Achtunddreißig

Hela

2727

 

 

Rachmika war auf dem Weg zum Glockenturm, als Grelier aus dem Schatten zwischen zwei Pfeilern trat. Wie lange mochte er wohl schon dort gestanden und darauf gelauert haben, dass sie genau diesen Weg von ihrer Unterkunft wählte?

»Generalmedikus«, sagte sie.

»Ich hätte ein Wörtchen mit Ihnen zu reden, wenn es Ihre Zeit erlaubt.«

»Ich bin auf dem Weg zum Turmzimmer. Der Dekan will mit einer neuen Ultra-Delegation verhandeln.«

»Es wird nicht lange dauern. Ich weiß ja, wie unentbehrlich Sie für ihn geworden sind.«

Rachmika zuckte die Achseln. Grelier würde sie nicht freigeben, bevor er mit ihr fertig war. »Worum geht es?«, fragte sie.

»Nichts weiter«, sagte er. »Nur eine kleine Auffälligkeit in Ihrem Blut, über die ich mit Ihnen sprechen wollte.«

»Lassen Sie sich nicht abhalten«, sagte sie.

»Nicht hier, wenn ich bitten darf. Feind hört mit, Sie verstehen?«

Sie sah sich um. Niemand war zu sehen. Eigentlich ließ sich so gut wie nie jemand blicken, wenn der Generalmedikus in der Nähe war. Potenzielle Zeugen lösten sich einfach in Luft auf, besonders wenn er mit seinem Medizinkoffer und seinem Arsenal von gefüllten Injektionsspritzen die Runde machte. Heute hatte er nur seinen Krückstock bei sich und klopfte sich mit dem Knauf beim Sprechen von unten gegen das Kinn.

»Ich dachte, es dauert nur einen Moment«, sagte Rachmika.

»Richtig, und es ist auch kein Umweg für Sie. Wir machen nur einen kurzen Abstecher ins Blutzoll-Offizium, dann können Sie wieder Ihren Pflichten nachgehen.«

Er geleitete sie zum nächsten Fahrstuhl in den Glockenturm und schob die Gittertür zu. Der Korb setzte sich in Bewegung. Es war ein heller Tag. Das Licht, das durch die Glasfenster fiel, zeichnete bunte Muster auf sein Gesicht.

»Gefällt Ihnen die Arbeit hier, Miss Els?«

»Es ist Arbeit«, sagte sie.

»Das klingt nicht gerade begeistert. Ich muss schon sagen, ich bin erstaunt. Wenn man bedenkt, wo Sie hätten landen können – die Gefahren in einem Räumtrupp –, sind Sie doch wahrhaftig auf die Füße gefallen.«

Was sollte sie darauf sagen? Dass sie Stimmen hörte, die sie zu Tode erschreckten?

Nein. Das war nun wirklich nicht nötig. Sie hatte genug rationale Ängste, auf die sie sich berufen konnte, ohne die Schatten zu beschwören.

»Wir sind fünfundsiebzig Kilometer von der Absolutionsschlucht entfernt, Generalmedikus«, sagte sie. »In weniger als drei Tagen wird diese Kathedrale über die Brücke fahren.« Sie äffte seinen Tonfall nach. »Ich muss schon sagen, es gibt Orte, an denen ich lieber wäre.«

»Das beunruhigt Sie, nicht wahr?«

»Erzählen Sie mir nicht, Sie wären begeistert von dem Plan.«

»Der Dekan weiß, was er tut.«

»Meinen Sie?«

Grüne und rosarote Lichter huschten über sein Gesicht. »Gewiss«, sagte er.

»Das glauben Sie doch selbst nicht«, erwiderte sie. »Sie fürchten sich ebenso sehr wie ich. Sie sind ein vernünftiger Mensch, Generalmedikus. Sein Blut fließt nicht in Ihren Adern. Sie wissen, dass man mit dieser Kathedrale nicht über die Brücke fahren kann.«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, sagte er. Ihre Aufmerksamkeit machte ihn verlegen, er gab sich so große Mühe, seine Mimik zu beherrschen, dass ein Muskel in seiner Schläfe zu zucken begann.

»Er hat einen Todeswunsch«, sagte Rachmika. »Er weiß, dass Haldoras Auslöschungen einem Höhepunkt zusteuern, und möchte den Anlass mit einem großen Knall würdigen. Was wäre dazu besser geeignet, als die Kathedrale in der Tiefe zerschellen zu lassen und selbst zum Märtyrer zu werden? Noch ist er nur Dekan, wer weiß, ob er nicht danach strebt, ein Heiliger zu werden?«

»Sie haben etwas vergessen«, sagte Grelier. »Er denkt über diese Überquerung hinaus. Er bemüht sich um ein langfristiges Schutzbündnis mit den Ultras. Das passt nicht zu einem Menschen, der in drei Tagen Selbstmord begehen will. Was gibt es sonst für eine Erklärung?«

Wenn sie sich nicht sehr irrte, glaubte Grelier, was er sagte. Sie fragte sich allmählich, inwieweit der Generalmedikus tatsächlich über Quaiches Pläne informiert war.

»Ich habe auf dem Weg hierher etwas Merkwürdiges gesehen«, sagte Rachmika.

Grelier strich sich das Haar glatt. Die sonst so makellos ordentlichen weißen Stoppeln waren zerzaust. Er zeigte Wirkung, dachte Rachmika. Er hatte nicht weniger Angst als alle anderen, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen durfte.

»Etwas gesehen?«, wiederholte er.

»Gegen Ende der Karawanenfahrt«, sagte sie, »nachdem wir die Brücke überquert hatten, kamen wir auf dem Weg zu den Kathedralen an einer riesigen Maschinenflotte vorbei, die nordwärts fuhr – Geräte für Erdarbeiten, wie man sie verwendet, um die größeren Flitzerflöze frei zu legen. Was immer sie wollten, sie hatten ein Ziel.«

Grelier kniff die Augen zusammen. »Daran ist nichts Besonderes. Sie hatten sicher den Auftrag, irgendwelche Schäden am Ewigen Weg zu beheben, bevor die Kathedralen kamen.«

»Dazu fuhren sie in die falsche Richtung«, sagte Rachmika. »Und außerdem wollte der Quästor nicht darüber sprechen. Als hätte er Anweisung bekommen, ihre Existenz zu leugnen.«

»Was hat das mit dem Dekan zu tun?«

»Eine Aktion dieser Größenordnung könnte doch nicht ohne sein Wissen stattfinden«, sagte Rachmika. »Wahrscheinlich hat er sogar die Genehmigung dazu gegeben. Was glauben Sie, worum es geht? Eine neue Flitzergrabung, die nicht bekannt werden soll? Hat man etwas gefunden, das man den gewöhnlichen Bergleuten in den Siedlungen nicht überlassen kann?«

»Ich habe keine Ahnung.« Das Zucken des Schläfenmuskels hatte sich festgesetzt. »Ich habe keine Ahnung, und es ist mir auch egal. Ich bin für den Blutzoll und für die Gesundheit des Dekans verantwortlich. Das ist alles, und damit habe ich genug zu tun. Ich kann mich nicht auch noch um interökumenische Verschwörungen kümmern.« Der Fahrstuhl kam zitternd zum Stehen. Grelier zuckte sichtlich erleichtert die Achseln. »Da sind wir, Miss Els. Und jetzt bin ich an der Reihe, die Fragen zu stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Sie sagten, es dauert nur einen kleinen Moment.«

Er lächelte. »Nun, das könnte ein kleiner Schwindel gewesen sein.«

Im Offizium bat er sie, Platz zu nehmen, zeigte ihr die Ergebnisse ihrer Blutanalyse und erklärte, er hätte sie mit einer anderen Blutprobe verglichen, über deren Herkunft er sich nicht weiter äußerte.

»Mein Interesse galt Ihrer Begabung.« Grelier stützte das Kinn auf den Knauf seines Krückstocks. Seine Augen musterten sie zwischen schweren Lidern und dicken Tränensäcken. »Ich wollte wissen, ob es eine genetische Komponente gäbe. Verständlich, nicht wahr? Immerhin bin ich Wissenschaftler.«

»Wenn Sie meinen«, antwortete Rachmika.

»Das Problem war, dass ich gegen eine Mauer stieß, bevor ich überhaupt nach Besonderheiten suchen konnte.« Grelier klopfte zärtlich auf seinen Medizinkoffer, der auf einer Bank stand. »Blut ist meine Leidenschaft«, sagte er. »Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Genetik, Klonen, was immer Sie wollen – letztlich läuft alles auf das gute alte Blut hinaus. Ich träume sogar davon. Blutbäche, reißende Blutströme. Ich bin da wahrhaftig nicht zimperlich.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Die Sache ist die, ich habe den Ehrgeiz, alles über Blut zu wissen. Wer mir über den Weg läuft, wird früher oder später angezapft. Die Archive der Morwenna ergeben ein umfassendes Bild der genetischen Entwicklung dieser Welt im vergangenen Jahrhundert. Sie wären überrascht, wie markant diese Entwicklung ist, Rachmika. Die Besiedlung von Hela vollzog sich nicht schrittweise im Lauf von Jahrhunderten. Fast jeder, der heute auf dieser Welt lebt, ist ein Nachkomme der Kolonisten, die mit einer Hand voll Schiffe bis zurück zur Gnostische Himmelfahrt hierher kamen. Alle diese Schiffe kamen von verschiedenen Ursprungswelten, und jede dieser Welten hat ein charakteristisches genetisches Profil. Wer heute neu dazukommt – Pilger, Flüchtlinge, Glücksritter –, kann am Genpool nicht mehr viel ändern. Aber natürlich wird auch ihnen bei der Ankunft Blut abgenommen, und die Proben werden katalogisiert.« Er holte ein Röhrchen aus dem Koffer, schüttelte es und begutachtete die schäumende himbeerrote Flüssigkeit. »Das bedeutet, dass ich – es sei denn, Sie wären eben auf Hela eingetroffen – sehr präzise vorhersagen kann, wie Ihr Blut aussehen muss. Die Genauigkeit ist noch größer, wenn ich weiß, wo Sie leben, und die Kreuzungen mit berücksichtigen kann. Tatsächlich ist die Vigrid-Region eines meiner besonderen Spezialgebiete. Ich habe sie eingehend studiert.« Er klopfte mit dem Röhrchen an das Display mit den Werten der bisher nicht identifizierten Blutprobe. »Klassisches Vigrid. Unmöglich mit dem Blut von irgendeinem anderen Ort auf Hela zu verwechseln. Er ist so typisch, dass es fast schon unheimlich ist.«

Rachmika schluckte, dann sagte sie: »Das Blut ist von Harbin, nicht wahr?«

»So ist es in den Archiven verzeichnet.«

»Wo ist er? Was ist mit ihm passiert?«

»Dieser Mann?« Grelier tat so, als lese er das Kleingedruckte am unteren Rand seines Displays. »Wie es aussieht, ist er tot. Bei Räumungsarbeiten ums Leben gekommen. Wieso? Sie wollten doch nicht etwa behaupten, er wäre Ihr Bruder gewesen?«

Noch spürte sie nichts. Es war, als führe man über den Rand einer Klippe, und es ginge einen Moment lang noch ganz normal weiter, obwohl man bereits keinen Boden mehr unter den Füßen hatte.

»Sie wissen, dass er mein Bruder war«, sagte sie. »Sie haben uns zusammen gesehen. Sie waren dabei, als Harbin sich in der Kathedrale vorstellte.«

»Ich war dabei, als jemand sich in der Kathedrale vorstellte«, verbesserte Grelier. »Aber dieser Jemand kann nicht Ihr Bruder gewesen sein.«

»Das ist nicht wahr.«

»Im streng genetischen Sinne ist es leider die Wahrheit.« Er wies mit einem Nicken auf das Display, als wollte er sie auffordern, ihre Schlüsse selbst zu ziehen. »Sie sind mit ihm nicht enger verwandt als mit mir. Er war nicht Ihr Bruder, Rachmika. Sie waren niemals seine Schwester.«

»Dann hat man einen von uns beiden adoptiert«, sagte sie.

»Komisch, dass Sie das sagen, denn auf die Idee bin ich auch schon gekommen. Und dann fiel mir ein, dass es vielleicht eine Möglichkeit gäbe, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Ich müsste selbst ins Ödland fahren und mich ein wenig umsehen. Und genau das habe ich vor. Es wird mich nicht länger als einen Tag von hier fern halten. Soll ich jemandem dort etwas von Ihnen bestellen?«

»Tun Sie ihnen nicht weh«, bat sie. »Tun Sie, was Sie wollen, aber tun Sie ihnen nicht weh.«

»Davon war nie die Rede. Aber Sie kennen ja die Gemeinden dort oben. Sehr antikirchlich eingestellt. Sehr verschlossen. Sehr misstrauisch, wenn sie den Eindruck haben, die Kirchen könnten sich einmischen.«

»Wenn Sie meinen Eltern etwas antun«, sagte sie, »werde ich mich rächen.«

Grelier legte das Röhrchen in den Koffer zurück und klappte den Deckel zu. »Das werden Sie schön bleiben lassen. Sie brauchen mich nämlich. Der Dekan ist ein gefährlicher Mann, und seine Verhandlungen sind ihm sehr wichtig. Wenn er auch nur den leisesten Verdacht hegte, Sie könnten nicht die sein, als die Sie sich ausgeben, oder Sie hätten seine Gespräche mit den Ultras in irgendeiner Weise gefährdet… ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie er darauf reagieren könnte.« Er hielt inne und seufzte, als hätten sie einfach einen schlechten Start gehabt, aber wenn er noch einmal zum Anfang des Gesprächs zurückginge, würde alles gut. »Sehen Sie, das Problem besteht nicht nur für Sie, sondern auch für mich. Ich traue Ihnen ganz und gar nicht. Ihr Blut sieht verdächtig fremd aus, so als hätten Sie keine Vorfahren auf Hela. Dafür könnte es eine harmlose Erklärung geben, aber solange ich nicht mehr weiß, muss ich das Schlimmste annehmen.«

»Und das wäre?«

»Dass Sie ganz und gar nicht sind, wer oder was Sie zu sein behaupten.«

»Und warum ist das ein Problem für Sie, Generalmedikus?« Sie weinte jetzt. Die Erkenntnis, dass Harbin tot war, hatte sie so schwer getroffen, wie sie es immer erwartet hatte.

»Weil ich Sie zu ihm gebracht habe«, fauchte er. »Weil es meine geniale Idee war, Sie mit dem Dekan zusammenzubringen. Jetzt frage ich mich, was, zum Teufel, ich uns da ins Haus geholt habe. Wenn er jemals davon erfährt, werde ich vermutlich ebenso viel Ärger bekommen wie Sie.«

»Ihnen wird er nichts tun«, sagte Rachmika. »Er braucht Sie doch, wer soll ihn sonst am Leben erhalten?«

Grelier stand auf. »Hoffen wir, dass Sie Recht haben. Vor ein paar Minuten wollten Sie mich noch davon überzeugen, dass er einen Todeswunsch hat. Und jetzt wischen Sie sich die Tränen ab.«

 

Rachmika fuhr allein durch das Buntglaslicht mit dem Fahrstuhl nach oben. Sie weinte, und je mehr sie sich bemühte, damit aufzuhören, desto reichlicher flossen die Tränen. Sie suchte sich einzureden, sie sei so aufgewühlt, weil sie soeben von Harbins Tod erfahren hätte. Tränen wären eine anständige, menschliche, schwesterliche Reaktion gewesen. Aber insgeheim wusste sie, dass es weniger um ihren Bruder ging als um sie selbst. Sie spürte, wie Schichten ihres Ichs sich lösten, abfielen wie trockener Schorf und wie darunter die blutige Wahrheit zum Vorschein kam, was sie war und immer gewesen war. Die Schatten hatten Recht gehabt: Daran zweifelte sie nicht mehr. Auch Grelier hätte keinen Grund gehabt, sie wegen ihres Blutes zu belügen. Die Entdeckung hatte ihn ebenso erschüttert wie sie selbst.

Harbin tat ihr Leid. Aber noch viel mehr bedauerte sie Rachmika Els.

Was hatte das alles zu bedeuten? Die Schatten hatten von Maschinen in ihrem Kopf gesprochen; Grelier hielt es sogar für unwahrscheinlich, dass sie auf Hela geboren war. Aber ihre Erinnerungen sagten, sie sei das Kind einer Familie im Ödland von Vigrid, die Schwester eines Jungen mit Namen Harbin. Sie nahm sich ihre Vergangenheit vor und begutachtete sie mit dem Raubvogelblick eines Experten, der eine Fälschung argwöhnte. Sie inspizierte jedes Detail und suchte nach einem Riss, einer schwachen Trennlinie, wo etwas anderes darüber gekleistert worden war. Doch ihre jüngsten Erinnerungen verschmolzen nahtlos mit den früheren. Alles, woran sie sich erinnerte, hatte die unverwechselbare Struktur gelebter Erfahrungen. Sie sah es nicht nur mit dem geistigen Auge: Sie hörte, roch und spürte es, es hatte die schmerzhafte, greifbare Unmittelbarkeit von Realität.

Bis sie weit genug zurückging. Neun Jahre, hatten die Schatten gesagt. Und nun schwand die Gewissheit. Sie hatte Erinnerungen an ihre ersten acht Jahre auf Hela, aber die wirkten zusammenhanglos: eine Reihe von anonymen Schnappschüssen. Es mochten ihre Erinnerungen sein; doch ebenso gut könnten sie jemand anderem gehören.

Aber vielleicht, dachte Rachmika, erlebte man die Kindheit aus der Erwachsenenperspektive immer so: eine Hand voll vergilbter Augenblicke, dünn und durchsichtig wie Buntglasfenster.

Rachmika Els. Vielleicht war das nicht einmal ihr richtiger Name.

 

Der Dekan wartete in seinem Turmzimmer mit der nächsten Ultra-Delegation. Eine Sonnenbrille verdeckte den Lidspreizer. Als Rachmika eintrat, war die Luft so eigenartig unbewegt, als hätte seit etlichen Minuten niemand mehr gesprochen. Sie beobachtete, wie die Scherben ihrer selbst durch das Labyrinth von Spiegeln schlichen, und bemühte sich, ihre Gesichtszüge zu ordnen und alle Spuren des verwirrenden Gesprächs mit dem Generalmedikus zu tilgen.

»Sie kommen spät, Miss Els«, bemerkte der Dekan.

»Ich wurde aufgehalten«, erklärte sie und hörte selbst, wie ihre Stimme zitterte. Grelier hatte ihr ausdrücklich verboten, ihren Besuch im Offizium zu erwähnen, aber irgendeine Entschuldigung musste sie wohl vorbringen.

»Setzen Sie sich. Trinken Sie einen Schluck Tee. Ich plaudere gerade mit Mr. Malinin und Miss Khouri.«

Sie wusste nicht, wo sie die Namen gehört hatte, aber sie waren ihr nicht fremd. Auch als sie die beiden Besucher ansah, überfiel sie dieses Kribbeln des Wiedererkennens. Sie sahen nicht wie Ultras aus, dafür waren sie zu normal. Sie hatten keine sichtbaren Prothesen, nichts fehlte, nichts war aufgerüstet, nichts wies auf genetische Veränderungen oder chimärische Fusionen hin. Der Mann war groß, schlank und dunkelhaarig und etwa zehn Jahre älter als sie selbst. Er sah nicht schlecht aus, war sich dessen aber etwas zu sehr bewusst. Er trug eine steife rote Uniform, hielt sich sehr gerade und hatte die Hände auf dem Rücken. Als sie sich an den kleinen Tisch setzte und sich Tee einschenkte, beobachtete er sie mit auffallendem Interesse. Bisher war sie für die Ultras nur Teil des Mobiliars gewesen. Bei diesem Malinin spürte sie Neugier. Auch die andere Besucherin – Khouri – musterte sie forschend. Khouri war eine zierliche ältere Frau mit traurigen Augen in einem traurigen Gesicht. Sie sah aus, als hätte man ihr zu viel genommen und zu wenig zurückgegeben.

Rachmika glaubte, alle beide schon einmal gesehen zu haben. Besonders die Frau.

»Könnten Sie uns bekannt machen?«, bat der Mann und nickte zu Rachmika hin.

»Das ist meine Beraterin Rachmika Els«, sagte der Dekan. Sein Ton ließ erkennen, dass er nicht vorhätte, sich dazu ausführlicher zu äußern. »Und jetzt, Mr. Malinin…«

»Wollen Sie nicht auch uns vorstellen?«, mahnte der Besucher.

Der Dekan justierte einen seiner Spiegel. »Vasko Malinin und Ana Khouri«, sagte er mit den entsprechenden Handbewegungen. »Die menschlichen Vertreter der Sehnsucht nach Unendlichkeit, eines Ultraschiffs, das vor kurzem in unserem System eingetroffen ist.«

Wieder sah der Mann Rachmika an. »Bisher war keine Rede davon, dass die Verhandlungen in Anwesenheit von Beratern stattfinden sollten.«

»Haben Sie dagegen etwas einzuwenden, Mr. Malinin? In diesem Fall würde ich Miss Els bitten, wieder zu gehen.«

»Nein«, sagte der Ultra nach kurzem Überlegen. »Es spielt keine Rolle.«

Der Dekan bat seine Besucher, sich zu setzen. Sie nahmen ebenfalls an dem Tischchen Platz. Rachmika schenkte ihnen Tee ein.

»Was hat Sie in unser System geführt?«, fragte der Dekan den Ultra.

»Das Übliche. Wir haben den Bauch voller Flüchtlinge aus den inneren Systemen. Viele wollten ausdrücklich hierher gebracht werden, bevor die Haldora-Auslöschungen ihren Höhepunkt erreichen. Die Motive kümmern uns nicht, solange sie bezahlen. Die anderen wollen weiter hinaus, so weit wie möglich weg von den Wölfen. Wir selbst haben natürlich bestimmte technische Bedürfnisse. Aber wir haben nicht vor, sehr lange zu bleiben.«

»An Flitzerfossilien interessiert?«

»Wir sind aus einem anderen Grund hier«, sagte der Mann und strich eine Falte an seiner Uniform glatt. »Wir interessieren uns für Haldora.«

Quaiche hob die Hand und nahm die Sonnenbrille ab. »Tun wir das nicht alle?«

»Nicht im religiösen Sinn«, antwortete der Ultra. Der Anblick von Quaiches künstlich offen gehaltenen Augenlidern schien ihn nicht weiter zu berühren. »Wir haben nicht die Absicht, irgendwelche Glaubensvorstellungen zu erschüttern. Allerdings wurde das Haldora-Phänomen seit der Entdeckung dieses Systems so gut wie nie wissenschaftlich erforscht. Die Bereitschaft dazu wäre durchaus vorhanden gewesen, aber die hiesigen Behörden – die adventistische Kirche eingeschlossen – wollten keine Untersuchung vor Ort gestatten.«

»Den Schiffen im parkenden Schwarm steht es frei, die Auslöschungen mit ihren Sensoren zu studieren«, sagte Quaiche. »Und viele haben es auch bereits getan und anschließend ihre Erkenntnisse an andere wissenschaftlich Interessierte weitergegeben.«

»Richtig«, sagte der Ultra, »aber solche Fernbeobachtungen werden außerhalb dieses Systems nicht sehr ernst genommen. Wirklich wichtig wäre eine eingehende Untersuchung mit physikalischen Sonden – Instrumentenpaketen, die auf den Planeten abgeschossen werden, und so weiter.«

»Das hieße Gott ins Gesicht spucken.«

»Wieso? Ein echtes Wunder sollte einer Untersuchung standhalten. Was haben Sie zu befürchten?«

»Gottes Zorn.«

Der Ultra schaute auf seine Hände nieder. Rachmika sah seine Anspannung ganz deutlich. Bisher hatte er einmal gelogen, als er nämlich behauptete, sein Schiff sei voller Flüchtlinge, die sehen wollten, wie Haldora verschwand. Für diese Behauptung mochte es eine ganze Schar von harmlosen Gründen geben. Ansonsten hatte er, soweit sie es beurteilen konnte, die Wahrheit gesagt. Rachmika warf einen Blick auf die Frau, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte, und wieder durchfuhr es sie wie ein Schlag. Ihre Blicke begegneten sich, und die Frau hielt ihre Augen so lange fest, dass sie verlegen wurde. Irgendwann schoss Rachmika das Blut in die Wangen, und sie schlug die Augen nieder.

»Die Auslöschungen streben einem Höhepunkt zu«, sagte der Ultra. »Das ist unbestritten. Aber das heißt, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, um Haldora so zu studieren, wie es jetzt ist.«

»Ich kann das nicht gestatten.«

»Aber es wäre doch nicht das erste Mal?«

Quaiche wandte sich dem Ultra zu, sein Lidspreizer blitzte auf. »Wie bitte?«

»Haldora wurde schon einmal direkt sondiert«, sagte der Ultra. »Wir haben erfahren, dass man sich auf Hela von einer nicht registrierten Auslöschung erzählt, die vor etwa zwanzig Jahren stattfand. Die Episode dauerte länger als die anderen, aber die Aufzeichnungen wurden später aus den kirchlichen Archiven entfernt.«

»Die Leute spinnen um alles und jedes ihre Gerüchte«, greinte Quaiche.

»Angeblich dauerte das Ereignis deshalb so lange, weil während einer normalen Auslöschung ein Instrumentenpaket auf Haldoras Oberfläche abgeschossen und dadurch das Wiedererscheinen des normalen dreidimensionalen Planetenbilds verzögert wurde. Vielleicht wurde das System zu sehr belastet. Überladen.«

»Was für ein System?«

»Der Mechanismus«, sagte der Ultra. »Der unbekannte Projektor, der uns ein Bild des Gasriesen zeigt.«

»Dieser Projektor, mein Freund, ist Gott.«

»Das ist eine mögliche Deutung.« Der Ultra seufzte. »Hören Sie, ich habe nicht die Absicht, Sie zu provozieren, ich möchte Ihnen nur ehrlich unsere Position darlegen. Wir glauben, dass bereits einmal ein Instrumentenpaket auf Haldoras Oberfläche abgeschossen wurde und dass dies wahrscheinlich mit dem Segen der Adventisten geschah.« Rachmika musste an die krakeligen Zeichen denken, die Pietr ihr gezeigt hatte, und an die Behauptungen der Schatten. Dann stimmte es also: Es gab diese fehlende Auslöschung tatsächlich, und bei dieser Gelegenheit hatten die Schatten ihren körperlosen Abgesandten – ihren Unterhändler – in den Ehernen Panzer eingeschleust. In den gleichen Panzer, den sie selbst aus der Kathedrale retten sollte, bevor er auf dem Boden der Ginnungagap-Spalte zerschellte.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und wandte sich wieder dem Ultra zu. Hatte sie womöglich schon etwas Wichtiges verpasst? »Wir sind überzeugt, dass ein zweiter Versuch keinen Schaden anrichten kann«, sagte er gerade. »Wir wollen nur Ihre Erlaubnis, das Experiment zu wiederholen, das ist alles.«

»Ein Experiment, das niemals stattgefunden hat«, sagte Quaiche.

»In diesem Fall wären wir eben die Vorreiter.« Der Ultra beugte sich vor. »Sie suchen Schutz. Von uns bekommen Sie ihn kostenlos. Wir fordern keine Handelsprivilegien. Sie können mit anderen Ultra-Parteien auch weiterhin Ihre Geschäfte machen. Als Gegenleistung verlangen wir nur die Erlaubnis, auf Haldora eine kleine Studie durchzuführen.«

Der Ultra lehnte sich zurück, warf einen Blick auf Rachmika und schaute dann aus einem der Fenster. Die Streckenführung des Weges war vom Turmzimmer aus auf zwanzig Kilometer gut zu übersehen. Sehr bald schon würden die geologischen Übergänge in Sicht kommen, die charakteristisch waren für die Anfahrt zur Spalte. Die Brücke konnte nicht mehr weit hinter dem Horizont sein.

Keine drei Tage mehr, dachte Rachmika. Dann wären sie an der Schlucht. Aber auch dann wäre nicht mit einem schnellen Ende zu rechnen. Bei dem Schneckentempo, in dem sich die Kathedrale bewegte, dauerte die Überquerung anderthalb Tage.

»Ich suche tatsächlich jemanden, der mir Schutz gibt«, sagte Quaiche nach langem Schweigen. »Und deshalb bin ich zu gewissen Zugeständnissen bereit. Sie scheinen ein gutes Schiff zu haben. Schwer bewaffnet und mit einem soliden Antriebssystem. Sie würden sich wundern, wie schwierig es ist, ein Schiff zu finden, das meinen Anforderungen entspricht. Die meisten haben sich mit letzter Kraft hierher geschleppt. Sie sind als Leibwächter nicht geeignet.«

»Unser Schiff hat gewisse Eigenheiten«, sagte der Ultra, »aber es ist solide, das ist richtig. Und ich glaube nicht, dass es im parkenden Schwarm ein Schiff gibt, das besser bewaffnet wäre.«

»Dieses Experiment«, sagte Quaiche. »Ginge es wirklich nur darum, ein Instrumentenpaket abzuwerfen?«

»Eins oder zwei. Nichts Ausgefallenes.«

»Synchron mit einer Auslöschung?«

»Nicht unbedingt. Wir können auch zu anderen Zeiten vieles in Erfahrung bringen. Sollte Haldora natürlich gerade zeitgleich verschwinden… wir werden auf jeden Fall eine automatische Drohne in Funkreichweite absetzen.«

»Das alles gefällt mir gar nicht«, jammerte Quaiche. »Aber das Wort ›Schutz‹ hört sich gut an. Ich nehme an, Sie haben sich auch meine anderen Bedingungen angesehen?«

»Wir finden sie durchaus annehmbar.«

»Sie sind damit einverstanden, dass wir eine kleine Adventisten-Delegation auf Ihrem Schiff stationieren?«

»Dafür sehen wir eigentlich keinen Anlass.«

»Es ist aber notwendig. Sie kennen die politischen Verhältnisse in diesem System nicht. Das soll kein Vorwurf sein. Sie sind erst ein paar Wochen hier, wie könnte ich das von Ihnen erwarten? Aber wie sollen Sie zwischen einer echten Bedrohung und einer versehentlichen Grenzverletzung unterscheiden? Ich kann nicht zulassen, dass Sie auf alles schießen, was sich zu nahe an Hela heranwagt. Das wäre ganz und gar nicht in meinem Sinne.«

»Und solche Entscheidungen sollen Ihre Delegierten fällen?«

»Sie wären als Berater tätig«, sagte Quaiche. »Nicht mehr. Sie bräuchten sich nicht um jedes Schiff zu kümmern, das Hela zu nahe kommt, und ich könnte mich darauf verlassen, dass Ihre Waffen bereit wären, wenn ich sie bräuchte.«

»Wie viele Delegierte?«

»Dreißig«, sagte Quaiche.

»Zu viele. Über zehn, vielleicht zwölf ließe sich reden.«

»Sagen wir zwanzig, das ist mein letztes Wort.«

Der Ultra sah wieder Rachmika an, als suchte er ihren Rat. »Ich muss das erst mit meiner Besatzung abklären«, sagte er.

»Aber Sie sind nicht grundsätzlich dagegen?«

»Es gefällt uns nicht«, sagte Malinin. Er stand auf und zog sich seine Uniform glatt. »Aber wenn davon Ihre Zustimmung abhängt, bleibt uns möglicherweise nichts anderes übrig, als zu akzeptieren.«

Quaiche nickte nachdrücklich, und die Spiegel reagierten mit einer Welle von Bewegungen. »Das freut mich sehr«, sagte er. »Schon als Sie durch diese Tür traten, Mr. Malinin, wusste ich, dass Sie ein Mann sind, mit dem man Geschäfte machen kann.«

Offenbarung
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