Hela

2727

 

 

Rachmika schaute starr geradeaus. Sie hatte den nächsten Wagen fast erreicht. Weit vor ihr kletterten Gestalten in Druckanzügen von einem Laufsteg zum anderen. Kranarme schwenkten Paletten mit schwerem Gerät hin und her. Servomaten glitten unheimlich lautlos dahin wie gut geschmierte Maschinen. Die Karawane, ein einziger riesiger Apparat aus vielen Teilen, bedurfte ständiger Wartung, dachte Rachmika. In dieser Hinsicht war sie wie eine Kathedrale im Kleinformat.

Sie hatte den nächsten Wagen erreicht und befand sich damit wieder auf halbwegs festem Boden. Dieses Gefährt rollte nicht auf Rädern, sondern bewegte sich auf Beinen. Das Metalldach unter ihren Füßen vibrierte also nicht gleichmäßig, sondern erbebte unter langsamen dumpfen Trommelschlägen, wenn die kolbengetriebenen mechanischen Füße in gleichmäßigem Takt auf das Eis stampften. Die Lücke, die sie überquert hatte, wirkte jetzt lächerlich klein, ein paar Meter nur, aber der Rückweg würde sie sicherlich nicht weniger Überwindung kosten.

Sie schaute sich um. Auf diesem Dach war alles anders: Wo es zuvor ausgesehen hatte wie auf einem Schrottplatz, herrschte hier strenge Ordnung. Die wenigen Generatorkästen waren am Rand übereinander gestapelt, und alle Leitungen und Stromkabel hatte man säuberlich gebündelt.

Der Raum in der Mitte wurde fast ganz von einer schiefen Ebene eingenommen, deren Neigung mit hydraulischen Kolben verändert werden konnte. Sie hatte diese Konstruktionen schon vom Eisjammer aus gesehen. Etwas Ähnliches gab es auch in ihrem Dorf, nur waren die Platten dort mit vielen kleinen quadratischen Photovoltaikzellen besetzt, die blau und grün funkelten, wenn das Licht darauf fiel, und gehörten zu einer Notstromanlage, die beim Ausfall der Hauptgeneratoren die Energieversorgung übernehmen sollte. Hier gab es keine Zellen; dafür war die Fläche mit mehreren Reihen schwarzer kreuzförmiger Objekte bedeckt. Rachmika zählte sechs mal sechs Kreuze neben- und übereinander, und jedes hatte etwa die Größe eines Menschen.

Zaghaft trat sie näher. Es waren tatsächlich Menschen. Sie waren mit Handschellen an die schiefe Ebene gekettet, die Fersen ruhten auf schmalen Leisten. Die Kleidung war, soweit sie sehen konnte, bei allen gleich: eine bodenlange Kapuzenkutte aus schokoladenbraunem Stoff, die in der Taille mit einem weißen Strick zusammengehalten wurde. Unter der Kapuze glänzte das gewölbte Helmvisier eines Druckanzugs. Sie sah keine Gesichter, nur das verzerrte Spiegelbild der langsam vorbei kriechenden Landschaft und sich selbst als kleinen Teil davon.

Alle Visiere waren auf Haldora gerichtet. Rachmika sah jetzt, dass die Neigung der Plattform genau richtig war, um den Aufgang des Planeten zu beobachten. Je näher die Karawane dem Ewigen Weg und dem Zug der Kathedralen käme, desto mehr würde die Plattform in die Horizontale abgesenkt. Irgendwann lägen die sechsunddreißig Beobachter flach auf dem Rücken, und der Planet stünde im Zenith.

Es mussten Pilger sein, dachte Rachmika. Die Karawane hatte sie aufgenommen, als sie von der geraden Linie zu den Siedlungen am Äquator abwich. Wie dumm von ihr, nicht daran zu denken, dass auch Pilger mitfahren würden. Durchaus möglich, dass einige davon aus dem Ödland kamen, vielleicht sogar aus ihrem Dorf.

Ob die Gestalten auf der Plattform überhaupt mitbekommen hatten, dass sie da war? Hoffentlich waren sie so auf Haldora fixiert, dass sie ihr keinerlei Beachtung schenkten. Deshalb hingen sie schließlich wie Gekreuzigte da oben an diesem Eisengerüst – um ins Antlitz einer Welt zu starren, der sie Wunderkräfte zuschrieben.

Was Rachmika am meisten beunruhigte, war die Geschwindigkeit, mit der die Pilger zu dieser extremen Form ihres Glaubens gefunden hatten. Wahrscheinlich hatten sie ihre Heimat erst vor wenigen Wochen verlassen. Bis dahin hatten sie notgedrungen wie ganz gewöhnliche Mitglieder in einer weltlichen Gemeinschaft gelebt. Im Ödland konnte jeder glauben, woran er wollte, aber er musste mit seiner Hände Arbeit zum Erhalt der Gemeinde beitragen und konnte sich seiner Religion nicht so ausschließlich widmen wie hier. Sie hatten sich in Familien und Arbeitsgruppen einfügen und über die Scherze ihrer Kollegen lächeln müssen. Hier waren sie nun endlich frei. Vermutlich hatten sie bereits quaichistisches Blut in den Adern.

Rachmika folgte mit den Augen den vielen Windungen der Karawane. Die Plattformen gab es auch auf anderen Dächern. Wenn man davon ausging, dass die Zahl von angeschnallten Beobachtern überall gleich war, so käme man allein in dieser Karawane leicht auf zweihundert Pilger. Und auf Hela waren so viele Karawanen unterwegs. Demnach wurden tausende von Pilgern zum Ewigen Weg befördert, und weitere tausende reisten zu Fuß, mühsam einen Schritt vor den anderen setzend, zum gleichen Ziel.

Sie war empört über diese sinnlose Verschwendung begrenzter Lebenszeit. Ein heiliger Zorn erfasste sie. Am liebsten wäre sie auf die Plattform geklettert, um wenigstens einen der Pilger wegzureißen von dem Anblick, der sie alle so fesselte. Sie wollte ihm die Kapuze herunterziehen und ihr eigenes Gesicht vor das spiegelnde Helmvisier halten, um zu dem Menschen dahinter – diesem erlöschenden Fünkchen menschlicher Individualität – Kontakt aufzunehmen. Sie wollte mit einem Stein auf das Visier einhämmern, bis dieser aberwitzige Glaube in einem Moment der explosiven Dekompression in Stücke gerissen würde.

Zugleich spürte sie, wie verfehlt ihre Wut war. Sie hasste und verabscheute diese Pilger nur deshalb, weil sie befürchtete, dass ihrem Bruder Harbin das gleiche Schicksal widerfahren sein könnte. Sie konnte die Kirchen nicht zerschlagen, deshalb wollte sie sich an den sanftmütigen unschuldigen Menschen abreagieren, die sich zu ihnen hingezogen fühlten. Mit dieser Erkenntnis brach eine neue Welle des Abscheus über sie herein, doch jetzt verabscheute sie sich selbst mit nie gekannter Inbrunst. Der Hass zuckte in ihrem Innern wie eine Kompassnadel auf der Suche nach einer Richtung, in der sie zur Ruhe kommen konnte. Die Leidenschaft ihrer Gefühle erschreckte und faszinierte sie. Das hätte sie sich niemals zugetraut.

Rachmika zwang sich zur Ruhe. Seit sie hier stand, hatten sich die Gestalten auf der Plattform kein einziges Mal geregt. Die dunkelbraunen Kutten über den Druckanzügen schienen in Ehrfurcht erstarrt, die Falten im Stoff waren wie aus Granit gemeißelt. In den Helmvisieren spiegelte sich weiterhin die vorüberziehende Landschaft. Vielleicht war es besser, dass sie die Individuen hinter dem Glas nicht sehen konnte.

Sie wandte sich ab und kehrte langsam zur Brücke zurück.

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