er saß auf dem Stuhl neben ihrem Bett, wo zuvor Valensin gesessen hatte. Eine weitere Stunde war vergangen, er hatte die Sitzung in der Hohen Muschel versäumt. Aber er fand, es hätte sich gelohnt.
Khouri blinzelte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. In ihren Mundwinkeln hatten sich Krusten aus getrockneten Speichelresten gebildet. »Wie lange war ich weg?«
»Gestern haben wir Aura gerettet. Jetzt haben wir Vormittag. Sie haben die meiste Zeit geschlafen. Der Doc sagt, es ist nur die Erschöpfung. Sie müssen die ganze Zeit, seit Sie bei uns sind, unter Volldampf gestanden haben.«
Khouri drehte den Kopf zur anderen Bettseite. »Aura?«
»Der Doc sagt, es geht ihr gut. Sie braucht nur Ruhe, genau wie Sie. Wenn man bedenkt, was sie alles durchgemacht hat, hält sie sich ausgezeichnet.«
Khouri schloss die Augen und seufzte. Scorpio sah, wie die Spannung von ihr abfiel. Es war, als hätte sie eine Maske getragen, seit man sie aus der Kapsel gezogen hatte. Jetzt hatte sie diese Maske abgelegt.
Sie schlug die Augen wieder auf. Er sah wie durch ein Fenster eine jüngere Khouri, die Khouri, die er gekannt hatte, bevor sich die beiden Schiffe im Resurgam-System trennten. Vor einem halben Leben.
»Ich bin froh, dass Sie in Sicherheit ist«, sagte sie. »Danke für Ihre Hilfe. Und was mit Clavain geschehen ist, tut mir Leid.«
»Mir auch, aber es gab keine andere Wahl. Skade hatte uns in der Hand. Sie hatte die Falle gestellt, und wir tappten hinein. Als sie erkannte, dass sie von Aura nicht mehr profitieren konnte, fand sie sich bereit, sie uns zurückzugeben. Aber nicht ohne Gegenleistung. So einfach ließ sie uns nicht davonkommen. Sie hatte mit Clavain noch eine Rechnung zu begleichen.«
»Aber diese Brutalität hat…«
Scorpio strich ihr sanft über den Kopf. »Denken Sie nicht mehr daran, am besten nie wieder, wenn Sie es schaffen.«
»Er war Ihr Freund, nicht wahr?«
»Wohl schon. Soweit ich jemals Freunde hatte.«
»Ich denke, Sie hatten Freunde, Scorp, und Sie haben sie immer noch. Und wenn du willst, hast du ab jetzt noch zwei dazu.«
»Mutter und Tochter?«
»Wir stehen beide in deiner Schuld.«
»Ich werde es mir überlegen.«
Sie lachte. Es tat gut, wieder einmal jemanden lachen zu hören. Khouri war die Letzte, von der er das erwartet hätte. Vor der Fahrt zum Eisberg war sie ihm wie eine Besessene vorgekommen, wie eine scharfe Waffe, die vom Himmel gefallen war. Aber jetzt sah er, dass sie ebenso menschlich und ebenso zerbrechlich war wie er und alle anderen. Soweit man ein Hyperschwein als ›menschlich‹ bezeichnen konnte.
»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte er. »Aber wenn du lieber schlafen willst, kann ich auch später wiederkommen.«
»Würdest du mir Wasser geben?«
Sie zeigte auf einen Becher. Er stand auf und holte ihn. Sie trank ihn zur Hälfte leer und wischte sich den weißen Schorf aus den Mundwinkeln. »Na los, Scorp.«
»Du stehst doch mit Aura in Verbindung, nicht wahr? Mental, über die Implantate, die Remontoire euch beiden eingesetzt hat.«
»Ja«, sagte sie vorsichtig.
»Verstehst du alles, was durch diese Verbindung zu dir dringt?«
»Wie meinst du das?«
»Du hast gesagt, dass Aura durch dich spricht. Schön, das kann ich verstehen. Aber fängst du auch Dinge auf, wenn sie nicht bewusst sprechen will?«
»Wie zum Beispiel?«
»Du weißt doch, dass wir aus dem Wolfskrieg Geräusche auffangen, elektromagnetische Strahlung, die durch die Abschirmung sickert? Bekommst du so etwas auch von Aura? Irgendwelche Signale, die du aber nicht verarbeiten kannst?«
»Ich weiß nicht.« Ihre Heiterkeit war verflogen. Jetzt furchten tiefe Falten ihre Stirn. Die Fenster waren wieder zugeschlagen. »Woran dachtest du denn genau?«
»Weiß nicht«, sagte er und rieb sich den Rüssel. »War nur so eine Vermutung. Als wir dich aus der Kapsel zogen, hat Valensin dich mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt, weil du dich nicht untersuchen lassen wolltest. Du warst richtiggehend k. o. Aber du hast im Schlaf immer wieder gesprochen.«
»Tatsächlich?«
»Ein Wort nur, Hella oder so ähnlich. Es klang so, als würde es dir etwas bedeuten, aber als wir dich danach fragten, bekamen wir sozusagen ein plausibles Dementi. Ich denke, du hast die Wahrheit gesagt. Du kannst mit dem Wort nichts anfangen. Aber ich frage mich, ob es vielleicht für Aura etwas bedeuten könnte.«
Sie sah ihn misstrauisch an, aber ihr Interesse war geweckt. »Ist es dir denn irgendwie bekannt?«
»Nicht dass ich wüsste. Auf Ararat weiß sicherlich niemand, was es damit auf sich haben könnte. Aber wenn man die gesamte Menschheitskultur mit einbezöge, könnte es fast alles bedeuten. Da draußen gibt es viele Sprachen. Viele Leute, viele Welten.«
»Ich kann dir trotzdem nicht helfen.«
»Verstehe. Es ist nur so. Während ich hier saß und darauf wartete, dass du aufwachst, hast du noch etwas gesagt.«
»Und was habe ich gesagt?«
»Quaiche.«
Sie hob den Becher an die Lippen und trank den Rest des Wassers. »Auch damit kann ich nichts anfangen«, erklärte sie dann.
»Schade. Ich hatte gehofft, es würde irgendwo klingeln.«
»Vielleicht bedeutet das Wort für Aura tatsächlich etwas. Aber ich weiß es nicht, klar? Ich bin nur ihre Mutter. Remontoire konnte keine Wunder wirken. Er hat uns miteinander verbunden, aber deshalb sind mir noch lange nicht alle ihre Gedanken zugänglich. Sonst würde ich den Verstand verlieren.« Khouri hielt inne. »Ihr habt doch Datenbanken und solche Dinge? Warum fragt ihr sie nicht ab?«
»Das werde ich tun, sobald es ruhiger wird.« Scorpio stand auf. »Noch etwas: Doktor Valensin sagte, du hättest ihm gegenüber einen bestimmten Wunsch geäußert?«
»Ja, ich habe mit dem Doc gesprochen?« Sie parodierte mit leisem Singsang seinen Tonfall.
»Ich kann verstehen, warum du das möchtest. Ich respektiere deinen Wunsch. Du hast mein Mitgefühl. Wenn es einen sicheren Weg gäbe…«
Sie schloss die Augen. »Sie ist mein Baby. Man hat sie mir gestohlen. Ich will sie so zur Welt bringen, wie es sich gehört.«
»Es tut mir Leid«, sagte er. »Aber ich kann es einfach nicht erlauben.«
»Jeder Widerspruch ist zwecklos?«
»Ich fürchte, ja.«
Sie sagte nichts mehr, sie drehte ihm nicht einmal den Rücken zu, aber sie zog sich in sich zurück, und er spürte, wie sie eine unsichtbare Barriere um sich errichtete.
Scorpio wandte sich ab und verließ langsam den Raum. Er hatte erwartet, dass seine Entscheidung Tränen auslösen würde oder doch wenigstens einen hysterischen Anfall, einen Schwall von Beleidigungen oder flehentlichen Bitten. Aber sie blieb so stumm und reglos liegen, als hätte sie von vornherein gewusst, dass es so kommen würde. Ihr würdevolles Schweigen verfolgte ihn, er spürte ein Kribbeln im Nacken. Aber das änderte nichts.
Aura war nicht einfach ein Kind. Sie war ein taktischer Vorteil für die Menschheit.