Neun
Auf Hela
2615
Als Quaiche zu sich kam, stand er auf dem Kopf. Er bewegte sich nicht. Auch alles andere stand still: das Schiff, die Landschaft, der Himmel. Es war, als hätte man ihn vor Jahrhunderten hierher gestellt und er hätte eben erst die Augen aufgeschlagen.
Aber er war sicher nicht lange bewusstlos gewesen: Dafür erinnerte er sich zu deutlich an den Angriff und den Schwindel erregenden Sturz in die Tiefe. Wobei die Erinnerungen an sich weniger erstaunlich waren als die Tatsache, dass er noch lebte.
Vorsichtig drehte er sich in den Gurten, um den Schaden zu begutachten. Das Schiffchen ächzte. Er neigte den Kopf zur Seite, so weit es ging (immerhin hatte er sich nicht den Hals gebrochen), und sah aus dem Augenwinkel, wie aus einer der Lawinen immer noch Staub und Eis aufstiegen. Alles lag wie unter einem dünnen grauen Schleier. Die Fontänen waren das Einzige, was sich bewegte, und das bestätigte ihm, dass ihm allenfalls ein paar Minuten fehlten. Er sah auch ein Ende der Brücke, die sinnverwirrende Schnörkelkonstruktion, auf der die sanft geschwungene Fahrbahn ruhte. Als seine Raketen vorbeirasten, hatte er schon befürchtet, sie könnten genau das Objekt zerstören, das ihn hierher geführt hatte. Die Brücke wirkte trotz ihrer Größe so zart wie Zellstoffpapier. Aber nichts wies darauf hin, dass er sie beschädigt hatte. Sie war offenbar stabiler, als sie aussah.
Wieder knarrte das Schiff. Quaiche konnte den Boden nicht deutlich erkennen. Die Fähre lag auf dem Dach – aber war sie tatsächlich bis auf den Grund der Ginnungagap-Spalte gestürzt?
Er schaute zur Konsole, aber er sah sie nur verschwommen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er alles nur verschwommen sah. Wenn er das linke Auge schloss, wurde es etwas besser. Vielleicht hatte sich durch die Beschleunigung eine Retina abgelöst, überlegte er. Reparable Schäden dieser Art hätte die Tochter in Kauf genommen, um ihn lebend nach Hause zu bringen.
Er ließ das linke Auge geschlossen und begutachtete die Konsole nur mit dem rechten. Viele rote Anzeigen, die in lateinischer Schrift Systemausfälle meldeten – aber auch viele Stellen, die eigentlich leuchten sollten und dunkel blieben. Die Tochter hatte schwere Schäden zu verzeichnen: Nicht nur die Mechanik, sondern auch der cybernetische Kern der Avionik war betroffen. Das Schiff lag im Koma.
Er versuchte zu sprechen. »Übernehme Kommando. Neustart.«
Nichts passierte. Die Stimmerkennung mochte unter den ausgefallenen Funktionen sein. Oder die Fähre wollte gar nicht mehr aufwachen.
Um ganz sicherzugehen, unternahm er noch einen Versuch. »Übernehme Kommando. Neustart.«
Aber es geschah immer noch nichts. Ermittlungen in dieser Richtung einstellen, dachte er.
Er drehte den Arm hin und her, bis er mit der Hand eines der taktilen Steuerungselemente zu fassen bekam. Er hatte Schmerzen, wenn er sich bewegte, aber es war eher ein diffuses Pochen wie von einer schweren Prellung als ein akutes Reißen wie bei einem Knochenbruch oder einem ausgerenkten Gelenk. Er konnte sogar die Lage seiner Beine verändern, ohne dass es allzu unangenehm wurde. Das Stechen im Brustbereich wies auf Verletzungen der Rippen hin, aber er konnte halbwegs normal atmen, und sonst waren Brust und Unterleib beschwerdefrei. Wenn er mit ein paar angebrochenen Rippen und einer Netzhautablösung davongekommen war, konnte er von Glück reden.
»Du warst schon immer ein verdammter Glückspilz«, sagte er zu sich, während er die vielen Knöpfe und Höcker der taktilen Steuerung abtastete. Für jeden akustischen Befehl gab es eine manuelle Entsprechung; man musste nur die richtigen Bewegungsfolgen kennen.
Jetzt hatte er es. Die Finger hierhin, den Daumen dahin. Drücken. Noch einmal drücken.
Das Schiff hustete. Wo eben noch nichts gewesen war, flackerte kurz eine rote Schrift auf.
Jetzt tat sich etwas. Das alte Mädchen hatte doch noch Leben in sich. Er versuchte es noch einmal. Die Räubertochter versuchte keuchend und summend einen Neustart. Wieder flackerten rote Lichter auf, erloschen wieder.
»Komm schon«, knirschte Quaiche.
Der dritte Versuch. Ob die drei ihm Glück brachte? Das Schiff prustete und schüttelte sich. Die rote Schrift leuchtete auf, erlosch, kehrte zurück. Andere Teile des Displays veränderten sich: Das Schiff erwachte aus dem Koma und überprüfte seine Funktionen.
»Brav«, lobte Quaiche, als das Schiffchen mühsam seinen Rumpf wiederherstellte – wahrscheinlich keine bewusste Umgestaltung, nur eine automatische Rückkehr zum vorgegebenen Profil. Dabei schüttelte die Räubertochter mit hörbarem Prasseln Steine und Geröll ab und neigte sich um mehrere Grad zur Seite, sodass auch Quaiches Blickfeld kippte.
»Vorsichtig…«, warnte er.
Zu spät. Sie hatte das Übergewicht bekommen und kippte von dem Sims, auf dem sie zunächst gelandet war. Für einen Moment sah Quaiche den Talgrund noch gut hundert Meter unter sich, dann kam er ihm rasend schnell entgegen.
Subjektiv dauerte der Sturz eine Ewigkeit.
Dann kam der Aufprall, eine ganze Serie von Schlägen. Es war, als hätte ihn ein riesiges Tier im Maul und schmettere ihn immer wieder gegen den Boden, um ihn zu zerbrechen oder zu töten. Aber das Bewusstsein verlor er diesmal nicht.
Er stöhnte. Diesmal kam er wahrscheinlich nicht mehr so glimpflich davon. Auf seiner Brust lastete ein Druck, als hätte jemand einen Amboss darauf abgestellt. Vermutlich waren die Rippen nun vollends gebrochen. Wenn er sich bewegen musste, würde das höllisch wehtun. Aber noch war er am Leben. Und diesmal stand die Räubertochter aufrecht. Die Brücke präsentierte sich wie ein Bild in einer Fremdenverkehrswerbung. Es war, als wollte das Schicksal Salz in seine Wunden reiben, indem es ihn daran erinnerte, weshalb er überhaupt in diesen Schlamassel geraten war.
Die meisten roten Anzeigen auf der Konsole waren wieder erloschen. Sein eigenes benommenes Gesicht spiegelte sich vor den Schriftfragmenten. Wangenknochen und Augenhöhlen warfen schwarze Schatten. Ein solches Gesicht hatte er schon einmal gesehen: das Antlitz eines Heiligen, eingebrannt in ein Leichentuch. Eine grobe Skizze, mit kräftigen Kohlestrichen aufs Papier geworfen.
Das Indoktrinationsvirus in seinem Blut erwachte.
»Neustart«, befahl er und spuckte mehrere Zahnsplitter aus.
Das Schiff reagierte nicht. Quaiche tastete nach der taktilen Steuerung und wiederholte die Befehlssequenz. Nichts geschah. Er versuchte es noch einmal. Es war seine einzige Chance. Ohne komplette Diagnoseverbindung hatte er keine andere Möglichkeit, das Schiff aufzuwecken.
Die Konsole flackerte. Das war ein Lebenszeichen; noch war nicht alles verloren. Er wiederholte den Weckbefehl mehrere Male. Anfangs schalteten sich weitere Systeme zu, doch als nach acht oder neun Versuchen keine Fortschritte mehr zu verzeichnen waren, gab er auf. Er befürchtete, die letzten Energiereserven der Avionik zu verbrauchen oder die Systeme, die bereits aufgewacht waren, zu sehr zu belasten. Er musste sich eben mit dem begnügen, was er hatte.
Er schloss das linke Auge und las die roten Warnungen: Schon ein flüchtiger Blick sagte ihm, dass die Räubertochter so schnell nirgendwo mehr hinfliegen würde. Der Angriff hatte wichtige Flugsysteme zerstört, und durch den Aufprall gegen die Wand und den langen Sturz in die Schlucht waren die Hilfssysteme zerschmettert worden. Sein Juwel, sein kostbares Privatraumschiff war ruiniert. Ob die Selbstreparatursysteme es wieder hinbekämen, war zu bezweifeln, selbst wenn er monatelang Zeit hätte, darauf zu warten. Vermutlich musste er dankbar sein, dass ihn die Tochter am Leben erhalten hatte. So betrachtet, hatte sie ihn nicht im Stich gelassen.
Wieder wandte er sich den Anzeigen zu. Der automatische Notruf hatte sich eingeschaltet. Die Reichweite war durch die Eiswände zu beiden Seiten deutlich eingeschränkt, aber nach oben wurde das Signal durch nichts behindert – außer natürlich durch den Gasriesen, der ihn von Morwenna trennte. Wie lange noch, bis sie von Haldoras Sonnenseite wieder auftauchte?
Er sah auf das einzige noch funktionierende Chronometer. In vier Stunden sollte die Dominatrix hinter Haldora hervorkommen.
Vier Stunden. Das war nicht schlecht. So lange konnte er durchhalten. Die Dominatrix würde den Notruf auffangen, sobald sie Haldoras Schatten verließ, und könnte binnen einer Stunde bei ihm sein. Normalerweise hätte er es nicht riskiert, das Shuttle an einen potenziell gefährlichen Ort zu rufen, aber er hatte keine Wahl. Außerdem bezweifelte er, dass die Sprengfallen noch eine Gefahr darstellten: Zwei von drei Wachposten hatte er zerstört, und dem dritten war offenbar die Energie ausgegangen; sonst hätte er doch längst noch einmal geschossen.
Vier Stunden plus eine weitere, bis das Shuttle hier war. In insgesamt fünf Stunden wäre er in Sicherheit. Lieber wäre er zwar sofort aus dieser Lage befreit worden, aber er hatte keinen Anlass, sich zu beklagen. Immerhin hatte er Morwenna zugemutet, sechs Stunden ohne Kontakt zu ihm zu überstehen. Warum hatte er eigentlich keine Relaissatelliten aussetzen wollen? Jetzt musste er zugeben, dass es ihm dabei weniger um Morwennas Sicherheit gegangen war als darum, keine Zeit zu verlieren. Geschah ihm ganz recht. Am besten ertrug er es wie ein Mann.
Fünf Stunden. Das war gar nichts. Eine Kleinigkeit.
Sein Blick streifte eine der anderen Anzeigen. Er blinzelte, traute seinen Augen nicht, riss auch das linke weit auf. Aber er hatte sich nicht geirrt.
Der Rumpf hatte ein Leck. Es musste winzig sein: ein Haarriss. Normalerweise wäre es abgedichtet worden, ohne dass er davon erfahren hätte, aber das Schiff war so schwer beschädigt, dass die normalen Reparatursysteme außer Funktion waren. Langsam – so langsam, dass er noch gar nichts davon spürte – entwich die Luft. Die Tochter gab sich alle Mühe, die Bestände mit ihren Druckluftreserven konstant zu halten, aber das war nur begrenzt möglich.
Quaiche rechnete nach. Die Vorräte reichten noch zwei Stunden.
Er würde es nicht schaffen.
Er überlegte ernsthaft, ob es einen Unterschied machte, wenn er in Panik geriet. Es war ihm wichtig. Er saß nicht nur in einem geschlossenen Raum mit einer begrenzten Menge Sauerstoff, die er langsam verbrauchte und durch ausgeatmetes Kohlendioxid ersetzte. Die Luft entwich auch noch durch einen Riss im Rumpf, und dieses Leck konnte er mit seiner Atemfrequenz nicht beeinflussen. Selbst wenn er in den nächsten zwei Stunden nur ein einziges Mal Luft holte, wäre für den nächsten Atemzug nichts mehr übrig. Nicht der Sauerstoffverbrauch war sein Problem, sondern die undichte Stelle. In zwei Stunden würde er hartes Vakuum von einer Qualität einsaugen, für die manche Leute gutes Geld bezahlten. Angeblich war es in den ersten Sekunden ziemlich schmerzhaft. Aber er würde ja allmählich hinübergleiten und schon lange vorher bewusstlos, wenn nicht sogar tot sein. Irgendwann in den nächsten neunzig Minuten.
Trotzdem wäre es wahrscheinlich nicht schlecht, nicht durchzudrehen. Je nachdem, wie das Leck beschaffen war, könnte er damit sogar etwas gewinnen. Wenn die Luft erst auf dem Weg durch das Wiederaufbereitungssystem verloren ging, wäre es sicherlich von Vorteil, sie möglichst langsam zu verbrauchen. Solange er nicht wusste, wo der Riss war, konnte er ruhig davon ausgehen, dass die Panik sich auf seine Lebenserwartung auswirkte. Die zwei Stunden könnten sich auf drei… und mit viel Glück auch auf vier Stunden strecken lassen, wenn er einen leichten Hirnschaden in Kauf nahm. Und aus vier Stunden könnten am Ende sogar fünf werden.
Warum machte er sich etwas vor? Ihm blieben zwei Stunden. Zweieinhalb im günstigsten Fall. Du kannst durchdrehen, so viel du willst, sagte er sich. Es macht nicht den geringsten Unterschied.
Das Virus witterte seine Angst, stürzte sich darauf und verschlang sie. Bisher hatte es vor sich hin geköchelt, doch während er noch mit der Panik kämpfte, wallte es auf und ertränkte jeden vernünftigen Gedanken.
»Nein«, sagte Quaiche. »Ich kann dich jetzt nicht gebrauchen.«
Wieso eigentlich nicht? Was nützte ihm seine Vernunft, wenn er doch nicht mehr zu retten war? Das Virus gäbe ihm wenigstens die Illusion, in Gegenwart eines höheren Wesens zu sterben, das ihn liebte und über ihn wachte, während er immer schwächer wurde.
Dem Virus war es egal. Es würde ihn mit Gottesgegenwart überfluten, ob er wollte oder nicht. Außer seinen Atemzügen und dem Prasseln der Eisbrocken, die er beim Sturz von den Wänden der Spalte gerissen hatte und die immer noch auf die Fähre herabregneten, war nichts zu hören. Außer der Brücke war nichts zu sehen. Doch nun drangen ferne Orgelklänge durch die Stille. Noch waren sie leise, aber sie kamen näher, sie würden anschwellen, und wenn sie den Höhepunkt erreichten, würden sie seine Seele mit Ehrfurcht und Glückseligkeit erfüllen. Die Brücke hatte sich kaum verändert, doch nun entstanden dahinter am schwarzen Himmel prachtvolle Glasbilder. Quadrate, Rechtecke und Rauten aus pastellfarbenem Licht strahlten durch die Dunkelheit wie Fenster in eine größere, glorreichere Welt.
»Nein«, sagte Quaiche, aber diesmal ohne Überzeugung.
Eine Stunde verging. Systeme versagten den Dienst. Immer mehr rote Anzeigen auf der Konsole erloschen. Was jetzt ausfiel, konnte Quaiches Überlebenschancen nicht mehr verschlechtern. Das Schiff würde ihn nicht von seinem Leid erlösen, indem es explodierte, auch wenn das ein schneller, schmerzloser Tod gewesen wäre. Nein, dachte Quaiche: Die Räubertochter würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn bis zum letzten mühsamen Atemzug am Leben zu erhalten. Ein sinnloses Unterfangen, aber das konnte die Maschine nicht begreifen. Sie sendete auch immer noch das Notsignal aus, obwohl er schon zwei bis drei Stunden tot sein würde, wenn die Dominatrix es endlich empfangen konnte.
Er lachte: Galgenhumor. Er hatte die Tochter immer für eine überaus intelligente Maschine gehalten. Verglichen mit den meisten Raumschiffen – auf jeden Fall mit jedem Schiff, das nicht mindestens von einer Gamma-Persönlichkeit gesteuert wurde – war sie das wohl auch tatsächlich. Aber wenn es um die elementaren Dinge ging, war sie doch etwas unterbelichtet.
»Nicht böse sein, Schiff«, entschuldigte er sich. Dann lachte er wieder. Doch diesmal ging das Lachen in krampfhaftes Schluchzen über.
Das Virus war keine Hilfe. Er hatte sich mehr erwartet, aber die Gefühle, die es erzeugte, waren zu oberflächlich. So dringend er ihren Beistand gebraucht hätte, sie waren nur papierdünne Fassaden. Das Virus reizte zwar die Teile seines Gehirns, die für religiöse Erlebnisse zuständig waren, doch es konnte andere Bereiche, die solche Erlebnisse als künstlich erkannten, nicht einfach abschalten. Er spürte die Präsenz Gottes und erkannte zugleich mit unerbittlicher Klarheit, dass es sich dabei nur um eine neuroanatomische Reaktion handelte. Die Orgelmusik, die Kirchenfenster am Himmel, das Gefühl der Nähe zu einem allumfassenden, zeitlosen Wesen von unerschöpflichem Mitgefühl – das alles war nicht real, sondern durch neuronale Verbindungen, Aktionspotenziale und synaptische Lücken zu erklären.
In höchster Not, gerade als er ihren Trost am dringendsten gebraucht hätte, ließ ihn die Religion im Stich. Er war nur ein gottloser Mensch mit einem verpfuschten Virus im Blut, ein Mensch, dem Luft und Zeit unter den Fingern zerrannen, auf einer Welt mit einem Namen, den er ihr gegeben hatte und der nun bald wieder vergessen sein würde.
»Verzeih mir, Mor«, sagte er. »Ich hab’s vermasselt. Verdammt, ich hab’s gründlich vermasselt.«
Er sah sie in Gedanken vor sich, so fern, so unerreichbar… Und da fiel ihm der Glasbläser wieder ein.
Er hatte lange nicht mehr an den Mann gedacht, aber er hatte sich auch lange nicht mehr so einsam gefühlt. Wie hieß er doch noch? Richtig, Trollhattan. Quaiche hatte ihn auf Pygmalion kennen gelernt, einem der Monde von Parsifal im System Tau Ceti, in einem der dortigen Einkaufszentren mit Mikroschwerkraft.
Es war bei einer Glasbläservorführung gewesen. Trollhattan, ein Handwerker, der bei Schwerelosigkeit arbeitete, war ein ehemaliger Raumpirat. Seine Gliedmaßen waren einsteckbare Prothesen, und seine Haut sah aus wie gegerbtes Elefantenleder mit tiefen Löchern, wo durch Strahlungseinwirkung entstandene Melanome unsachgemäß entfernt worden waren. Trollhattan hatte fantastische Glasgebilde gefertigt: spinnwebfeine, raumfüllende Kunstwerke, die manchmal selbst für die geringe Schwerkraft eines großen Mondes zu zart waren. Keines glich dem anderen. Da gab es dreidimensionale Modelle des Sonnensystems, so dünn, dass einem vom Hinsehen die Augen wehtaten. Tausende von Glasvögeln, durch winzige Punkte an den Flügelspitzen verbunden. Schwärme von Fischen, jeder Einzelne in schwachen Gelb- und Blautönen schillernd, mit rosarot geränderten Flossen, die herzzerreißend schön im Licht funkelten. Heerscharen von Engeln, Flotten von Galeeren aus der Zeit der großen Kampfsegler oder fantasievolle Rekonstruktionen gewaltiger Raumschlachten. Manche der Schöpfungen wagte man kaum anzusehen, um nicht allein durch die Beobachtung das Spiel von Licht und Schatten zu beeinflussen und womöglich einen unsichtbaren Riss so zu vergrößern, dass das ganze Gebilde auseinander fiel. Einmal war ein Trollhattan-Kunstwerk, als man es öffentlich enthüllte, tatsächlich zu Scherben zersprungen, die nicht größer waren als ein Käfer. Und niemand hatte je erfahren, ob das womöglich gar beabsichtigt gewesen war.
Wie jedermann wusste, war der Besitz eines Trollhattan-Werks ein teures Vergnügen. Schon der Kaufpreis war nicht gerade niedrig, aber die Beförderungskosten waren einfach aberwitzig. Allein der Transport von Pygmalion zu einem Ziel im Tau Ceti-System konnte einen kleineren Demarchistenstaat in den Bankrott stürzen. Mit intelligentem Verpackungsmaterial ließen sich die Stücke so weit abpolstern, dass sie mäßige Beschleunigungen aushielten, aber jeder Versuch, einen echten Trollhattan in ein anderes Sonnensystem zu bringen, hatte bisher noch in einem Haufen Glasscherben geendet. So befanden sich alle noch heilen Werke nach wie vor im Tau-Ceti-System. Ganze Familien waren nach Parsifal gezogen, nur um sich einen eigenen Trollhattan kaufen und ihn zur Schau stellen zu können.
Es gab Geschichten von einer automatischen Raumbarke, die mit hunderten von den Dingern an Bord bei wenigen Prozent Lichtgeschwindigkeit durch den interstellaren Raum krieche (zu welchem System, hing jeweils vom Erzähler ab). Die Lieferung sei Jahrzehnte zuvor in Auftrag gegeben worden. Und wer raffiniert genug wäre, diese Raumbarke abzufangen und auszuplündern – ohne die Kunstwerke zu zerbrechen –, könnte damit geradezu unanständig reich werden. In einer Zeit, in der man praktisch alles zu lächerlich geringen Kosten herstellen konnte, sofern es einen Bauplan dafür gab, gehörten handgefertigte Kunstwerke mit wasserdichtem Stammbaum zu den wenigen noch verbliebenen »Wertgegenständen«.
Quaiche wäre während seines Aufenthalts auf Parsifal gern in den Trollhattan-Markt eingestiegen. Er hatte sogar schon einen Handwerker gefunden, der behauptete, mit Miniatur-Servomaten aus einem riesigen Glasblock hochwertige Fälschungen herstellen zu können. Quaiche hatte die Probestücke gesehen: Sie waren gut, aber nicht gut genug. Ein echter Trollhattan besaß prismatische Eigenschaften, an die im ganzen Universum nichts heranreichte. Es war wie der Unterschied zwischen Eis und Diamant. Doch letztlich war das Geschäft am Stammbaum gescheitert. Wenn sich nicht jemand fand, der Trollhattan um die Ecke brachte, bestand keine Aussicht, dass der Markt die Fälschungen schluckte.
Als Quaiche die Vorführung sah, hatte er sich schon seit einiger Zeit wie eine Klette an Trollhattan gehängt, um etwas zu finden, womit man den Glasbläser unter Druck setzen und zu Verhandlungen bewegen könnte. Wenn Trollhattan sich bereit fände, ein Auge zuzudrücken, sobald die Fälschungen auf den Markt kämen – er bräuchte nur zu sagen, er wüsste zwar nicht, ob sie von ihm stammten, aber auch nicht, dass sie nicht von ihm stammten –, könnte aus der Sache doch noch etwas werden.
Aber er war an Trollhattan nicht herangekommen. Der Mann redete kein Wort, und er verkehrte nicht in den üblichen Künstlerkreisen.
Er blies nur Glas.
Quaiche war enttäuscht gewesen, doch obwohl seine Begeisterung bereits abkühlte, war er geblieben, um sich einen Teil der Vorführung anzusehen. Und als er begriff, worum es hier tatsächlich ging, war sein nüchternes, rein kommerzielles Interesse an Trollhattans Kunst rasch in tiefe Ehrfurcht umgeschlagen.
Trollhattan hatte keine seiner raumfüllenden Kreationen geschaffen, sondern nur ein kleineres Werk. Als Quaiche eintraf, schwebte bereits eine Pflanze frei im Raum, wundervoll geformt, mit durchsichtigem Stängel, grünen Blättern und vielen hellroten hornförmigen Blüten. Neben einer der Blüten entstand soeben ein hauchfeines flimmerndes blaues Ding. Quaiche begriff nicht sofort, was es war, doch dann zog Trollhattan einen geschwungenen Schnabel zur Blüte hin, und Quaiche erkannte den Kolibri. Der bernsteingelbe Bogen lief eine Fingerbreite vor der Blüte in einer Spitze aus, und Quaiche dachte schon, damit wäre das Werk vollendet. Vogel und Pflanze schwebten unverbunden nebeneinander. Doch dann fiel das Licht in einem etwas anderen Winkel darauf, und zwischen der Schnabelspitze und der Narbe der Blüte erglänzte ein hauchfeiner Faden aus gesponnenem Glas, ein Goldfäserchen wie der letzte Streifen Tageslicht bei einem planetaren Sonnenuntergang. Es war, in Glas geblasen, die Zunge des Kolibris.
Der Wechsel im Licht war wohl kein Zufall gewesen, denn alle Zuschauer entdeckten die Zunge im gleichen Augenblick. Trollhattans Gesicht zeigte selbst in den Partien, die theoretisch noch Gefühle hätten spiegeln können, nicht die leiseste Regung.
In diesem Moment hatte Quaiche den Glasbläser gehasst. Er verurteilte die Eitelkeit des Genies und hielt diese demonstrative Ungerührtheit für ebenso verächtlich wie offen zur Schau getragenen Stolz. Doch zugleich war er voller Bewunderung für das Werk, dessen Entstehung er soeben miterlebt hatte. Wäre es nicht erstrebenswert, dachte er, ein wenig von dieser Magie ins Alltagsleben zu übertragen? Trollhattans Zuschauer lebten in einer Zeit voller Wunder. Dennoch war der kurze Blick auf die Zunge des Kolibris für sie alle sicherlich die seit langem größte Überraschung, das faszinierendste Erlebnis gewesen.
Auf jeden Fall galt das für Quaiche. Er hätte niemals erwartet, dass ein Glasfaden ihn im Innersten seiner Seele berühren könnte.
Jetzt fiel ihm die Kolibrizunge wieder ein. Immer wenn er Morwenna verlassen musste, hatte er sich seither vorgestellt, er wäre durch einen dehnbaren Faden aus geschmolzenem Glas, golden getönt und ausgezogen, bis er so dünn war wie die Zunge des Kolibris, mit ihr verbunden. Wenn die Entfernung größer wurde, so wurde die Zunge im gleichen Maße länger und zerbrechlicher. Aber solange er dieses Bild festhalten, solange er sich einreden konnte, mit ihr verbunden zu sein, war er nicht völlig verlassen. Durch das Glas konnte er sie noch spüren, ihre Atemzüge brachten den Faden zum Erzittern.
Doch jetzt erschien ihm der Faden so dünn und schwach wie noch nie, und er nahm ihren Atem nicht mehr wahr.
Er sah auf das Chronometer: Eine weitere halbe Stunde war vergangen. Nach optimistischer Schätzung reichte die Luft noch für dreißig bis vierzig Minuten. Sie kam ihm bereits jetzt dünner und verbrauchter vor, aber vielleicht bildete er sich das nur ein?