Hela

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Der Generalmedikus führte Rachmika durch die Morwenna. Die Architektur der Kathedrale war verwirrend, aber er hatte eindeutig nicht die Absicht, ihr die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Sie blieb zwar möglichst oft stehen, um sich die Fenster oder andere interessante Dinge anzusehen, aber Grelier forderte sie immer wieder höflich zum Weitergehen auf und klopfte mit seinem Krückstock gegen Wände und Fußboden, um seine Ungeduld zu betonen. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, Miss Els«, sagte er immer wieder. Oder: »Wir sollten uns ein klein bisschen beeilen.«

»Wenn Sie mir sagen könnten, was das alles soll, wäre es einfacher für mich«, erklärte sie.

»Keineswegs«, antwortete er. »Inwiefern? Es genügt doch, dass Sie hier sind und dass wir ein Ziel haben.«

Vermutlich hatte er Recht, auch wenn sie nicht sehr glücklich darüber war.

»Was ist mit der Eiserne Katharina passiert?«, fragte Rachmika. Sie wollte nicht so leicht aufgeben.

»Soviel ich weiß, gar nichts. Eine kleine Änderung in der Personalplanung. Nicht weiter von Bedeutung. Sie bleiben schließlich im Dienst der Ersten Adventistenkirche. Wir haben Sie nur an eine andere Kathedrale versetzt.« Er tippte sich an die Nase, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Für Sie ein ganz beachtlicher Aufstieg. Sie ahnen ja nicht, wie schwierig es heutzutage ist, auf die Mor zu kommen. Alle wollen für die geschichtsträchtigste Kathedrale des Weges arbeiten.«

»Ich habe den Eindruck, dass ihre Popularität in letzter Zeit ein wenig gelitten hat«, sagte sie.

Grelier sah sie an. »Was wollen Sie damit sagen, Miss Els?«

»Der Dekan will die Kathedrale über die Brücke fahren. Jedenfalls macht dieses Gerücht die Runde.«

»Und wenn es so wäre?«

»Würde es mich nicht wundern, wenn Ihre Leute versuchen würden, sich zu verdrücken. Wie weit sind wir noch von der Brücke entfernt, Generalmedikus?«

»Navigation ist nicht gerade meine Stärke.«

»Sie wissen ganz genau, wie weit es noch ist«, sagte sie.

Er lächelte nur, doch dieses Lächeln gefiel ihr ganz und gar nicht. Es hatte etwas allzu Raubtierhaftes. »Sie sind gut, Miss Els. So gut, wie ich mir erhofft hatte.«

»Gut, Generalmedikus?«

»Die Sache mit der Lüge. Die Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen. Das ist Ihr Betriebskapital, nicht wahr? Ihr ganz spezieller Zaubertrick?«

Sie blieben vor einer Holztür stehen. Rachmika nahm an, dass sie in den Glockenturm führte. Der Generalmedikus zog einen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn daneben in ein Schloss und trat mit ihr in einen Fahrstuhl, der wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Die Wände bestanden aus Eisengittern. Er drückte eine Reihe von Messingknöpfen, der Korb setzte sich in Bewegung und fuhr nach oben. Hinter den Gittern glitten die Wände vorüber. Nach einer Weile wurden die Wände von Buntglas abgelöst, und das Licht in der Kabine wechselte mehrmals die Farbe: Aus Grün wurde Rot, und das Rot ging über in ein Kobaltblau, in dem das dichte weiße Haar der Generalmedikus flimmerte, als stünde es unter Strom.

»Ich weiß immer noch nicht, was ich hier soll«, beharrte Rachmika.

»Haben Sie Angst?«

»Ein wenig.«

»Dazu besteht kein Anlass.« Sie sah, dass er die Wahrheit sprach oder jedenfalls selbst davon überzeugt war. Das beruhigte sie ein wenig. »Wir werden Sie anständig behandeln«, fügte er hinzu. »Sie sind sehr wertvoll, man muss gut auf Sie Acht geben.«

»Und wenn ich beschließe, dass ich nicht hier bleiben will?«

Er wandte sich ab und schaute zum Fenster. Sein Profil wurde angestrahlt wie von der Glut eines erlöschenden Feuers.

Etwas an ihm – sein muskulöser, kompakter Körper, das Bulldoggengesicht – erinnerte sie an die Zirkusartisten, die sie im Ödland gesehen hatte. In Wirklichkeit waren es arbeitslose Bergleute, die von Dorf zu Dorf zogen, um ihr Einkommen aufzubessern. Er hätte ein Feuerschlucker oder ein Akrobat sein können.

»Dann können Sie gehen«, sagte er und sah sie wieder an. »Es wäre sinnlos, Sie ohne Ihre Einwilligung hier festzuhalten. Ob Sie uns nützlich sind, hängt ausschließlich von Ihrem guten Willen ab.«

Vielleicht täuschte sie sich, aber sie glaubte auch jetzt nicht, dass er log.

»Ich verstehe immer noch nicht…«, sagte sie.

»Ich habe meine Hausaufgaben gemacht«, erklärte er. »Sie sind eine rara avis, Miss Els. Sie haben eine Gabe, über die nicht einmal einer unter tausenden verfügt. Und Sie besitzen diese Gabe in einem bemerkenswert hohen Maß. Sie sind die große Ausnahme. Ich bezweifle, ob es auf ganz Hela jemanden wie Sie ein zweites Mal gibt.«

»Ich sehe nur, wenn jemand lügt«, sagte sie.

»Sie sehen mehr als das. Sehen Sie mich jetzt an.« Er lächelte wieder. »Lächle ich, weil ich wirklich fröhlich bin, Miss Els?«

Es war das gleiche Raubtierlächeln wie zuvor. »Ich glaube nicht.«

»Sie haben Recht. Wissen Sie, woran Sie das erkennen?«

»Es liegt doch auf der Hand«, sagte sie.

»Aber nicht für jeden. Wenn ich auf Befehl lächle – wie gerade eben –, benutze ich nur einen Muskel in meinem Gesicht: den zygomaticus major. Lächle ich dagegen spontan – was zugegebenermaßen nicht oft vorkommt –, dann bewege ich nicht nur den zygomaticus major, sondern spanne auch den orbikularis oculi, pars lateralis an.« Grelier zeigte mit einem Finger auf seine Schläfe. »Das ist der Ringmuskel, der das Auge umgibt. Die meisten von uns können ihn nicht willkürlich anspannen. Ich kann es jedenfalls nicht. Andererseits können die meisten von uns auch nicht verhindern, dass er sich anspannt, wenn wir uns aufrichtig freuen.« Er lächelte wieder. Der Fahrstuhl wurde langsamer. »Viele Menschen sehen den Unterschied nicht. Wenn sie ihn wahrnehmen, dann nur im Unterbewusstsein, und dann geht die Information in der Masse anderer sensorischer Eingaben unter. Die kritischen Daten werden ignoriert. Aber Ihnen schreien diese Dinge geradezu ins Gesicht. Sie schmettern wie Trompeten. Sie sind unfähig, sie zu ignorieren.«

»Jetzt weiß ich wieder, wer Sie sind«, sagte Rachmika.

»Ich war dabei, als Ihr Bruder sich in der Kathedrale vorstellte, richtig. Sie haben ein Riesentheater gemacht, als man ihn anlog.«

»Man hat ihn also belogen.«

»Das haben Sie doch immer gewusst.«

Sie sah ihm fest ins Gesicht, achtete auf jede Nuance. »Wissen Sie, was aus Harbin geworden ist?«

»Ja«, antwortete er.

Der Gitterkäfig kam ratternd zum Stehen.

 

Grelier führte sie in das Turmzimmer des Dekans. Der sechseckige Raum war voll mit Spiegeln, die ihr eigenes überraschtes Gesicht – fragmentiert wie ein kubistisches Porträt – von allen Seiten zu ihr zurückwarfen. In dem Wirrwarr von Spiegelbildern bemerkte sie den Dekan nicht sofort. Dafür sah sie Helas weißen, gewölbten Horizont vor den Fenstern und wurde wieder einmal daran erinnert, wie klein ihre Welt war, und sie sah die Rüstung – den seltsamen, roh zusammengeschweißten Raumanzug –, die sie vom Emblem der Adventisten kannte. Schon wenn sie den Anzug nur ansah, bekam sie eine Gänsehaut. Er verströmte Unheil, unsichtbare Wellen des Bösen, die den ganzen Raum überfluteten. Der Eherne Panzer war eine so mächtige Präsenz, als wäre er ein lebendiger Gast im Turmzimmer.

Rachmika ging daran vorbei. Als sie näher kam, wurde das Gefühl des Bösen deutlich stärker, es durchdrang ihr Gehirn wie mit geheimen Strahlen und tastete sich in die privaten Nischen ihres Denkens vor. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so irrational auf etwas so offensichtlich Unbelebtes zu reagieren, aber der Panzer hatte zweifellos eine ungeheuere Macht. Vielleicht verbarg sich in seinem Innern ein Mechanismus, der Unruhe erzeugte. Sie hatte von solchen Instrumenten schon gehört. In festgefahrenen Verhandlungen konnten sie die Entscheidung herbeiführen, indem sie durch Reizung der entsprechenden Hirnbereiche Angst auslösten und die Gegenwart unsichtbarer Wesen vorgaukelten.

Sobald Rachmika glaubte, sich die Wirkung des Panzers erklären zu können, belastete er sie nicht mehr so sehr. Dennoch war sie froh, als sie die andere Seite des Turmzimmers erreichte und freien Blick auf den Dekan hatte. Im ersten Augenblick hielt sie ihn für tot. Er lag zurückgelehnt in seinem Stuhl und hielt unter der Decke die Hände über der Brust gefaltet, als hätte man ihn aufgebahrt. Doch dann bewegte sich die Brust. Und die Augen – mit den künstlich gespreizten Lidern – waren unheimlich lebendig und zitterten in ihren Höhlen wie kleine warme Eier kurz vor dem Schlüpfen.

»Miss Els«, sagte der Dekan. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.«

Er war es tatsächlich. Sie konnte es kaum fassen. »Dekan Quaiche«, sagte sie. »Ich hörte… ich dachte…«

»Ich sei längst tot?«, krächzte er. Es klang, als riebe ein Insekt hektisch seine Chitinflächen aneinander. »Ich habe aus meiner Existenz nie ein Geheimnis gemacht, Miss Els… all die Jahre nicht. Ich zeige mich regelmäßig der Gemeinde.«

»Die Gerüchte sind nicht unverständlich«, sagte Grelier. Der Generalmedikus hatte einen Medizinschrank an der Wand geöffnet und machte sich darin zu schaffen. »Sie zeigen sich niemals außerhalb der Morwenna, woher soll also der Rest der Bevölkerung wissen, dass Sie noch leben?«

»Reisen fällt mir schwer.« Quaiche zeigte auf einen kleinen sechseckigen Tisch irgendwo zwischen den Spiegeln. »Eine Tasse Tee, Miss Els? Und setzen Sie sich doch bitte, machen Sie es sich bequem. Wir haben eine Menge zu besprechen.«

»Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, Dekan.«

»Hat Ihnen Grelier denn nichts erzählt? Sie sollten sich der jungen Dame gegenüber kurz fassen, sie aber nicht im Ungewissen lassen.«

Der Generalmedikus drehte sich um und kam, Fläschchen und Tupfer in der Hand, auf Quaiche zu. »Ich habe ihr genau so viel gesagt, wie sie mir aufgetragen hatten: dass sie hier gebraucht würde, und dass es uns im Wesentlichen um ihre Fähigkeit gehe, Mikroveränderungen in Gesichtern zu registrieren.«

»Und was weiter?«

»Nichts weiter.«

Rachmika setzte sich und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Die Einladung abzulehnen, hätte wenig Sinn gehabt. Außerdem kam ihr jetzt zu Bewusstsein, wie durstig sie war.

»Ich soll Ihnen vermutlich bei irgendetwas helfen«, sagte sie. »Mit meiner besonderen Fähigkeit. Es gibt jemanden, bei dem sie nicht wissen, ob Sie ihm trauen können.« Sie nahm einen Schluck: Was immer sie von der Gastfreundschaft des Dekans sonst halten mochte, der Tee war sehr wohl schmeckend. »Kalt oder warm?«

»Mehr als warm, Miss Els«, versicherte Quaiche mit einem Nicken. »Waren Sie immer schon so scharfsinnig?«

»Wenn ich wirklich scharfsinnig wäre, säße ich nicht hier.«

Grelier beugte sich über den Dekan und tupfte seine Augäpfel ab. Rachmika konnte keinem der beiden ins Gesicht sehen.

»Das klingt, als hätten Sie Bedenken«, sagte der Dekan. »Dabei haben Sie deutlich genug Ihr Interesse kundgetan, für die Morwenna zu arbeiten.«

»Das war, bevor ich von der neuen Fahrtroute erfuhr. Wie weit sind wir noch von der Brücke entfernt, Dekan? Wenn die Frage erlaubt ist?«

»Zweihundertfünfzig Kilometer«, sagte Quaiche.

Rachmika atmete auf und genehmigte sich noch einen Schluck Tee. Bei dem Schneckentempo, in dem sich die Karawanen bewegten, brauchte sie sich vorerst noch keine Sorgen zu machen. Doch schon meldete sich eine Stimme in ihrem Innern und machte ihr klar, dass die Entfernung tatsächlich geringer war, als sie befürchtet hatte. Ein Drittel Meter pro Sekunde, das hörte sich nicht sehr schnell an, aber ein Tag hatte viele Sekunden.

»In zehn Tagen sind wir dort«, fügte der Dekan hinzu.

Rachmika stellte ihre Tasse ab. »Zehn Tage sind nicht viel, Dekan. Es heißt, Sie wollten mit der Morwenna über die Brücke an der Absolutionsschlucht fahren. Stimmt das?«

»So Gott will.«

Gerade das hatte sie nicht hören wollen. »Verzeihen Sie, Dekan, aber ich bin nicht hierher gekommen, um bei einer spektakulären Selbstmordaktion zu sterben.«

»Niemand wird sterben«, erklärte der Dekan. »Wir wissen inzwischen, dass die Brücke das Gewicht einer ganzen Versorgungskarawane tragen kann. Messungen haben ergeben, dass sie sich unter der Belastung um kein einziges Ängström durchgebogen hat.«

»Aber sie wurde noch nie von einer Kathedrale überquert.«

»Es gab nur einen derartigen Versuch, und der scheiterte nicht, weil die Brücke den Anforderungen nicht standgehalten hätte, sondern weil die Steuerung versagte.«

»Und Sie glauben, Sie könnten es besser?«

»Ich habe die besten Techniker auf dem ganzen Weg. Und die beste Kathedrale dazu. Ja, Miss Els. Wir werden es schaffen, und eines Tages können Sie Ihren Kindern erzählen, dass Sie das Glück hatten, genau im richtigen Moment in meine Dienste zu treten.«

»Ich kann nur hoffen, dass Sie Recht behalten.«

»Hat Ihnen Grelier gesagt, dass Sie jederzeit gehen können?«

Sie zögerte. »Ja.«

»Das war die Wahrheit. Gehen Sie, Miss Els. Trinken Sie Ihren Tee aus und gehen Sie. Niemand wird Sie aufhalten, und ich werde veranlassen, dass Sie auf der Katharina Arbeit bekommen. Gute Arbeit.«

So gute Arbeit, wie sie meinem Bruder versprochen wurde? Die Frage lag ihr auf der Zunge, aber sie hielt sich zurück. Es war noch zu früh, um schon wieder mit dem Thema Harbin herauszuplatzen. Sie war weit gekommen, war mit außergewöhnlich viel Glück oder Unglück bis ins Innerste von Quaiches Orden vorgedrungen. Zwar wusste sie immer noch nicht genau, was der Dekan von ihr wollte, aber sie durfte ihre Chance nicht dadurch vergeuden, dass sie aus einer momentanen Verärgerung heraus eine unüberlegte Frage stellte. Und noch etwas sprach dagegen: Sie hatte Angst, wie die Antwort ausfallen könnte.

»Ich werde bleiben«, sagte sie, und schränkte sofort ein: »Vorerst. Bis alles restlos geklärt ist.«

»Ein weiser Entschluss, Miss Els«, sagte Quaiche. »Würden Sie mir einen kleinen Gefallen erweisen?«

»Das kommt darauf an«, sagte sie.

»Sie müssten lediglich hier sitzen bleiben und weiter Ihren Tee trinken. Gleich kommt ein Herr in diesen Raum, mit dem ich mich ein wenig unterhalten werde. Diesen Herrn sollen Sie – sorgfältig, aber unauffällig – beobachten und mir Ihre Erkenntnisse mitteilen, nachdem er gegangen ist. Es wird nicht lange dauern, und solange der Mann anwesend ist, brauchen Sie nichts zu sagen. Es wäre sogar besser, Sie würden schweigen.«

»Ist das der Grund, warum Sie mich hierher bringen ließen?«

»Einer der Gründe. Über die Arbeitsbedingungen können wir später sprechen. Betrachten sie diesen Auftrag als Teil des Vorstellungsgesprächs.«

»Und wenn ich versage?«

»Es ist keine Prüfung. Ihre Fähigkeiten wurden bereits geprüft. Sie haben mit Glanz und Gloria bestanden. In diesem Fall bin ich wirklich nur an Ihren Beobachtungen interessiert. Grelier, wie lange brauchen Sie denn noch? Jetzt hören Sie schon auf. Sie sind wie ein kleines Mädchen, das mit seiner Puppe spielt.«

Grelier packte seine Tupfer und Salben weg. »Ich bin fertig«, sagte er knapp. »Der Abszess am Lid sondert kaum noch Eiter ab.«

»Möchten Sie noch eine Tasse Tee, bevor der Herr eintrifft, Miss Els?«

»Nein, danke«, sagte sie und hielt die leere Tasse fest.

»Grelier, Sie räumen das Feld und lassen den Ultra-Vertreter hereinbitten.«

Der Generalmedikus schloss den Medizinschrank ab, verabschiedete sich von Rachmika und verließ den Raum durch eine andere Tür. Das Klopfen seines Krückstocks verklang in der Ferne.

Rachmika wartete. Es war ihr unangenehm, mit Quaiche allein zu sein. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nie vorgehabt, ihn persönlich aufzusuchen. Schon der Gedanke war ihr zuwider. Sie hatte nur in seinen Orden eindringen wollen, und auch das nur so weit wie nötig, um Harbin zu finden. Wie viel Schaden sie dabei anrichtete, war ihr tatsächlich egal, aber an Quaiche selbst war sie nicht interessiert. Sie wollte nur erfahren, was aus ihrem Bruder geworden war. Ob die adventistische Kirche auch weiterhin Leid und Elend über Helas Bevölkerung brachte, war nicht ihr Problem. Die Bevölkerung half schließlich tatkräftig mit, sie war für ihr Schicksal ebenso verantwortlich wie Quaiche. Sie war nicht gekommen, um etwas an den Zuständen zu ändern, es sei denn, jemand stellte sich ihr in den Weg.

Endlich traf der Ultra-Vertreter ein. Rachmika beobachtete ihn, nahm aber an, dass auch eine Begrüßung unter das Schweigegebot fiel, und verzichtete folglich darauf.

»Treten Sie ein, Triumvir«, sagte Quaiche und fuhr seinen Stuhl auf annähernd normale Sitzposition hoch. »Treten Sie ein und erschrecken Sie nicht. Triumvir, das ist meine Assistentin Rachmika Els. Rachmika, dies ist Triumvir Guro Harlake vom Lichtschiff Zieht Vorüber, das vor kurzem von Sky’s Edge eingetroffen ist.«

Der Ultra schlurfte in einem roten Mobilitätskorsett daher. Seine glatte, weiße Haut war mit schwachen Schuppentätowierungen gezeichnet wie bei einem jungen Reptil, die Augen waren teilweise hinter geschlitzten gelben Kontaktlinsen verborgen. Das weiße Haar war kurz geschnitten und hing ihm in albernen steifen Fransen in die Stirn. Mit seinen langen, grünen, sichelförmig gekrümmten Fingernägeln schlug er unentwegt gegen die Armaturen seines Korsetts.

»Wir waren bei der Evakuierung das letzte Schiff, das herauskam«, sagte der Triumvir. »Nach uns starteten noch weitere, aber sie schafften es nicht mehr.«

»Wie viele Systeme sind bisher gefallen?«, fragte Quaiche.

»Acht… neun. Inzwischen vielleicht mehr. Die Nachrichten brauchen Jahrzehnte, um zu uns zu gelangen. Die Erde soll noch intakt sein, aber der Mars und die Jupitergemeinden einschließlich der Demarchie Europa und Gilgamesch Isis wurden angegriffen, das ist bestätigt. Von Zion oder Prospekt hat niemand etwas gehört. Es heißt, früher oder später würden sämtliche Systeme zerstört. Sie würden uns alle finden, es sei nur eine Frage der Zeit.«

»Warum sind Sie dann überhaupt hierher gekommen? Wäre es nicht besser gewesen, weiter nach draußen zu fliegen, weg von der Bedrohung?«

»Wir hatten keine Wahl«, sagte der Ultra. Seine Stimme war tiefer, als Rachmika erwartet hätte. »Wir hatten uns vertraglich verpflichtet, unsere Passagiere nach Hela zu bringen. Und wir legen Wert darauf, Verträge auch einzuhalten.«

»Ein ehrlicher Ultra? Wo soll das noch enden?«

»Wir sind nicht alle Blutsauger. Außerdem gab es noch einen anderen Grund. Wir wollten nicht nur unsere Schläfer hier abliefern, wir hatten auch Probleme mit unserem Hitzeschild. Ohne eine umfassende Reparatur können wir keinen Interstellarflug mehr wagen.«

»Und eine solche Reparatur ist vermutlich ziemlich kostspielig«, bemerkte Quaiche.

Der Triumvir nickte. »Deshalb führen wir dieses Gespräch, Dekan Quaiche. Wir hörten, Sie suchten ein gutes Schiff. Jemanden, der Sie beschützen könnte. Weil Sie sich bedroht fühlten.«

»Ich würde nicht von einer Bedrohung sprechen«, sagte Quaiche. »Aber wir leben in unruhigen Zeiten… es wäre doch töricht, sein Hab und Gut nicht zu verteidigen, nicht wahr?«

»Die Wölfe stehen vor den Toren«, sagte der Ultra.

»Wölfe?«

»Die Unterdrückermaschinen. Die Synthetiker nannten sie so, bevor sie den von Menschen bewohnten Raum verließen. Das war vor hundert Jahren. Wenn wir mehr Verstand gehabt hätten, wären wir ihnen gefolgt.«

»Gott wird uns schützen«, sagte Quaiche. »Sie glauben doch an Gott? Ihre Passagiere tun es jedenfalls, sonst hätten sie diese Pilgerfahrt nicht angetreten. Sie wissen, dass etwas geschehen wird, Triumvir. Die Haldora-Auslöschungen, die wir bisher beobachten konnten, sind nur die Vorboten – der Countdown – für ein echtes Wunder.«

»Oder eine Katastrophe«, entgegnete der Ultra. »Dekan, ich bin nicht hier, um mit Ihnen über die Deutung einer astronomischen Anomalie zu diskutieren. Wir sind strikte Positivisten. Wir glauben nur an unser Schiff und seine Betriebskosten. Und wir brauchen diesen neuen Hitzeschild sehr dringend. Wie lauten Ihre Bedingungen?«

»Sie bringen ihr Schiff in einen niedrigen Orbit um Hela. Wir testen Ihre Waffen auf Funktionsfähigkeit und Leistung. Natürlich wird während der Laufzeit des Vertrages eine Abordnung von adventistischen Delegierten auf Ihrem Schiff stationiert. Die Delegierten bestimmen allein über den Einsatz der Waffen, nur sie entscheiden, wer oder was eine Gefahr für Helas Sicherheit darstellt. Ansonsten werden sie sich nicht in Ihre Belange einmischen. Sie selbst genießen großzügige Privilegien, was die Handelsbeziehungen betrifft.« Quaiche wedelte mit der Hand, als wollte er ein Insekt verscheuchen. »Wenn Sie Ihre Karten richtig ausspielen, nehmen Sie sehr viel mehr von hier mit als nur einen neuen Hitzeschild.«

»Das klingt verlockend.« Der Ultra trommelte mit den Fingernägeln gegen die Brustplatte seines Korsetts. »Aber Sie sollten nicht unterschätzen, dass wir ein hohes Risiko eingehen, wenn wir unser Schiff so dicht an Hela heranbringen. Wir alle wissen, was mit der…« Er hielt inne. »Mit der Gnostische Himmelfahrt passiert ist.«

»Deshalb sind unsere Bedingungen auch überaus generös.«

»Und diese adventistischen Delegierten? Sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass wir so gut wie nie jemanden an Bord unserer Schiffe lassen. Mit zwei bis drei handverlesenen Repräsentanten könnten wir uns vielleicht abfinden, aber erst nach eingehender Überprüfung…«

»Diese Bedingung ist nicht verhandelbar«, unterbrach ihn Quaiche schroff. »Bedauere, Triumvir, aber letztlich läuft alles auf eine Frage hinaus: Wie dringend brauchen Sie diesen Hitzeschild?«

»Wir werden darüber nachdenken«, sagte der Ultra.

 

Hinterher erkundigte sich Quaiche nach Rachmikas Eindrücken. Sie berichtete, was sie beobachtet hatte, beschränkte sich aber auf sichere Erkenntnisse und verzichtete auf vage Vermutungen.

»Er war aufrichtig«, sagte sie, »bis Sie seine Waffen erwähnten. An diesem Punkt suchte er etwas zu verheimlichen. Seine Miene veränderte sich für einen winzigen Moment. Ich könnte Ihnen nicht sagen, worin die Veränderung bestand, aber ich weiß, was sie bedeutet.«

»Wahrscheinlich eine Kontraktion des zygomaticus major«, sagte Grelier. Er hatte die Finger verschränkt und die Stirn daraufgelegt. Den Druckanzug hatte er mit einem einfarbig grauen Adventistenkittel vertauscht. »Gekoppelt mit einem Senken der Mundwinkel durch den risorius. Auch eine Anspannung des mentalis – dadurch hebt sich das Kinn.«

»Das haben Sie alles gesehen, Generalmedikus?«, fragte Rachmika.

»Aber nur, weil ich die Kameraaufzeichnung in Zeitlupe laufen ließ und die Veränderungen in seinem Gesichtsausdruck mit einem langsamen und nicht sehr zuverlässigen Interpretationsprogramm analysierte. Für einen Ultra hatte er eine sehr ausgeprägte Mimik. In Echtzeit fiel sie mir allerdings nicht auf, und auch als das Programm sie erfasste, sah ich zunächst nichts. Nicht intuitiv. Nicht so wie Sie, Rachmika: als stünden ihm die Gedanken in Leuchtschrift ins Gesicht geschrieben.«

»Er hatte jedenfalls etwas zu verbergen«, sagte sie. »Und wenn Sie beim Thema Waffen hartnäckiger gewesen wären, hätte er Sie sicherlich angelogen.«

»Seine Bewaffnung ist also nicht so gut, wie er vorgibt«, sagte Quaiche.

»Dann können wir ihn nicht gebrauchen«, erklärte Grelier. »Streichen Sie ihn von der Liste.«

»Vorläufig lassen wir ihn noch stehen. Das Wichtigste ist das Schiff. Aufrüsten können wir es auch später noch, wenn wir es für erforderlich halten.«

Grelier hob den Kopf und sah seinen Herrn und Meister fragend an. »Wollten wir nicht genau das vermeiden?«

»Mag sein.« Quaiche nahm die Stichelei offenbar übel. »Aber er ist schließlich nicht der einzige Kandidat. In der Kathedrale warten noch zwei weitere. Kann ich davon ausgehen, Rachmika, dass Sie bereit wären, auch diesen beiden Gesprächen beizuwohnen?«

Sie goss sich noch eine Tasse Tee ein. »Herein mit ihnen«, sagte sie. »Ich habe weiter nichts vor.«

Offenbarung
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