Im Orbit um Hela

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Scorpio schob eine schwere Metalljalousie zurück, ein winziges ovales Bullauge kam zum Vorschein. Das dicke Glas war verschmiert und zerkratzt und so braun wie verbrannter Zucker. Er stieß sich ab und trat zurück.

»Einer nach dem anderen«, sagte er.

Sie befanden sich in einem schwerelosen Bereich der Unendlichkeit. Wenn man die Triebwerke sehen wollte, solange sich das Schiff im Orbit befand, war dies die einzige Möglichkeit. Die rotierenden Abschnitte mit künstlicher Schwerkraft befanden sich zu tief im Schiffsinneren, um eine Beobachtung zu gestatten. Hätte man dagegen die Triebwerke auf das gewohnte 1 Ge Schub hochgefahren – um so auf andere Weise im ganzen Schiff die Illusion von Schwerkraft zu erzeugen –, dann wäre der Orbit um Hela nicht zu halten gewesen.

»Wir würden sie gerne zünden sehen, wenn das möglich ist«, sagte Bruder Seyfarth.

»Das ist im Orbit eigentlich nicht üblich«, sagte Scorpio.

»Nur einen Moment«, bat Seyfarth. »Sie brauchen ja nicht auf volle Leistung zu gehen.«

»Ich dachte, Sie interessieren sich für die automatischen Rumpfgeschütze.«

»Das auch.«

Scorpio sprach in seinen Armbandkommunikator. »Ich brauche einen kurzen Schubstoß, der durch die Steuerdüsen ausgeglichen wird. Ich möchte nicht den leisesten Ruck spüren – das Schiff bewegt sich keinen Zentimeter.«

Der Befehl wurde prompt ausgeführt. Theoretisch musste ihn einer seiner Leute an das Kontrollsystem des Schiffes weiterleiten, und Captain Brannigan konnte dann danach handeln oder auch nicht. Aber Scorpio vermutete, dass der Captain die Triebwerke schon gezündet hatte, bevor das Kommando eingegeben worden war.

Das große Schiff ächzte, die Triebwerke leuchteten auf. Durch das dunkle Glas des Bullauges erschienen die Abgase als weiß-violetter Strich – sie waren überhaupt nur sichtbar, weil die Sehnsucht nach Unendlichkeit ihre Tarneinrichtungen beim Anflug auf das System abgeschaltet hatte. Am anderen Ende glichen Batterien von konventionellen Fusionsraketen den Schub der Haupttriebwerke aus. Der alte Rumpf knarrte und ächzte wie ein riesiges Lebewesen, doch er absorbierte die gewaltigen Druckkräfte. Scorpio wusste, dass das Schiff sehr viel mehr aushalten konnte, dennoch war er froh, als die Flamme erlosch. Er spürte einen winzigen Stoß, ein Zeichen für eine kleine Asynchronie zwischen dem Abschalten der Fusionsraketen und der Triebwerke, doch dann regte sich nichts mehr. Die saurierhaften Proteste des überlasteten Schiffsmaterials verklangen wie Donner in der Ferne.

»Genügt Ihnen das, Bruder Seyfarth?«

»Ich denke schon«, sagte der Anführer. »Die Triebwerke scheinen in einwandfreiem Zustand zu sein. Sie würden nicht glauben, wie schwierig es ist, gut gewartete Synthetikertriebwerke zu finden, seit ihre Hersteller nicht mehr unter uns weilen.«

»Wir tun unser Bestes«, sagte Scorpio. »Aber Ihr wahres Interesse gilt natürlich den Waffen, nicht wahr? Soll ich sie Ihnen noch rasch zeigen? Ich denke, dann lassen wir es für heute genug sein. Für eine genauere Untersuchung ist später noch Zeit genug.« Er hatte keine Lust mehr, Konversation zu machen und zwanzig ungebetene Gäste in seinem Reich herumzuführen.

»Eigentlich«, sagte Bruder Seyfarth, als sie wieder in einem der rotierenden Abschnitte waren, »interessieren wir uns für die Triebwerke mehr, als wir zugeben wollten.«

Scorpio juckte es plötzlich im Nacken. »Tatsächlich?«

»Ja«, sagte Seyfarth und nickte den neunzehn anderen zu.

Mit einer einzigen, glänzend choreografierten Bewegung griffen die zwanzig Delegierten an bestimmte Teile ihrer Anzüge. Die Rüstungen lösten sich wie Schorf, unregelmäßige Hartschalenteile flogen davon, als hätten sie auf Sprungfedern gesessen, und landeten klappernd kreuz und quer übereinander zu ihren Füßen. Unter den Anzügen trugen sie, wie Scorpio bereits auf den Scans gesehen hatte, nur dünne Overalls.

Er wusste noch immer nicht, was er übersehen hatte. Noch immer waren keine Waffen zum Vorschein gekommen: weder Pistolen noch Messer.

»Bruder«, sagte er, »Sie sollten sich das sehr gründlich überlegen.«

»Das habe ich bereits getan«, antwortete Seyfarth. Er und die anderen Delegierten knieten nieder und durchwühlten – ohne ihre Handschuhe abzulegen – rasch und gezielt den Haufen abgeworfener Rüstungsteile.

Als Seyfarth die Faust hob, hielt er einen scharfkantigen, aerodynamisch geformten Gegenstand zwischen den Fingern – eine Anzugscherbe, gefährlich scharf, mit gekrümmter Schneide. Seyfarth ging auf ein Knie und machte eine kurze Bewegung aus dem Handgelenk. Das Projektil flog, um seine Längsachse rotierend, auf Scorpio zu. Er hörte es kommen: chop, chop, chop sauste es durch die Luft. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, aber der dehnte sich subjektiv zu einer Ewigkeit. Ein Stimmchen klagte – ohne jeden Vorwurf –, es seien immer nur die Anzüge gewesen. Er sei so davon besessen gewesen, durch sie hindurchzuschauen, so überzeugt, dass sich darunter etwas verbergen müsse, dass ihm die Anzüge selbst entgangen seien.

Die Anzüge waren die Waffen.

Das Geschoss traf seine Schulter, er wurde brutal gegen die glatten Rippen der Korridorwand geschleudert. Der Wurfspeer durchdrang Leder und Fleisch und nagelte ihn fest. Er schlug unter Schmerzen um sich, aber die Scherbe steckte tief in der Wand.

Seyfarth stand auf. Nun hielt er in jeder Hand eine Klinge. Die Bruchstücke waren nicht zufällig entstanden: Dafür waren die Linien zu glatt, zu funktionell. Die Rüstungen hatten Sollbruchstellen, die auf ein Ängström genau eingeätzt worden waren.

»Ich hatte leider keine andere Wahl«, sagte er.

»Sie sind ein toter Mann.«

»Und du wärst ein totes Schwein, wenn ich dich töten wollte.« Scorpio wusste, dass Seyfarth die Wahrheit sprach: Die Lässigkeit, mit der er die Waffe geworfen hatte, war das Ergebnis langer Übung. Ebenso mühelos hätte er Scorpio den Kopf abtrennen können. »Aber ich habe dich verschont. Und ich werde auch deine Besatzung verschonen, wenn sie mit uns kooperiert.«

»Wir werden nicht kooperieren. Und Sie werden mit Ihren Messern nicht weit kommen, auch wenn Sie sich für sehr schlau halten.«

»Es sind nicht nur Messer«, sagte Seyfarth.

Hinter ihm hatten sich zwei andere Delegierte erhoben. Sie hielten ein Gerät zwischen sich, das aus Teilen ihrer Lufttanks zusammengebaut war. Der eine richtete einen offenen Schlauch auf Scorpio.

»Zeigt es ihm«, sagte Seyfarth, »damit er sieht, was ihm bevorsteht.«

Aus dem Schlauchende fuhr brüllend ein fünf bis sechs Meter langer Feuerstrahl. Die Flammenzunge strich wie eine Sichel über die Korridorwand und ließ auf der Oberfläche Blasen entstehen. Wieder ächzte das Schiff. Die Flammen erloschen, nur Gas entwich noch mit leisem Zischen aus der Düse.

»Das kommt etwas überraschend«, sagte Scorpio.

»Tut, was man euch sagt, und niemandem geschieht etwas«, sagte Seyfarth. Die Delegierten hinter ihm sahen sich um: Auch sie hatten das Ächzen gehört. Vielleicht dachten sie, wenn das Schiff nach einer Triebwerkszündung wieder zur Ruhe komme, knarre es wie ein altes Haus nach Sonnenuntergang.

Die Zeit dehnte sich. Scorpio war seltsam ruhig. Vielleicht, dachte er, wurde man so, wenn man alt wurde. »Sie wollen mir mein Schiff abnehmen?«, fragte er.

»Nicht abnehmen«, versicherte ihm Seyfarth mit Nachdruck. »Nur für eine Weile ausborgen. Wenn wir damit fertig sind, bekommt ihr es zurück.«

»Ich fürchte, Sie haben sich das falsche Schiff ausgesucht«, sagte Scorpio.

»Ganz im Gegenteil«, widersprach Seyfarth. »Ich denke, es ist genau richtig. Du bist jetzt ein braves Schwein und bleibst schön hier, dann trennen wir uns in aller Freundschaft.«

»Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, Sie könnten mit nur zwanzig Mann mein ganzes Schiff einnehmen?«

»Nein«, sagte Seyfarth. »So dumm bin ich nun tatsächlich nicht.«

Scorpio suchte sich frei zu machen. Er konnte den Arm nicht weit genug bewegen, um den Kommunikator zum Mund zu heben. Er hing an der Wand fest, und bei jeder Bewegung war es, als würden in seiner Schulter unzählige Glasscherben umgedreht. Es war die Schulter mit dem Brandmal, das er sich selbst beigebracht hatte.

Seyfarth schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, du sollst ein braves Schwein sein!« Er kniete nieder, wählte eine neue Waffe aus dem Haufen, diesmal eine Art Dolch, und ging damit langsam auf Scorpio zu. »Eigentlich war ich noch nie ein besonderer Schweinefreund.«

»Ganz meinerseits.«

»Du bist schon ziemlich alt, nicht wahr? Wie alt genau? Vierzig, fünfzig Jahre?«

»Jung genug, um dir den Tag zu verderben, Freundchen.«

»Das werden wir ja sehen.«

Seyfarth stieß Scorpio den Dolch etwa an der gleichen Stelle durch die zweite Schulter und nagelte ihn auch dort an die Wand. Scorpio entfuhr ein Schmerzensschrei: ein schrilles Quieken, das nichts Menschliches an sich hatte.

»Ich will nicht behaupten, ein Experte in Schweineanatomie zu sein«, sagte Seyfarth. »Wenn du Glück hast, habe ich nichts Lebenswichtiges getroffen. Aber ich würde an deiner Stelle doch lieber auf Nummer Sicher gehen und nicht allzu viel herumzappeln.«

Scorpio machte eine Bewegung, gab aber auf, weil ihm der Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Hinter Seyfarth hatten zwei weitere Delegierte einen Flammenwerfer gebaut und gaben eine Probesalve ab. Dann teilte sich der Trupp, alle verschwanden in den Tiefen des Schiffes. Scorpio blieb allein zurück.

Offenbarung
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