Acht

Hela

2727

 

 

Am ersten Tag gönnten sie sich keine Pause, um die Ödlanddörfer möglichst schnell weit hinter sich zu lassen. Stundenlang rasten sie auf weiß gefurchten Wegen unter dem sandfarbenen Himmel dahin. Allmählich veränderte sich die Landschaft. Gelegentlich kamen sie an einem Transponderturm oder einem Außenposten vorbei oder begegneten gar einem Fahrzeug, das in die Gegenrichtung unterwegs war.

Rachmika gewöhnte sich an die einschläfernden Schaukelbewegungen und konnte auf dem Eisjammer umhergehen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Hin und wieder setzte sie sich in ihr Schlafkämmerchen, zog die Knie bis zum Kinn hoch, beobachtete, wie die Landschaft vor dem Fenster vorbeizog, und stellte sich vor, in jedem bizarren Felsen, jedem Eisbrocken verberge sich ein Rest des Alien-Reichs. Auch über die Flitzer dachte sie viel nach, und vor ihrem geistigen Auge füllten sich die leeren Seiten ihres Buches mit ordentlicher Handschrift und präzise schraffierten Zeichnungen.

Sie trank Kaffee oder Tee und aß von der mitgebrachten Verpflegung. Gelegentlich unterhielt sie sich mit Culver, wenn auch nicht so oft, wie der es gern gehabt hätte.

Als sie ihre Flucht plante – wobei ›Flucht‹ nicht ganz das richtige Wort war, es gab schließlich nichts, wovor sie davonlaufen wollte –, jedenfalls hatten ihre Pläne immer beim Verlassen des Dorfes geendet. Wenn sie hin und wieder darüber hinausgegangen war, hatte sie nur daran gedacht, wie erleichtert sie sein würde, wenn der schwierigste Teil geschafft wäre und Elternhaus und Dorf endlich hinter ihr lägen.

Doch jetzt war alles ganz anders. Sie war nicht mehr so verkrampft beim Ausstieg durch die Luftschleuse, aber nur deshalb, weil dieser Zustand über längere Zeit nicht durchzuhalten war. Die Anspannung hatte sich auf einem niedrigeren Niveau eingependelt, die Angst lag ihr wie ein Stein im Magen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie sich jetzt mit Fragen beschäftigte, die sie bisher im Ungewissen gelassen hatte. Die Begegnung mit den Kirchen war zum konkreten Ereignis in naher Zukunft geworden. Auch was sie zurückgelassen hatte, erfüllte sie mit Sorge. Bei der Planung der Reise zu den Karawanen waren ihr drei oder auch sechs Tage gar nicht so lange erschienen, doch nun zählte sie jede Stunde. Sie malte sich aus, wie sich im Dorf herumsprach, was geschehen war, wie man alle Kräfte mobilisierte, um sie zurückzuholen, wie die Gendarmen in ihren schnellen Fahrzeugen den Eisjammer verfolgten. Crozet oder Linxe waren dort ohnehin nicht beliebt. Alle würden unterstellen, die beiden hätten sie zur Flucht überredet und wären die wahren Schuldigen an ihrem Unglück. Falls die Verfolger sie einholten, würde man ihr gehörig die Leviten lesen, aber Crozet und Linxe würde der Mob in Stücke reißen.

Doch bisher wies nichts auf eine Verfolgung hin. Crozets Maschine war schnell, aber wenn sie eine der seltenen Anhöhen erklommen hatten und über fünfzehn oder zwanzig Kilometer zurückschauen konnten und nichts zu sehen war, stellte sich regelmäßig ein flüchtiges Gefühl der Erleichterung ein.

Crozet versicherte ihr zwar, es gebe keine Abkürzungen, und niemand würde voraus auf sie warten, aber sie blieb unruhig. Hin und wieder tat der Mann ihr den Gefallen und stellte das Funkgerät auf die Frequenz des Dorfes ein, aber meistens rauschte es nur im Empfänger. Das war weiter nicht ungewöhnlich, denn der Funkverkehr auf Hela war dem Einfluss der Magnetstürme, die um Haldora tobten, hilflos ausgeliefert. Es gab andere Kommunikationsverbindungen – etwa mittels modulierter Laserstrahlen zwischen Satelliten und Bodenstationen oder durch faseroptische Überlandleitungen –, aber die waren zumeist in der Hand der Kirchen, und Crozet hatte sich ohnehin nirgendwo registriert. Er wusste, wie er solche Netze notfalls anzapfen konnte, wollte aber im Moment nicht durch illegale Aktivitäten auffallen. Schließlich gelang es ihm doch, den Sender von Vigrid störungsfrei hereinzubekommen, und Rachmika konnte sich die Nachrichten für die großen Dörfer anhören. Aber ihre Erwartungen erfüllten sich nicht. Es gab Berichte von Kaverneneinstürzen, Stromausfällen und den üblichen Höhen und Tiefen des dörflichen Lebens, aber keine einzige Vermisstenmeldung. Mit ihren siebzehn Jahren war Rachmika noch minderjährig und der Obhut ihrer Eltern unterstellt, die hätten also durchaus das Recht gehabt, Anzeige zu erstatten. Sie machten sich sogar strafbar, wenn sie es unterließen.

Rachmika wollte es nicht zugeben, aber sie war tief beunruhigt. Natürlich konnte es ihr einerseits nur Recht sein, wenn ihr Verschwinden wie geplant unbemerkt blieb. Andererseits sehnte sich das Kind in ihr nach einem Zeichen, dass man ihre Abwesenheit registriert hatte. Sie wollte, dass man sie vermisste.

Nachdem sie eingehender darüber nachgedacht hatte, tröstete sie sich damit, dass ihre Eltern wohl einige Stunden abwarten wollten. Schließlich war erst ein halber Tag vergangen. Unter normalen Umständen wäre sie noch in der Bibliothek gewesen. Vielleicht nahmen die Eltern einfach nur an, sie hätte an diesem Morgen früher als sonst das Haus verlassen. Vielleicht hatten sie ihre Nachricht übersehen und auch nicht bemerkt, dass ihr Druckanzug nicht mehr im Spind hing.

Doch auch nach sechzehn Stunden gab es noch keine Meldung.

Sie war so unberechenbar in ihren Gewohnheiten, dass ihre Eltern sich vielleicht zehn oder zwölf Stunden lang keine Gedanken um ihre Abwesenheit gemacht hätten, aber nach sechzehn Stunden konnten sie – selbst wenn sie wie durch ein Wunder alle noch so offensichtlichen Anhaltspunkte übersehen hätten – nicht mehr daran zweifeln, dass sie fort war. Und dann müssten sie sich doch an die Behörden wenden?

Rachmika überlegte. Die Behörden im Ödland waren nicht gerade für ihre gnadenlose Tüchtigkeit bekannt. Man könnte sich vorstellen, dass die Vermisstenmeldung zunächst auf dem falschen Schreibtisch gelandet war. Dann käme sie bei der notorischen Trägheit auf allen Ebenen der Bürokratie womöglich erst am folgenden Tag ans Ziel. Oder die Behörden waren zwar informiert, verzichteten aber aus irgendeinem Grund zunächst darauf, die Meldung an den Nachrichtensender weiterzugeben. Eine verlockende Erklärung, nur konnte sie sich leider keinen Grund für eine solche Verzögerung vorstellen.

Andererseits könnte schon hinter der nächsten Ecke eine Straßenblockade aufgebaut sein. Crozet befürchtete offenbar nichts dergleichen. Er fuhr schnell und völlig unbekümmert. Sein Eisjammer kannte die alten Eispisten so gut, dass er sich offenbar mit ungefähren Richtungsangaben begnügte.

Kurz bevor Crozet gegen Abend des ersten Tages die Fahrt beenden wollte, fanden sie noch einmal den Vigrid-Sender. Inzwischen war Rachmika fast zwanzig Stunden unterwegs. Und es sah noch immer nicht so aus, als würde sie jemand vermissen.

Sie war so niedergeschlagen, als hätte sie ihr ganzes Leben lang ihre Bedeutung selbst in der kleinen Welt des Ödlands von Vigrid heillos überschätzt.

Dann fiel ihr mit einiger Verspätung eine weitere Möglichkeit ein, die so nahe liegend war, dass sie sofort daran hätte denken müssen. Und sie war auch viel plausibler als all die unwahrscheinlichen Szenarien, die sie bisher durchgespielt hatte.

Ihre Eltern wussten sehr wohl, dass sie fortgegangen war. Sie wussten auch, wann und warum sie das Haus verlassen hatte. Sie war in dem Brief, den sie ihnen geschrieben hatte, nicht näher auf ihre Pläne eingegangen, aber ihre Eltern hatten sicherlich in groben Zügen erraten, was sie vorhatte. Und dass sie auch nach dem Skandal Verbindung zu Linxe gehalten hatte, war ihnen ebenfalls bekannt.

Nein. Sie wussten, was sie tat, und sie wussten, dass es um ihren Bruder ging. Sie wussten, dass sie sich aus Liebe auf den Weg gemacht hatte, und wenn nicht aus Liebe, dann um Rache zu nehmen. Und sie hatten niemandem etwas davon erzählt, weil sie sich, ungeachtet dessen, was sie all die Jahre über beteuert hatten, ungeachtet aller Warnungen davor, sich mit den Kirchen einzulassen, insgeheim wünschten, dass sie Erfolg hätte. Sie waren auf ihre stille, verschwiegene Weise stolz auf ihre Entscheidung.

Diese Erkenntnis überfiel sie mit einer Macht, wie es nur die Wahrheit konnte.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie zu Crozet. »Man wird mich in den Nachrichten nicht erwähnen.«

Er zuckte die Achseln. »Wieso bist du dir da auf einmal so sicher?«

»Mir ist eben etwas klar geworden.«

»Du siehst so aus, als müsstest du dich mal wieder gründlich ausschlafen«, sagte Linxe. Sie hatte heiße Schokolade gekocht: Rachmika trank sie mit Genuss. Es war sicher nicht die beste Schokolade ihres Lebens, aber im Moment schmeckte sie einfach unvergleichlich.

»Ich habe vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan«, gestand sie. »Ich hatte ständig Angst, am Morgen nicht aus dem Bett zu finden.«

»Du warst großartig«, lobte Linxe. »Wenn du zurückkommst, werden alle sehr stolz auf dich sein.«

»Hoffentlich«, sagte Rachmika.

»Aber eines muss ich dich noch fragen«, fuhr Linxe fort. »Du brauchst nicht zu antworten, wenn du nicht willst. Geht es dir nur wirklich um deinen Bruder, Rachmika? Oder steckt noch mehr dahinter?«

Darauf war Rachmika nicht gefasst. »Natürlich geht es nur um meinen Bruder.«

»Du hast dir nämlich einen gewissen Ruf erworben«, erklärte Linxe. »Jedermann weiß, dass du dich andauernd bei den Ausgrabungen herumtreibst und an einem Buch arbeitest. Alle sagen, dass sich im ganzen Dorf niemand so brennend für die Flitzer interessiert wie Rachmika Els. Es heißt, du schreibst sogar Briefe an die kirchlichen Archäologen und widersprichst ihren Anschauungen.«

»Was soll ich machen? Ich finde die Flitzer eben unglaublich spannend«, sagte sie.

»Schon, aber was ist es denn genau, das dich so heiß macht?«

Linxe hatte ganz harmlos gefragt, aber Rachmika fühlte sich angegriffen: »Wie bitte?«

»Ich meine, in welchem Punkt haben denn alle anderen in deinen Augen so entsetzlich Unrecht?«

»Möchten Sie das wirklich wissen?«

»Warum soll ich mir nicht auch deine Meinung anhören?«

»Aber wenn Sie ganz ehrlich sind, ist es Ihnen vollkommen einerlei, wer Recht hat. Solange der Boden noch Fossilien hergibt, schert sich doch kein Mensch darum, was mit den Flitzern wirklich passiert ist. Und Ihnen geht’s auch nur um die Ersatzteile für Ihren Eisjammer.«

»Bitte nicht diesen Ton, mein Fräulein«, mahnte Linxe.

»Entschuldigung.« Rachmika wurde rot und nahm einen Schluck von der heißen Schokolade. »Es war nicht böse gemeint. Die Flitzer liegen mir eben am Herzen, und ich glaube tatsächlich, dass es eigentlich niemanden kümmert, was aus ihnen geworden ist. Dabei erinnern sie mich sehr an die Amarantin.«

Linxe sah sie an. »An wen?«

»Die Amarantin waren die Aliens, die sich auf Resurgam entwickelt hatten. Es waren hoch entwickelte Vogelwesen.« Sie hatte einen Amarantin für ihr Buch gezeichnet – nicht als Skelett, sondern so, wie sie ausgesehen haben mussten, als sie noch lebten. Sie hatte sie im Geist ganz deutlich vor sich gesehen: glänzende Vogelaugen, ein verschmitzt lächelnder Schnabel, ein schmaler Alien-Kopf. Ihre Zeichnung hatte keine Ähnlichkeit mit den offiziellen Rekonstruktionen in den anderen archäologischen Texten, aber ihr war diese Darstellung authentischer und lebendiger erschienen als diese toten Bilder, so als hätte sie einen lebenden Amarantin gekannt, während die anderen nur aus Knochenfunden ihre Schlüsse zogen. Sie hätte gern gewusst, ob auch ihre Zeichnungen von lebenden Flitzern diese Vitalität ausstrahlten.

»Sie wurden vor einer Million Jahren ausgelöscht«, fuhr sie fort. »Als die Menschen Resurgam kolonisierten, wollten sie nicht wahrhaben, dass die Macht, die einst die Amarantin vernichtet hatte, jederzeit zurückkommen und uns das gleiche antun könnte. Natürlich mit Ausnahme von Dan Sylveste.«

»Dan Sylveste?«, fragte Linxe. »Bedaure. Auch der Name sagt mir nichts.«

Rachmika war empört: Wie konnte man nur so unwissend sein? Aber sie ließ sich nichts anmerken. »Sylveste war der Leiter der archäologischen Expedition. Als er auf die Wahrheit stieß, brachten ihn die anderen Kolonisten zum Schweigen. Sie wollten gar nicht wissen, in welchen Schwierigkeiten sie steckten. Aber am Ende behielt er bekanntlich Recht.«

»Dann spürst du wohl eine gewisse Seelenverwandtschaft?«

»Und ob«, sagte Rachmika.

 

Rachmika erinnerte sich noch genau, wo sie zum ersten Mal auf den Namen gestoßen war. Er wurde beiläufig in einem der archäologischen Texte erwähnt, einer langweiligen Abhandlung über die Musterschieber, die sie sich auf ihr Notepad geladen hatte. Doch ihr war er wie ein Blitz durch das Gehirn gefahren. Es war ein erregendes Gefühl, als würde eine Verbindung hergestellt, als wäre ihr ganzes bisheriges Leben nur das Vorspiel zu diesem Augenblick gewesen. Ihre Beschäftigung mit den Flitzern, bis dahin ein kindisches Spiel, wurde zur fixen Idee.

Sie wusste nicht, warum das so war, aber es ließ sich nicht leugnen.

Seither hatte sie nicht nur die Flitzer studiert, sondern ihre Recherchen auch auf das Leben und die Epoche von Dan Sylveste ausgedehnt. Das war an sich logisch: Es hatte wenig Sinn, die Flitzer isoliert zu betrachten, sie waren nur das letzte Glied in einer ganzen Kette ausgestorbener Kulturen, die menschliche Forscher in der Galaxis entdeckt hatten. Sylveste hatte sich mit der Erforschung fremder Intelligenzen einen großen Namen gemacht, man konnte seine Leistungen nicht einfach ignorieren.

Sylveste hatte sich zwischen 2500 und 2570 ausgiebig mit den Amarantin befasst. Wenn er in dieser Zeit nicht unter mehr oder weniger strengem Hausarrest stand, hatte er geduldig geforscht, denn das Interesse an den Amarantin hatte er auch in der Gefangenschaft nicht verloren. Doch solange er sich mit den Mitteln begnügen musste, die ihm die Kolonie zur Verfügung stellte, blieben seine Ideen zwangsläufig Spekulation. Dann waren Ultras ins Resurgam-System gekommen. Mithilfe ihres Schiffs hatte Sylveste das letzte Steinchen entdeckt und ins Mosaik der Amarantingeschichte eingefügt. Sein Verdacht hatte sich als stichhaltig herausgestellt: Die Amarantin waren nicht durch einen isolierten kosmischen Unfall ausgelöscht worden, sondern durch einen immer noch aktiven Mechanismus, der die Aufgabe hatte, die Entwicklung von intelligenten raumfahrenden Spezies zu verhindern.

Es hatte Jahre gedauert, bis sich die Nachricht zu anderen Systemen verbreitete. Inzwischen war sie, durch Propaganda verfälscht, durch mehrere Hände gegangen und wäre über den Kämpfen zwischen verschiedenen Menschheitsparteien beinahe in Vergessenheit geraten. Doch die Synthetiker waren unabhängig von Sylveste zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt. Und andere Archäologengruppen, die ebenfalls die Überreste ausgestorbener Kulturen durchwühlten, schlossen sich den bestürzenden Erkenntnissen an.

Die Killermaschinen, die die Amarantin vernichtet hatten, lauerten immer noch in den Weiten des Alls. Sie hatten viele Namen. Die Synthetiker hatten sie »Wölfe« genannt. Andere inzwischen untergegangene Kulturen hatten von den »Unterdrückern« gesprochen.

Im Lauf des letzten Jahrhunderts hatte man sich allmählich eingestanden, dass diese Unterdrücker existierten. Doch lange Zeit war die Gefahr beruhigend weit weg gewesen: Man konnte das Problem getrost einer späteren Generation überlassen.

In letzter Zeit hatte sich daran einiges geändert. Es gab schon seit langem unbestätigte Berichte über merkwürdige Aktivitäten im Resurgam-System: Es hieß, ganze Welten seien auseinander gerissen und zu verwirrend fremdartigen Maschinen zusammengesetzt worden. Man munkelte von einer Evakuierung des ganzen Systems; mit der Sonne des Systems seien schreckliche Dinge geschehen; Resurgam sei nur noch ein unbewohnbarer, ausgeglühter Steinbrocken.

Doch sogar Resurgam konnte man noch eine Weile verdrängen. Es handelte sich schließlich nur um eine Archäologenkolonie, die nicht ans interstellare Handelsnetz angeschlossen war und von einem totalitären Regime mit einer Vorliebe für Falschinformationen regiert wurde. Die Katastrophenmeldungen ließen sich nicht nachprüfen. Und so lebte man in den anderen Systemen des von Menschen besiedelten Raums noch einige Jahrzehnte lang mehr oder weniger unbekümmert in den Tag hinein.

Doch inzwischen hatten sich die Unterdrücker auch im Umkreis anderer Sterne breit gemacht.

Als Erste hatten die Ultras die schlechte Nachricht unter die Leute gebracht. Schiffe warnten einander vor bestimmten Systemen. Da sei etwas im Gange, das alle bisherigen menschlichen Vorstellungen von einer Katastrophe sprengte. Weder ein Krieg noch eine Seuche, sondern unendlich viel schlimmer. Die Amarantin und – vermutlich – auch die Flitzer seien bereits daran zugrunde gegangen.

Bisher waren nur knapp ein Dutzend menschlicher Kolonien Zeuge direkter Angriffe durch Unterdrückermaschinen geworden, aber die Panik, die sich mit der Geschwindigkeit von Radiowellen ausbreitete, trug kaum weniger dazu bei, Zivilisationen zum Einsturz zu bringen. Ganze Planetenbevölkerungen wurden evakuiert und suchten ihr Heil im Weltall oder flüchteten sich in unterirdische Höhlen, wenn es keine andere Rettung gab. Krypten und Bunker, die seit den dunklen Jahren der Schmelzseuche ungenützt geblieben waren, wurden hastig wieder geöffnet. Natürlich gab es weder auf den Fluchtschiffen, noch in den Schutzräumen genügend Platz für alle. Aufstände und erbitterte Kleinkriege brachen aus. Noch beim Zusammenbruch ihrer Zivilisation häuften all jene, die einen Blick für solche Chancen hatten, nutzlose Vermögen an. Im fruchtbar feuchten Humus der Angst erblühten apokalyptische Kulte wie schwarze Orchideen. Die Menschen waren überzeugt, das Ende der Welt sei gekommen.

Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass Hela so viele Menschen anzog. In besseren Zeiten hätte Quaiches Wunder wenig Aufmerksamkeit erregt, doch jetzt war ein Wunder genau das, wonach die Menschen suchten. Jedes neue Ultra-Schiff hatte zehntausende von tiefgefrorenen Pilgern an Bord. Nicht alle suchten nach Antworten in der Religion, aber wer auf Hela blieb, bekam es früher oder später mit dem Blutzoll-Offizium zu tun. Und danach hatte die Welt ein anderes Gesicht.

Rachmika hatte ein gewisses Verständnis für diese Menschen. Manchmal dachte sie, wenn sie nicht hier geboren wäre, hätte vielleicht auch sie diese Pilgerfahrt unternommen, wenn auch aus anderen Motiven. Sie war auf der Suche nach der Wahrheit. Die gleiche Leidenschaft hatte Sylveste nach Resurgam getrieben, hatte ihn mit seiner Kolonie in Konflikt gebracht und letztlich zu seinem Tod geführt.

Linxes Frage fiel ihr wieder ein. Wollte sie wirklich Harbins wegen zum Ewigen Weg, oder war Harbin nur ein Vorwand, hinter dem sie – vor sich selbst wie vor allen anderen – den wahren Grund für ihre Reise verbarg?

Die Antwort, es ginge ihr allein um Harbin, war ihr so automatisch über die Lippen gekommen, dass sie selbst daran geglaubt hatte. Doch jetzt war sie nicht mehr so sicher. Rachmika sah sofort, wenn andere logen. Aber ihr eigenes Lügengespinst zu durchschauen, war doch etwas anderes.

»Es geht um Harbin«, flüsterte sie. »Ich will meinen Bruder finden, nichts anderes zählt.«

Aber sie konnte nicht aufhören, an die Flitzer zu denken. Als sie, den Becher mit Schokolade noch in den Händen, schließlich einnickte, verfolgten die Flitzer sie bis in ihre Träume, und die Teile ihrer bizarren Insektenkörper fügten sich in endlosen Permutationen zu immer neuen Formen zusammen.

Rachmika wurde von unsanften Stößen aus dem Schlaf gerissen. Der Eisjammer war langsamer geworden, und die Unebenheiten der Piste waren stärker zu spüren.

»Weiter kommen wir heute wohl nicht mehr«, sagte Crozet. »Ich suche uns noch eine Stelle, wo wir nicht sofort zu sehen sind, und da bleiben wir dann bis morgen früh. Ich bin am Ende.« Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung, aber für Rachmika sah er nicht viel anders aus als sonst.

»Lass mich mal ans Steuer, Liebster«, sagte Linxe. »Ich fahre noch zwei Stunden weiter, damit wir auch wirklich in Sicherheit sind. Ihr beiden geht inzwischen nach hinten und nehmt eine Mütze voll Schlaf.«

»Hier kann uns doch auch nichts passieren«, sagte Rachmika.

»Lass das mal meine Sorge sein. Ein paar Meilen mehr können nicht schaden. Und jetzt verschwinde und versuche zu schlafen, mein Fräulein. Wir haben morgen wieder einen harten Tag vor uns, und ich kann dir nicht versprechen, dass wir dann das Schlimmste überstanden haben.«

Linxe rutschte bereits auf den Fahrersitz und betätigte mit ihren Patschhänden die abgewetzten Knöpfe und Schalter. Bis Crozet von Anhalten und Übernachten gesprochen hatte, war Rachmika davon ausgegangen, dass die Maschine einfach etwas langsamer mit Automatiksteuerung weiterfahren würde. Als sie nun erfuhr, dass sich der Eisjammer keinen Meter bewegte, ohne dass jemand manuell die Steuerung betätigte, war sie aufrichtig schockiert.

»Ich springe gern ein«, erbot sie sich. »Ich habe zwar noch nie so ein Ding gelenkt, aber wenn mir jemand zeigt, wie…«

»Wir kommen schon klar, Schätzchen«, sagte Linxe. »Crozet und ich sind ja nicht allein. Morgen kann auch Culver eine Strecke übernehmen.«

»Ich möchte nicht…«

»Ach, lass Culver nur fahren«, sagte Crozet. »Dann weiß er wenigstens, wo er seine Hände zu lassen hat.«

Linxe gab ihrem Mann einen Klaps auf den Mund, aber sie lächelte dabei. Rachmika trank ihren Becher leer. Die Schokolade war kalt geworden. Sie war hundemüde, aber den ersten Tag hatte sie immerhin gut überstanden. Natürlich würde es noch schlimmer kommen, darüber machte sie sich keine Illusionen, aber vermutlich musste man jede einzelne Etappe wie einen kleinen Sieg feiern. Zu gern hätte sie ihren Eltern versichert, sie brauchten sich keine Sorgen machen, sie sei gut vorangekommen und denke die ganze Zeit an sie. Aber sie hatte sich geschworen, erst eine Nachricht nach Hause zu schicken, wenn sie die Karawane erreicht hätte.

Crozet ging mit ihr nach hinten. Der Eisjammer ratterte und bebte. Seit Linxe am Steuer saß, verhielt er sich anders. Sie fuhr nicht schlechter und auch nicht besser als Crozet, aber sie hatte eindeutig ihren eigenen Stil. Der Eisjammer schnellte sich in langen, schwebenden Bögen vorwärts, die Rachmika rasch in Schlaf wiegten. Aber sie schlief unruhig und träumte ständig davon, in die Tiefe zu stürzen.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachte, erwartete sie eine unerfreuliche, aber zugleich heiß ersehnte Nachricht.

»Der Nachrichtensender hat eine Sondermeldung gebracht«, sagte Crozet. »Jetzt ist es amtlich, Rachmika. Du bist als vermisst gemeldet, und man hat eine Suche nach dir eingeleitet. Du kannst stolz auf dich sein.«

»Ach«, sagte sie nur. Was mochte im Laufe der Nacht geschehen sein?

»Die Gendarmerie ist hinter dir her«, ergänzte Linxe. Die Gendarmerie war die Polizeimacht, die in der Vigrid-Region für Recht und Ordnung sorgte. »Sie haben offenbar Suchtrupps in Marsch gesetzt. Aber wir haben gute Chancen, die Karawane zu erreichen, bevor sie uns finden. Und wenn dich die Karawane erst aufgenommen hat, kommt die Gendarmerie nicht mehr an dich heran.«

»Kaum zu glauben, dass sie tatsächlich Suchtrupps ausschicken«, sagte Rachmika. »Dabei bin ich doch gar nicht in Gefahr!«

»Tatsächlich steckt noch etwas mehr dahinter«, sagte Crozet.

Linxe sah ihren Mann an.

Die beiden wussten etwas, dachte Rachmika. Plötzlich krampfte sich ihr Magen zusammen, und es überlief sie eiskalt. »Weiter«, sagte sie.

»Sie wollen dich zurückbringen, um dich zu verhören«, sagte Linxe.

»Weil ich von zu Hause weggelaufen bin? Haben sie denn nichts Besseres zu tun?«

»Nicht, weil du von zu Hause weggelaufen bist«, sagte Linxe und wechselte wieder einen Blick mit Crozet. »Sondern wegen dieses Sabotageakts vergangene Woche. Du weißt doch, wovon ich spreche?«

»Sicher«, sagte Rachmika. Wo das Sprengstofflager gewesen war, gähnte jetzt ein tiefer Krater.

»Sie behaupten, du hättest das getan«, sagte Crozet.

Offenbarung
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