Fünfzehn
Ararat
2675
Blood kam mit vielen aufgerollten Karten unter den Armen in den Konferenzraum geeilt, warf sie auf den Tisch und rollte eine davon aus. Das dicke, cremig weiße Papier legte sich gehorsam flach. Es war so breit wie die Platte und leicht fleckig wie Leder. Auf einen Befehl von ihm schoben sich die topografischen Merkmale reliefartig hervor, Schraffuren deuteten an, wo in diesem Teil von Ararat derzeit Tag oder Nacht war. Längen- und Breitengrade lagen, mit winzigen Ziffern gekennzeichnet, als leuchtendes Gitternetz darüber.
Khouri beugte sich über die Karte und drehte sie ein wenig, dann deutete sie auf eine kleine Inselkette. »Hier in der Nähe muss es sein«, sagte sie, »etwa dreißig Kilometer westlich dieser Meerenge, achthundert Kilometer nördlich von hier.«
»Wird dieses Ding in Realzeit aktualisiert?«, fragte Clavain.
»Die Auffrischung erfolgt durchschnittlich alle zwei Tage«, sagte Scorpio. »Manchmal dauert es auch etwas länger. Das hängt von den Positionen der Satelliten und der Höhenballons sowie von der Wolkendecke ab. Warum?«
»Weil es so aussieht, als wäre etwa an der Stelle tatsächlich etwas.«
»Er hat Recht«, sagte Khouri. »Das muss Skades Schiff sein, nicht wahr?«
Scorpio beugte sich vor und betrachtete das weiße Pünktchen. »Das ist kein Schiff«, sagte er. »Das ist nur eine Eisscholle, ein kleiner Eisberg.«
»Bist du dir sicher?« fragte Clavain.
Blood deutete mit einem Huf auf den Punkt, den Khouri meinte. »Wir sollten uns vergewissern. Karte: zehnfache Vergrößerung.«
Die geografischen Merkmale krochen auf die Ränder zu. Die Eiskruste schwoll auf die Größe eines Fingernagels an. Blood befahl der Karte, einen Kontrastfilter vorzuschalten, aber auch damit war nicht viel mehr zu erkennen, als dass der Eisberg Schmelzwasser ins Meer abgab und nach allen Richtungen dünne weiße Fühler ausstreckte.
»Kein Schiff«, sagte Scorpio.
Clavain war nicht so sicher. »Ana, in Ihrem Bericht bezeichneten Sie das Schiff, mit dem Skade landete, als schwere Korvette, richtig?«
»Ich verstehe nicht viel von Raumschiffen, aber so hatte man es mir gesagt.«
»Sie sprachen von fünfzig Metern Länge. Das entspräche den Ausmaßen einer Korvette der Moray-Klasse. Mir fällt auf, dass der Eisberg etwa die gleiche Größe hat. Auch die Proportionen stimmen – er mag etwas größer sein, aber nicht viel.«
»Vielleicht nur ein Zufall«, meinte Blood. »Sie wissen, dass immer wieder einmal kleine Eisberge in diese Breiten abtreiben. Manchmal kommen sie sogar bis zu uns in den Süden.«
»Aber sonst gibt es im näheren Umkreis keinen einzigen Eisberg«, gab Clavain zu bedenken.
»Trotzdem«, sagte Scorpio. »Wieso sollte in dem Ding ein Schiff stecken? Wie wäre es zu einer Eishülle gekommen? Schiffe werden in der Atmosphäre allenfalls heiß, aber nicht kalt. Und inzwischen müsste das Eis doch längst geschmolzen sein!«
»Das werden wir alles an Ort und Stelle erfahren«, sagte Clavain langsam. »Bleiben wir zunächst bei den praktischen Dingen. Wir wollen nicht, dass Skade erschrickt und kopflos reagiert, deshalb werden wir uns langsam nähern und uns deutlich zu erkennen geben.« Er zeigte auf eine Stelle südlich des Eisbergs. »Ich schlage vor, Antoinette fliegt uns mit einem Shuttle bis hierher. Dann setzen wir zwei oder drei Boote aus und legen den Rest der Strecke auf dem Wasser zurück. Wir nehmen chirurgische Instrumente und Nahkampfwaffen mit, aber von Letzteren nicht zu viele. Sollte es nötig werden, das Schiff zu zerstören, können wir immer noch vom Festland aus einen Luftschlag führen.« Er blickte auf, ohne den Finger von der Karte zu nehmen. »Wenn wir heute Nachmittag aufbrechen, erreichen wir den Eisberg im Morgengrauen. Damit hätten wir einen vollen Tag Zeit, um mit Skade zu verhandeln.«
»Augenblick mal«, wandte Dr. Valensin lächelnd ein. »Bevor wir uns zu sehr hinreißen lassen – wollen Sie behaupten, dass Sie das alles tatsächlich ernst nehmen?«
»Sie etwa nicht?«, fragte Clavain.
»Sie ist meine Patientin«, sagte Valensin mit einem teilnahmsvollen Blick auf Khouri. »Ich verbürge mich dafür, dass sie nicht offenkundig verrückt ist. Sie hat Synthetikerimplantate, und wenn ihr Kind sie ebenfalls hatte, konnten sie miteinander kommunizieren, während sie das Kind noch in sich trug. Remontoire hätte dem Ungeborenen die Implantate mit einem wenn auch unorthodoxen mikrochirurgischen Eingriff per Fernsteuerung einsetzen können. Mit den Möglichkeiten der Synthetikermedizin wäre es sogar denkbar, dass Skade den Fötus aus Khouris Schoß geholt hätte, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Aber alles andere? Finden Sie diese Geschichte von einem Weltraumkrieg vor unserer Haustür nicht doch ziemlich weit hergeholt?«
»Nicht unbedingt«, sagte Clavain.
»Das müssen Sie mir erklären«, sagte Valensin mit einem Hilfe suchenden Blick auf seine Kollegen.
Clavain deutete auf seine Schläfe. »Vergessen Sie nicht, auch ich bin Synthetiker. Und bei der letzten Kontrolle funktionierten die Maschinchen in meinem Kopf noch einwandfrei.«
»Das weiß ich«, sagte Valensin.
»Aber Sie vergessen, wie empfindlich sie sind. Sie haben die Aufgabe, Umgebungsfelder oder Signale, die von Maschinen oder anderen Synthetikern erzeugt werden, zu orten und zu verstärken. Zwei Synthetiker können auch ohne externe Verstärkersysteme über Entfernungen von zehn Metern und mehr hinweg Gedanken austauschen. Die Geräte setzen mithilfe der visuellen Basisgrammatik des Wahrnehmungszentrums die Felder in Muster um, die vom organischen Teil des Gehirns entschlüsselt werden können.«
»Auch das ist mir nicht neu«, sagte Valensin.
»Dann bedenken Sie, was das bedeutet. Angenommen, da draußen wäre tatsächlich ein Krieg im Gange – eine große zirkumsolare Schlacht unter Einsatz aller möglichen Waffen und Verteidigungseinrichtungen. Die elektromagnetischen Nebengeräusche wären viel stärker als die normalen Synthetikersignale. Meine Implantate könnten Botschaften auffangen, die nicht korrekt zu entschlüsseln wären. Sie würden nur halb verständliche Muster in mein biologisches Gehirn einspeisen. Die Hirnrinde würde sich nach Kräften bemühen, Ordnung in das Chaos zu bringen, um schließlich irgendwelche Formen und Gesichter an den Himmel zu werfen.«
»Er sagte mir, er hätte seltsame Dinge gesehen«, bestätigte Scorpio.
»Figuren, Zeichen, Warnungen.« Clavain nickte. »Es fing erst vor zwei bis drei Monaten an. Laut Khouri ist die Flotte vor neun Wochen eingetroffen. Für mich ist das kein Zufall mehr. Ich dachte schon, ich würde wahnsinnig, aber inzwischen sieht es so aus, als hätte ich nur die Ausläufer des Krieges aufgefangen.«
»Ein guter Soldat warst du ja schon immer«, sagte Scorpio.
»Und deshalb nehme ich Khouris Aussage ernst«, schloss Clavain, »obwohl sich ihre Geschichte sehr sonderbar anhört.«
»Auch den Teil mit Skade?«, fragte Valensin.
Clavain kratzte sich den Bart. Er hatte die Augen nahezu geschlossen und schien im Geiste die weite Landschaft des Möglichen zu betrachten. »Gerade den Teil mit Skade«, antwortete er endlich.