Sehnsucht nach Unendlichkeit,
parkender Schwarm, 107 Piscium
2727
Scorpio kam zu sich und spürte, dass er diesmal noch länger geschlafen hatte. Heftiger chemischer Protest durchflutete sein System, seine Zellen ließen sich nur widerwillig bewegen, die Schinderei des Stoffwechsels wieder aufzunehmen. Lustlos wie verärgerte Arbeiter griffen sie zu ihren Werkzeugen, scheinbar fest entschlossen, sie bei der leisesten Provokation endgültig aus der Hand zu legen. Sie waren in diesem einen Leben mehr als genug schikaniert worden. Willkommen im Club, dachte Scorpio. Das Management war auch nicht gerade glücklich über die Situation.
Behutsam tastete er sich zu seinen Erinnerungen vor. Die Episode im Yellowstone-System war noch sehr präsent. Er hatte gesehen, was die Wölfe angerichtet hatten – Yellowstone und seine Habitats ein Trümmermeer, das ganze System ausgebrannt. Auch den Streit um die Flüchtlinge hatte er nicht vergessen. Er hatte den Kampf gewonnen – man hatte das Shuttle an Bord gelassen –, aber den Krieg hatte er offenbar verloren. Man hatte ihn vor die Wahl gestellt: Entweder gab er das Kommando ab und begnügte sich mit der Rolle des passiven Beobachters, oder er legte sich wieder in den Tank. Im Grunde war das Ergebnis in beiden Fällen das gleiche: Er verschwand von der Bildfläche und überließ Vasko und seinen Verbündeten die Leitung des Schiffes. Aber wenn er im Kälteschlaf lag, brauchte er zumindest nicht daneben zu stehen und zuzusehen. Es war nur eine kleine Entschädigung, aber in dieser Phase seines Lebens war man auch für Kleinigkeiten dankbar.
Und jetzt wurde er endlich wieder geweckt. Sein Ansehen mochte noch ebenso geschädigt sein wie vor der Versetzung in den Kälteschlaf, aber wenigstens konnte er jetzt so etwas wie eine Landschaft genießen.
»Und?«, fragte er, während Valensin die üblichen Tests durchführte. »Wieder einmal von der Schippe gesprungen?«
»Ihre Überlebenschancen waren immer ausgeglichen, Scorpio, aber das macht Sie nicht unsterblich. Wenn Sie noch einmal in dieses Ding steigen, kommen Sie nicht mehr heraus.«
»Sie sagten, beim nächsten Mal hätte ich noch eine Chance von zehn Prozent.«
»Ich wollte Sie nur aufmuntern.«
»Ist es schlimmer?«
Valensin zeigte auf den Kälteschlaf tank. »Wenn Sie da noch einmal hineinklettern, können wir die Kiste gleich schwarz anstreichen und Griffe anschrauben.«
Auch wenn er Valensins Angewohnheit berücksichtigte, immer alles ›positiv‹ zu sehen, war sein Gesundheitszustand alles andere als gut. In mancher Beziehung war es, als hätte er gar nicht im Tank gelegen; als hätte der Zahn der Zeit heimlich an ihm genagt, ohne sich um die vermeintlich aufschiebende Wirkung der kryogenen Stasis zu kümmern. Seh- und Hörvermögen hatten weiter nachgelassen. Am Rand seines Blickfeldes sah er fast gar nichts mehr, und selbst von vorne betrachtet erschienen Dinge, die früher scharf gewesen waren, jetzt körnig und trüb. Ständig musste er Valensin auffordern, lauter zu sprechen, um das Geräusch der Klimaanlage zu übertönen. Das war bisher nicht nötig gewesen. Beim Gehen ermüdete er schnell und hielt ständig Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, um etwas zu verschnaufen. Herz und Lunge waren geschwächt. Das kardiovaskuläre System der Hyperschweine war nach kommerziellen Gesichtspunkten manipuliert worden, um transgene Transplantationen möglichst einfach zu machen. Gerade deshalb hatte man sich auch nicht allzu sehr um die Langlebigkeit der Produkte bemüht. Das nannte man geplante Obsoleszenz.
Als er Ararat verließ, war er fünfzig gewesen. An sich war er immer noch fünfzig: Subjektiv war er nur um wenige Wochen älter geworden. Aber die Übergänge in und aus dem Kälteschlaf hatten seine Zellen so stark strapaziert, dass sich die Uhr um sieben bis acht Jahre weitergedreht hatte. Wenn er wach geblieben wäre und alle diese Jahre in Schiffszeit durchlebt hätte, wäre es noch etwas, aber nicht sehr viel schlimmer gewesen.
Immerhin war er noch da. An Weltzeit hatte er mehr Jahre auf dem Rücken als die meisten Hyperschweine. Nun stieß er also an die Grenzen der schweinischen Lebenserwartung. Na und? Er mochte geschwächt sein, aber noch trieb er nicht bauchoben.
»Wo sind wir eigentlich?«, fragte er Valensin. »Ich nehme an, im Orbit um 107 Piscium. Oder haben Sie mich nur geweckt, um mir zu sagen, dass es keine gute Idee war, mich zu wecken?«
»Wir sind im Orbit um 107 Piscium, richtig, aber es gibt doch noch einiges, was Sie nicht wissen.« Valensin half ihm von der Untersuchungsliege. Scorpio stellte fest, dass seine antiken Servomaten endlich doch das Zeitliche gesegnet hatten. Nun standen sie zu beiden Seiten der Tür und dienten als Garderobenständer.
»Das hört sich nicht gut an«, sagte Scorpio. »Wie lange war ich weg? Welches Jahr haben wir?«
»Siebenundzwanzig siebenundzwanzig«, sagte Valensin. »Mir gefällt es übrigens auch nicht. Noch etwas, Scorpio.«
»Ja?«
Valensin reichte ihm eine gewölbte weiße Scherbe, die aussah wie eine Eisschuppe. »Das hatten Sie in der Hand, als Sie einschliefen. Deshalb dachte ich, es wäre Ihnen irgendwie wichtig.«
Scorpio nahm das Muschelstück wieder an sich.
Etwas stimmte nicht, aber niemand wollte ihm sagen, was es war. Scorpio schaute in die Gesichter am Konferenztisch und versuchte selbst dahinterzukommen. Alle, mit denen er gerechnet hatte, waren da: Cruz, Urton, Vasko und eine ganze Reihe von Ältesten, die er nicht so gut kannte. Auch Khouri war gekommen. Und als er sie sah, sprang ihm förmlich ins Gesicht, wer hier fehlte. Aura war nirgendwo zu sehen.
»Wo ist sie?«, fragte er.
»Es geht ihr gut, Scorp«, versicherte ihm Vasko. »Sie ist gesund und in Sicherheit. Ich weiß es, ich habe sie eben gesehen.«
»Jemand muss es ihm sagen«, verlangte Khouri. Scorpio fand sie seit dem letzten Mal sichtlich gealtert. Sie hatte mehr Falten im Gesicht, und ihr Haar, das sie jetzt kürzer und in die Stirn gekämmt trug, war deutlich grauer geworden. Ihre Haut war so dünn, dass sich die Schädelknochen deutlich abzeichneten.
»Was?«, fragte Scorpio.
»Wie viel wissen Sie schon von Valensin?«, fragte Vasko.
»Er hat mir das Datum genannt. Aber nicht viel mehr.«
»Wir mussten einige schwierige Entscheidungen treffen, Scorp. Wir haben in Ihrer Abwesenheit unser Bestes getan.«
In meiner Abwesenheit, dachte Scorpio. Als wäre er einfach gegangen und hätte sie im Stich gelassen, als sie ihn am nötigsten brauchten. Sie schafften es, ihm das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein, sich vor seiner Verantwortung gedrückt zu haben.
»Sie haben sicher das Richtige getan«, sagte er und rieb sich den Rüssel. Er war mit Kopfschmerzen aufgewacht. Sie plagten ihn immer noch.
»Wir sind 2717 hier angekommen«, sagte Vasko. »Der Flug vom Yellowstone-System dauerte neunzehn Jahre.«
Scorpio sträubten sich die Nackenhaare. »Valensin hat mir ein anderes Datum genannt.«
»Valensin hat nicht gelogen«, sagte Urton. »Nach lokaler Systemzeit haben wir das Jahr 2727. Wir sind seit fast zehn Jahren vor Hela. Wir hätten Sie schon damals geweckt, aber der Zeitpunkt war ungünstig. Valensin sagte, wir hätten nur einen Versuch. Hätten wir Sie damals aus dem Tank geholt, dann wären Sie jetzt entweder tot oder erneut eingefroren, mit nur geringen Chancen für eine weitere Reanimation.«
»Es ging nicht anders, Scorp«, sagte Vasko. »Sie waren wertvolles Kapital, das wir nicht vergeuden durften.«
»Das schmeichelt mir ganz ungemein.«
»Ich meine, wir mussten uns genau überlegen, wann wir sie am besten aufweckten. Sie wollten immer, dass wir warteten, bis wir Hela erreicht hätten.«
»Das hatte ich tatsächlich gesagt!«
»Nun, dann stellen Sie sich vor, wir wären jetzt erst richtig angekommen. Für die Behörden im System – die Adventisten – sind wir erst vor einigen Wochen aufgetaucht. Zuvor waren wir wieder abgeflogen und hatten eine Schleife durch den näheren interstellaren Raum gedreht.«
»Wozu?«, fragte Scorpio.
»Weil etwas Bestimmtes geschehen musste«, sagte Vasko. »Als wir vor zehn Jahren hier ankamen, stellten wir fest, dass die Verhältnisse in diesem System wesentlich komplexer waren, als wir angenommen hatten. Die Adventisten kontrollierten den Zugang zu Haldora, dem Planeten, der immer wieder verschwindet. Um in die Nähe von Hela zu kommen, musste man mit den Kirchen verhandeln, und Sonden waren im Umkreis des Gasplaneten schon damals verboten.«
»Warum habt ihr euch nicht den Weg freigeschossen und euch mit Gewalt geholt, was ihr haben wolltet?«
»Sollten wir ein Blutbad anrichten? Auf Hela leben eine Million unschuldiger Zivilisten, ganz zu schweigen von den zehntausenden von Schläfern in den Schiffen, die im System parken. Außerdem wussten wir gar nicht genau, wonach wir suchten. Hätten wir aus allen Rohren geschossen, wir hätten womöglich genau das zerstört, worauf es uns ankam. Zumindest hätten wir uns jede Chance verbaut, es jemals in die Hand zu bekommen. Wenn es uns dagegen gelang, zu Quaiche vorzudringen, dann ließ sich die Sache von innen her aufrollen.«
»Quaiche ist noch am Leben?«, fragte Scorpio.
»Inzwischen können wir das mit Sicherheit sagen – Khouri und ich haben ihn heute getroffen«, erklärte Vasko. »Aber er lebt sehr zurückgezogen und wird mit Langlebigkeitstherapien am Leben erhalten, deren Wirkung sich aber immer mehr abschwächt. Er verlässt niemals seine Kathedrale, die Morwenna. Er schläft nicht. Dank einer kleinen Veränderung in seinem Gehirn braucht er keinen Schlaf. Er blinzelt nicht einmal. Jede Sekunde seines Lebens verbringt er damit, auf Haldora zu starren und darauf zu warten, dass es ihm zuzwinkert.«
»Er hat also den Verstand verloren.«
»Wäre Ihnen das in seiner Situation nicht auch so ergangen? Er hatte da unten ein schreckliches Erlebnis, und das hat ihn in den Wahnsinn getrieben.«
»Er hat ein Indoktrinationsvirus«, ergänzte Cruz. »Er hatte es schon in seinem Blut, bevor er nach Hela kam. Nun ist da unten eine ganze Industrie entstanden, die das Virusgenom in einzelne Stücke zerschneidet und mit dem Genom anderer, von den Flüchtlingen eingeschleppter Viren verbindet. Man sagt ihm nach, er würde immer wieder von Zweifeln befallen, sobald ihm klar würde, dass alles, was er geschaffen hat, nur Schwindel ist. Im Innersten wüsste er, dass die Auslöschungen keine Wunder, sondern vernünftig erklärbar sind. Wenn es wieder einmal so weit ist, lässt er sich einfach einen neuen Stamm des Indoktrinationsvirus spritzen.«
»Klingt so, als wäre nicht so einfach an ihn ranzukommen«, bemerkte Scorpio.
»Schwieriger, als wir dachten«, bestätigte Vasko. »Aber Aura hat einen Weg gefunden. Sie hat den Plan ausgeheckt, Scorp, nicht wir.«
»Und was war das für ein Plan?«
»Sie ist vor neun Jahren hinuntergegangen«, sagte Khouri und sah ihn an, als wären sie beide allein im Raum. »Sie war acht Jahre alt, Scorp. Ich konnte sie nicht halten. Sie wusste, dass sie auf dieser Welt eine Aufgabe hatte. Sie sollte Quaiche finden.«
Scorpio schüttelte den Kopf.
»Ihr habt kein acht Jahre altes Mädchen allein auf diese Welt geschickt. Sag mir, dass das nicht wahr ist.«
»Wir hatten keine Wahl«, sagte Khouri. »Glaube mir, ich bin ihre Mutter. Ebenso hätte man einem Lachs verbieten können, flussaufwärts zu schwimmen. Es war nicht zu verhindern, ob es uns gefiel oder nicht.«
»Wir haben eine Familie gefunden«, sagte Vasko. »Anständige Leute, die im Ödland von Vigrid lebten. Sie hatten einen Sohn, aber ihre einzige Tochter hatten sie zwei Jahre zuvor bei einem Unfall verloren. Sie wussten nicht, wer oder was Aura war, aber sie begriffen, dass sie nicht zu viele Fragen stellen durften. Man sagte ihnen, sie sollten sie so behandeln, als wäre sie schon immer bei ihnen gewesen. Sie fanden sich mühelos in die Rolle hinein und erzählten ihr Geschichten über ihre andere Tochter, als sie noch klein war. Sie liebten sie sehr.«
»Wozu das Theater?«
»Sie wusste nicht mehr, wer sie wirklich war«, sagte Khouri. »Sie unterdrückte ihre Erinnerungen, vergrub sie tief in ihrem Unterbewusstsein. Sie ist ja fast eine Synthetikerin. Sie kann ihr Gehirn umräumen wie andere Leute ihre Wohnung. Und sobald sie einsah, dass es nötig war, fiel es ihr nicht einmal so schwer.«
»Wozu?«, wiederholte Scorpio.
»Damit sie sich einfügen konnte, ohne ständig schauspielern zu müssen. Wenn sie selbst glaubte, auf Hela geboren zu sein, konnte sie auch die Menschen davon überzeugen, denen sie begegnete.«
»Das ist ja grauenvoll.«
»Glaubst du, für mich war es einfach, Scorp? Ich bin ihre Mutter. Ich war bei ihr, als sie beschloss, mich zu vergessen. Ich betrat den Raum, in dem sie war, und sie nahm mich kaum wahr.«
Nach und nach erfuhr er auch den Rest. Alles kam ihm unwirklich vor, aber gegen dieses Gefühl kämpfte er an. Mehr als einmal untersuchte er seine Umgebung, um sich zu vergewissern, dass er nicht in einem Reanimations-Albtraum befangen war. Er kam sich töricht vor, weil er alle diese Manipulationen einfach verschlafen hatte. Aber die Geschichte war wasserdicht, zumindest, soweit man sie ihm erzählt hatte. Und sie war von einer geradezu brutalen inneren Logik. Die Sehnsucht nach Unendlichkeit hatte Jahrzehnte gebraucht, um Hela zu erreichen: Allein die Reise von Ararat über das Yellowstone-System hierher hatte mehr als vierzig Jahre gedauert. Aber Auras Mission hatte lange vorher begonnen, mit ihrer Zeugung in der Matrix des Hades-Neutronensterns. Angesichts der langen Zeit, die seither vergangen war, bedeuteten neun weitere Jahre nicht mehr allzu viel. Ja, von dieser Warte aus betrachtet, ergab alles einen grausamen Sinn. Man durfte das Universum nur nicht mit den Augen eines Schweins sehen, das kurz vor dem Ende seines Lebens stand.
»In Wirklichkeit hat sie nichts vergessen«, erklärte Vasko. »Es war nur alles vergraben. Ihr Unterbewusstsein glich einer Zwiebel, die austreiben musste, wenn sie älter wurde. Wir wussten, dass sie früher oder später nach diesen geheimen Erinnerungen handeln würde, ohne selbst genau zu wissen, warum sie das tat.«
»Und?«, fragte Scorpio.
»Sie schickte uns ein Signal, eine Mitteilung, dass sie auf dem Weg zu Quaiche war. Das war für uns das Stichwort, um Kontakt zu den Adventisten aufzunehmen. Bis wir zu ihm vordrangen, hatte Aura sich bereits in sein Vertrauen eingeschlichen.«
Scorpio verschränkte die Arme vor der Brust. Das Leder seines Uniformrocks knarrte. »Sie ist einfach so in sein Leben getreten?«
»Sie ist seine Beraterin«, sagte Vasko. »Nimmt an seinen Verhandlungen mit den Ultras teil. Wir wissen nicht genau, was sie da tut, aber wir können es erraten. Aura besaß besitzt – eine besondere Gabe, die sich schon zeigte, als sie noch ein Baby war.«
»Sie liest aus unseren Gesichtern mehr, als uns selbst bewusst ist«, sagte Khouri. »Sie weiß, wann wir lügen, und ob wir traurig sind, wenn wir behaupten, glücklich zu sein. Diese Eigenschaft hat nichts mit ihren Implantaten zu tun und wurde wohl auch nicht mit den Erinnerungen an sich selbst unterdrückt.«
»Damit ist sie wahrscheinlich aufgefallen«, sagte Vasko. »Und hat sich für Quaiche unentbehrlich gemacht. Aber es hat die Sache nur beschleunigt. Früher oder später hätte sie auf jeden Fall alle Hürden genommen und wäre bei ihm gelandet. Das war schließlich ihre Bestimmung.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«, fragte Scorpio.
»Nein«, sagte Vasko. »Das war nicht möglich. Quaiche durfte nicht ahnen, dass wir uns bereits kannten. Aber Khouri hat die gleichen Implantate, und sie sind kompatibel.«
»Ich konnte in ihre Erinnerungen eindringen«, sagte Khouri, »sobald wir in einem Raum waren. Wir waren einander so nahe, dass unsere Implantate direkt in Verbindung treten konnten, ohne dass er Verdacht schöpfte.«
»Du hast dich ihr zu erkennen gegeben?«, fragte Scorpio.
»Nein. Noch nicht«, sagte Khouri. »Sie ist zu verletzlich. Es ist sicherer, wenn sie sich nicht an alles auf einmal erinnert. So kann sie die Rolle weiterspielen, die Dekan Quaiche von ihr erwartet. Wenn er sie verdächtigt, ein Ultra-Spitzel zu sein, befindet sie sich ebenso in Gefahr wie wir.«
»Hoffen wir, dass sich niemand eingehender mit ihr beschäftigt«, sagte Scorpio. »Wie lange müssen wir warten, bis ihre Erinnerungen von selbst zurückkehren?«
»Eine Frage von Tagen«, sagte Khouri. »Nicht mehr. Vielleicht weniger. Die ersten Risse müssten bereits sichtbar werden.«
»Diese Verhandlungen mit dem Dekan«, sagte Scorpio. »Dürfte ich erfahren, worum es dabei genau ging?«
Vasko erzählte ihm, worüber er mit dem Dekan gesprochen hatte. Scorpio merkte sehr wohl, dass er die Einzelheiten schönfärbte und alles wegließ, was nicht unmittelbar zur Sache gehörte. Er erfuhr, dass der Dekan ein Schiff suchte, das gegen Bezahlung den Mond umkreisen und ihn notfalls verteidigen sollte. Viele Ultras zögerten, den Auftrag anzunehmen, obwohl Quaiche einige verlockende Zugeständnisse gemacht hatte. Sie fürchteten, das Schicksal der Gnostische Himmelfahrt zu erleiden, des Schiffes, das Quaiche ursprünglich nach Hela gebracht hatte, und das auf unbekannte Weise zerstört worden war.
»Für uns ist das kein Problem«, sagte Vasko. »Wahrscheinlich wird das Risiko ohnehin übertrieben, aber selbst wenn wir aus dem Hinterhalt beschossen werden sollten, wir sind ja nicht gerade wehrlos. Seit wir uns in der Nähe des Systems befinden, verstecken wir unsere neuen Waffen, aber wenn wir sie brauchen sollten, können wir sie jederzeit wieder aktivieren. Ich kann mir nicht denken, dass uns ein paar vergrabene Drohnen sehr viel anhaben könnten.«
»Und im Gegenzug hat Quaiche zugestimmt, dass wir uns Haldora etwas genauer ansehen?«
»Ungern«, sagte Vasko. »Es gefällt ihm immer noch nicht, dass jemand in seinem Wunder herumstochert, aber der Schutz ist ihm sehr wichtig.«
»Wovor hat er solche Angst? Hat er Ärger mit anderen Ultras?«
Vasko zuckte die Achseln. »Hin und wieder gibt es Zwischenfälle, aber nichts Ernstes.«
»Dann klingt es nach Überreaktion.«
»Er leidet eben unter Verfolgungswahn. Wir brauchen uns um seine Motive nicht weiter zu kümmern, solange sie uns die Möglichkeit geben, an Haldora heranzukommen, ohne einen Schuss abzufeuern.«
»Irgendetwas ist hier faul«, sagte Scorpio. Seine Kopfschmerzen hatten sich gelegt, aber jetzt kamen sie mit neuer Heftigkeit wieder.
»Sie sind von Natur aus misstrauisch«, sagte Vasko. »Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber wir warten seit neun Jahren auf eine solche Gelegenheit. Es ist unsere einzige Chance. Wenn wir sie nicht ergreifen, schließt er den Vertrag mit einem anderen Schiff.«
»Trotzdem gefällt es mir nicht.«
»Vielleicht würden Sie anders darüber denken, wenn der Plan von Ihnen stammte«, sagte Urton. »Aber es ist nicht Ihr Plan. Wir haben ihn entwickelt, während Sie geschlafen haben.«
»Schon gut«, sagte er und lächelte ihr zu. »Ich bin nur ein Schwein. Und Schweine planen nicht auf lange Sicht.«
»Sie will doch nur sagen«, begütigte Vasko, »dass Sie die Sache auch einmal mit unseren Augen sehen sollten. Hätten Sie so lange gewartet, dann würden Sie auch anders denken.« Er lehnte sich zurück und zuckte die Achseln. »Außerdem ist es bereits zu spät. Ich habe Quaiche gesagt, wir müssten noch über diese Abordnung sprechen, doch sonst warten wir nur noch auf seine Einwilligung. Dann können wir loslegen.«
»Moment«, sagte Scorpio und hob die Hand. »Sagten Sie Abordnung? Was für eine Abordnung?«
»Quaiche besteht darauf«, sagte Vasko. »Er hält es für nötig, eine kleine Gruppe von adventistischen Delegierten auf diesem Schiff zu stationieren.«
»Nur über meine Leiche.«
»Schon gut«, sagte Urton. »Es ist ein Abkommen auf Gegenseitigkeit. Die Kirche schickt eine Abordnung zu uns, und wir schicken eine Abordnung in die Kathedrale. Eine saubere Sache.«
Scorpio seufzte. Was gab es dagegen noch zu sagen? Er war bereits wieder müde, und dabei hatte er nur in dieser Konferenz gesessen. In einer Konferenz, in der bereits alles entschieden war und man ihm – im Grunde genommen – nur die Rolle des passiven Beobachters zugestanden hatte. Er konnte widersprechen, aber er würde damit nicht mehr erreichen, als wenn er gleich in seinem Kälteschlaftank geblieben wäre.
»Ihr macht einen schweren Fehler«, sagte er. »Ich versichere es euch.«