Einunddreißig

Unweit von Ararat

2675

 

 

Scorpio ging durch die Luftschleuse, sobald das Shuttle angedockt hatte und fest mit dem Empfangsdeck verbunden war. Das zweite – wesentlich kleinere und schnittigere – Schiff, das sie begleitet hatte, lag wie ein schwarzer Keil daneben. Er konnte nur seine Silhouette erkennen, es sah aus wie einer jener splitterförmigen Tintenkleckse, die man bisweilen bei psychologischen Tests verwendete. Der Klecks zischte und verbreitete einen scharfen medizinischen Geruch. Er wirkte ganz und gar zweidimensional, als hätte man ihn aus einem dünnen schwarzen Blech herausgestanzt.

So dünn, dass man sich daran schneiden konnte.

Angehörige des Sicherheitsdienstes hatten bereits den Zugang zu beiden Schiffen abgesperrt. Scorpios Shuttle war ihnen bekannt, aber das zweite Schiff erregte ihr Misstrauen. Scorpio nahm an, dass es ebenfalls eine Aufforderung zum Andocken erhalten hatte, aber die Bewacher wollten kein Risiko eingehen. Er schickte die meisten von ihnen weg, nur zwei hielt er für den Fall in Bereitschaft, dass es doch noch zu einer unangenehmen Überraschung käme.

Dann zog er den Ärmel hoch und sprach in seinen Kommunikator. »Antoinette? Bist du da?«

»Ich bin auf dem Weg nach oben, Scorpio. Vielleicht noch eine Minute. Hast du unseren Gast mitgebracht?«

»Ich weiß nicht genau«, sagte er.

Er ging auf das schwarze Schiff zu. Es war nicht viel größer als die Kapsel, mit der Khouri gelandet war. Mehr als eine oder zwei Personen hatten darin kaum Platz. Er klopfte mit dem Huf an die schwarze Oberfläche. Sie fühlte sich so kalt an, dass sich die Haare auf seinem Handrücken sträubten.

In der Mitte der schwarzen Maschine erschien ein rosarotes L, ein Stück Rumpf glitt beiseite, ein halbdunkler Innenraum wurde sichtbar. Ein Mann war dabei, sich aus dem Gefängnis seiner Beschleunigungsliege und den heruntergeklappten Steuerelementen zu befreien. Wie Scorpio vermutet hatte, war es Remontoire. Er sah älter aus, als er ihn in Erinnerung hatte, aber sonst hatte er sich kaum verändert: sehr dünn, sehr groß, sehr kahl, in eng anliegender schwarzer Kleidung, durch die er noch mehr wie eine Spinne aussah. Sein Schädel war ungewöhnlich lang und hatte die Form einer Träne.

Scorpio beugte sich über die Höhlung und half ihm heraus.

»Mr. Pink, nehme ich an«, sagte Remontoire.

Scorpio zögerte einen Moment lang. Der Name war ihm nicht fremd, aber das dazugehörige Ereignis lag Jahrzehnte in der Vergangenheit. Er wühlte in seinem Gedächtnis, bis er den richtigen Faden zu fassen bekam. Damals war er zusammen mit Remontoire inkognito im Rostgürtel und in Chasm City unterwegs gewesen, um die Spur von Clavain zu verfolgen, der kurz zuvor von den Synthetikern abgefallen war. Mr. Pink war der Name, den Scorpio angenommen hatte. Wie hatte Remontoire sich noch genannt? Scorpio überlegte.

»Mr. Clock«, sagte er endlich, bevor die Pause allzu peinlich werden konnte.

Damals hatten sie sich gehasst wie die Pest. Wie sollte es auch anders sein? Remontoire konnte Hyperschweine nicht ausstehen (er hatte nie vergessen, dass er irgendwann einmal von einem Schwein gefoltert worden war), war aber auf Scorpio angewiesen, weil der sich in und um Chasm City so gut auskannte wie kein anderer.

Scorpio mochte ganz allgemein keine Synthetiker (niemand mochte Synthetiker, wenn er nicht selbst einer war), und Remontoire war ihm besonders zuwider. Aber man hatte ihn unter Druck gesetzt und ihm seine Freiheit versprochen, wenn er Remontoire unterstützte. Andernfalls hätte man ihn den Behörden ausgeliefert, und die hatten bereits einen hübschen Schauprozess für ihn geplant, dessen Ausgang von vornherein feststand.

Nein; von Freundschaft konnte damals sicher nicht die Rede sein, aber Clavain hatte beiden so viel Respekt eingeflößt, dass sich der Hass mit der Zeit legte. Und nun freute sich Scorpio aufrichtig über das Wiedersehen. Sein früheres Ich wäre darüber tief bestürzt gewesen.

»Wir sind schon zwei alte Knochen«, sagte Remontoire. Er stand auf, streckte sich und bewegte vorsichtig Arme und Beine, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch richtig in den Gelenken saßen.

»Ich habe leider schlechte Nachrichten«, sagte Scorpio.

»Clavain?«

»Es tut mir Leid.«

»Ich dachte es mir natürlich schon. Sobald ich dich sah, wusste ich, dass er tot sein musste. Wann ist es passiert?«

»Vor ein paar Tagen.«

»Und wie ist er gestorben?«

»Ein grausamer Tod. Aber er starb für Ararat. Und er war bis zum Ende ein Held, Rem.«

Remontoire zog sich zurück in ein Gedankenreich, zu dem nur Synthetiker Zutritt hatten. Er machte die Augen zu, hielt sie etwa zehn Sekunden lang geschlossen und schlug sie wieder auf. Jetzt war er hellwach, und sein Blick war frei von Schmerz und Kummer.

»Ich habe getrauert«, sagte er.

Scorpio hätte niemals an dieser Aussage gezweifelt. Synthetiker gingen so mit ihren Gefühlen um. Wie sehr Remontoire seinen alten Freund und Verbündeten respektierte, ließ sich daran ermessen, dass er eine Trauerphase überhaupt für nötig gehalten hatte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sich in einen Zustand gelassener Resignation zu versetzen. Mit diesem äußeren Zeichen der Trauer hatte er Clavain in aller Demut die letzte Ehre erwiesen. Wenn auch nur zehn bis zwölf Sekunden lang.

»Sind wir in Sicherheit?«, fragte Scorpio.

»Vorerst schon. Eure Flucht war sorgfältig geplant, wir haben massiv unsere Waffen eingesetzt, um die Wölfe abzulenken. Wir rechneten damit, dass sie einen Teil ihrer Ressourcen abzweigen könnten, um euch anzugreifen, aber unsere Hochrechnungen zeigten, dass sie sich in Schach halten ließen, wenn euer Start genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgte.«

»Ihr könnt die Wölfe schlagen?«

»Nein, Scorpio, wir können sie nicht schlagen«, mahnte Remontoire wie ein alter Schulmeister. »Wir können eine kleine Anzahl von Wolfsmaschinen in einem begrenzten Bereich überwältigen, wenn wir unsere Energien bewusst darauf konzentrieren. Wir können sie verletzen, sie zurückdrängen und sie zwingen, sich neu zu formieren. Aber eigentlich ist es nur, als wehrte man sich mit Steinwürfen gegen ein Rudel hungriger wilder Hunde. Gegen größere Gruppierungen können wir noch immer wenig ausrichten. Und auf lange Sicht – auch das sagen unsere Hochrechnungen – werden wir verlieren.«

»Aber bis jetzt habt ihr überlebt.«

»Dank der Waffen und Techniken, die wir von Aura bekommen haben. Jetzt ist der Brunnen fast ausgetrocknet. Und die Wölfe verstehen es bemerkenswert gut, auf jeden Zug von uns eine passende Antwort zu finden.« Jetzt sprach Bewunderung aus Remontoires Blick. »Diese Maschinen sind sehr leistungsfähig.«

Scorpio lachte. Nach allem, was er durchgemacht hatte, prophezeite Remontoire ihm nun das Ende? »Dann sind wir also erledigt?«

»Langfristig sehen die Prognosen, jedenfalls nach den aktuellen Hochrechnungen, nicht gut aus.«

Hinter Remontoire schloss sich das schwarze Schiff und wurde wieder zu einem scharfkantigen Schattenkeil.

»Warum geben wir dann nicht gleich auf?«

»Weil eine – wenn auch geringe – Chance besteht, dass die Hochrechnungen falsch sind.«

»Wir müssen uns ausführlich unterhalten«, schlug Scorpio vor.

»Und ich weiß auch schon wo«, sagte Antoinette, die eben eingetreten war. Sie nickte Remontoire nur kurz zu, als hätten sie sich erst vor ein paar Minuten zum letzten Mal gesehen. »Kommt alle beide mit. Ich denke, es wird euch gefallen.«

Offenbarung
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