Hela

2727

 

 

[Hilf uns, Rachmika!], sagte die Stimme, als sie allein war. [Lass nicht zu, dass wir sterben, wenn die Kathedrale stirbt.]

»Ich kann euch nicht helfen. Und ich bin nicht einmal sicher, ob ich es will.«

[Quaiche ist labil], beharrte die Stimme. [Er wird uns zerstören, weil wir ein Riss im Harnisch seines Glaubens sind. Das darf nicht geschehen, Rachmika. Um unsertwillen – um deiner ganzen Spezies willen – mach nicht den gleichen Fehler wie die Flitzer. Schlag die Tür nicht zu!]

Sie presste den Kopf in die feuchte Landschaft ihres Kissens. Schon seit Tagen tränkte ihr Schweiß in schlaflosen, von Stimmen gepeinigten Nächten wie dieser den vergilbenden Stoff. Sie wollte nur, dass die Stimme verstummte; wollte zurück in die Vergangenheit, als das Leben noch einfach war und sie nichts anderes im Kopf hatte, als ihre eigenen hochtrabenden Vorstellungen durchzusetzen.

»Wie kommt ihr überhaupt hierher? Das habt ihr mir noch immer nicht erklärt. Wenn die Tür geschlossen ist…«

[Die Tür wurde kurz geöffnet. In einer Phase, in der die Versorgung mit dem Virus schwierig war, erlitt Quaiche eine Glaubenskrise. Er ließ ein Instrumentenpaket auf Haldoras Oberfläche abfeuern, eine einfache mechanische Sonde, voll gepackt mit elektronischen Geräten.]

»Und?«

[Damit provozierte er eine Reaktion. Die Sonde bohrte sich während einer Auslöschung in den Planeten. Dadurch dauerte die Auslöschung länger als sonst, mehr als eine Sekunde. In dieser Zeit konnte er einen Blick auf die Maschinen werfen, die die Flitzer bauten, um quer durch den Bulk mit uns zu kommunizieren.]

»Das konnte auch jeder andere sehen, der die Auslöschung beobachtete.«

[Gerade deshalb wurde diese Episode aus den Aufzeichnungen gestrichen], sagte die Stimme. [Sie durfte einfach nicht geschehen sein.]

Rachmika erinnerte sich, was ihr die Schatten über den Massengenerator erzählt hatten. »Die Sonde hat euch also den Übergang ermöglicht?«

[Nein. Physisch befinden wir uns noch immer in unserer Bran. Aber die Kommunikationsverbindung wurde wieder hergestellt. Sie war unterbrochen, nachdem die Flitzer zum letzten Mal mit uns gesprochen hatten, doch durch Quaiches Eingriff wurde sie für einen Moment wieder geöffnet. Wir nützten die Gelegenheit und schickten etwas von uns durch den Bulk, ein Geistwesen, von niedriger Intelligenz und ausschließlich darauf programmiert, zu überleben, um die Verhandlungen aufzunehmen.]

Das war es also, was zu ihr sprach: nicht die Schatten selbst, sondern ein Abgesandter, der auf das Nötigste reduziert war. Vermutlich war der Unterschied gar nicht so groß: Die Stimme war mindestens so intelligent und überzeugend wie jede Maschine, der sie je begegnet war.

»Wie weit seid ihr gekommen?«, fragte Rachmika.

[Bis in die Sonde, die in die Haldora-Projektion stürzte. Von dort erreichten wir – über die Telemetrieverbindung – Hela. Aber weiter kamen wir nicht. Seither sind wir im Ehernen Panzer gefangen.]

»Warum gerade dort?«

[Das musst du Quaiche fragen. Er hat zu dem Panzer eine tiefe persönliche Beziehung. Der alte Raumanzug ist untrennbar verknüpft mit den Haldora-Auslöschungen und mit seiner eigenen Rettung. Seine Geliebte – die ursprüngliche Morwenna – kam darin ums Leben. Hinterher brachte Quaiche es nicht über sich, den Anzug zu zerstören. Er erinnerte ihn daran, warum er nach Hela gekommen war, und spornte ihn an, Morwenna zuliebe weiter nach einer Antwort zu suchen. Als die Zeit kam, die Sonde auf Haldora abzuschießen, baute Quaiche das cybernetische Kontrollsystem, das für die Kommunikation mit der Sonde gebraucht wurde, in den Panzer ein. So wurde er zu unserem Gefängnis.]

»Ich kann euch nicht helfen«, wiederholte Rachmika.

[Du musst uns helfen. Der Panzer ist stark, aber die Zerstörung der Morwenna wird er nicht überstehen. Und ohne uns hast du niemanden mehr, mit dem du die Verhandlungen führen kannst. Du könntest eine neue Verbindung aufbauen, aber du weißt nicht, ob dir das gelingt. Inzwischen bist du den Unterdrückern hilflos ausgeliefert. Sie kommen immer näher. Viel Zeit bleibt nicht mehr.]

»Ich kann das nicht«, sagte sie. »Ihr verlangt zu viel von mir. Ihr seid nur eine Stimme in meinem Kopf. Ich werde es nicht tun.«

[Du wirst es tun, wenn du weißt, was gut für dich ist. Wir wüssten gern noch sehr viel mehr über dich, Rachmika, aber eines ist jetzt schon klar: Du bist ganz sicherlich nicht das, wofür du dich ausgibst.]

Sie hob den Kopf vom Kissen und strich sich das strähnige, feuchte Haar aus den Augen. »Und wenn schon?«

[Meinst du nicht, es wäre besser, wenn Quaiche davon nichts erführe?]

 

Der Generalmedikus saß allein in seinem Privatbüro im Blutzoll-Offizium in einer der mittleren Etagen des Glockenturms. Hier war er zu Hause, hier fühlte er sich wohl. Er summte leise vor sich hin. Selbst das leichte Schlingern der Morwenna – es war stärker geworden, seit sie auf der nicht planierten und mit Schlaglöchern übersäten Straße fuhr, die zur Brücke führte – empfand er als angenehm. Die ständige Bewegung steigerte seine Arbeitslust. Er hatte seit vielen Stunden nichts gegessen. Seine Hände zitterten vor Ungeduld, während er auf den Abschluss der Analyse wartete. Quaiche am Leben zu erhalten, hatte ihn schon vor viele Herausforderungen gestellt, aber diese intellektuelle Erregung hatte er nicht mehr gespürt, seit er unter Königin Jasmina Herr über die Körperfabrik gewesen war.

Er brütete schon lange über den Ergebnissen von Harbins Blutuntersuchung. Er hatte in den Genen des Jungen nach einer Erklärung für die Gabe gesucht, die sich bei dessen Schwester so stark manifestierte. Nichts wies darauf hin, dass Harbin in gleichem Maße hyperempfänglich für Gesichtsausdrücke gewesen wäre, aber das konnte auch bedeuten, dass die einschlägigen Gene nur bei seiner Schwester aktiviert worden waren. Grelier wusste nicht genau, wonach er suchte, aber er hatte eine ungefähre Vorstellung von den kognitiven Bereichen, die davon betroffen sein müssten. Rachmika litt sozusagen an inversem Autismus, an Stelle von tiefer Gleichgültigkeit besaß sie eine überstarke Sensibilität für die emotionale Befindlichkeit der Menschen in ihrer Umgebung. Er hatte gehofft, bei einem Vergleich von Harbins DNA mit der genetischen Datenbank des Blutzoll-Offiziums, die nicht nur Proben der Bewohner von Hela, sondern auch Informationen enthielt, die ihm von den Ultras verkauft worden waren, eine Anomalie zu entdecken. Die Software müsste fähig sein, auch etwas ausfindig zu machen, was nicht sofort ins Auge fiel.

Aber Harbins Blut war geradezu lächerlich normal, es gab keinerlei Besonderheiten. Grelier war noch einmal in die Blutbank gegangen und hatte die Zweitprobe geholt, für den Fall, dass es bei der Etikettierung zu einer Verwechslung gekommen wäre. Doch das Ergebnis war das gleiche: In Harbins Blut gab es keinen Hinweis auf die ungewöhnlichen Eigenschaften seiner Schwester.

Vielleicht, überlegte Grelier, war die Anomalie nur in ihrem Blut vorhanden, das Ergebnis einer statistischen Mischung der Elterngene, die bei Harbin aus irgendeinem Grund nicht zum Tragen gekommen war. Sollte sich aber ihr Blut als ebenso uninteressant herausstellen, dann müsste er daraus den Schluss ziehen, dass ihre Hypersensibilität erlernt war, eine Fähigkeit, die jedermann erwerben konnte, wenn er den richtigen Reizen ausgesetzt war.

Der Analysator meldete mit einem Klingelzeichen, dass er seine Arbeit beendet hatte. Grelier lehnte sich zurück und wartete, bis die Ergebnisse auf dem Bildschirm erschienen. Harbins Analyse – Histogramme, Tortengrafiken, genetische und zytologische Karten – standen schon bereit. Jetzt erschienen auch die Daten von Rachmika Els’ Blut. Die Analysesoftware begann sofort, nach Korrelationen und Abweichungen zu suchen. Grelier knackte mit den Fingerknöcheln. Sein Gesicht spiegelte sich im Display, das weiße Haar umgab es wie ein Heiligenschein.

Irgendetwas stimmte nicht.

Die Korrelationssoftware hatte Probleme. Sie überschwemmte den ganzen Schirm mit roten Fehlermeldungen. Grelier kannte die Erscheinung: Die Software hatte den Befehl bekommen, auf einer statistischen Ebene nach Korrelationen zu suchen, die weit über der tatsächlichen Situation lag. Und das wiederum bedeutete, dass die beiden Blutproben weit weniger ähnlich waren, als er erwartet hätte.

»Aber es sind doch Geschwister«, sagte er.

Doch das stimmte nicht. Jedenfalls nicht, soweit es ihr Blut betraf. Harbin und Rachmika Els schienen überhaupt nicht verwandt zu sein.

Nach diesem Ergebnis war es sogar unwahrscheinlich, dass Rachmika Els überhaupt auf Hela geboren wurde.

Offenbarung
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