Ararat
2675
Die Kapsel begann sich zu öffnen. Clavain saß davor, die Hände unter dem Kinn gefaltet, den Kopf gesenkt wie zum Gebet, oder wie ein reuiger Sünder, der über seine jüngste Untat nachdachte.
Er hatte die Kapuze abgestreift; das weiße Haar fiel ihm über den Mantelkragen bis auf die Schultern. Ein würdevoller alter Mann, der Respekt einflößte, aber nicht mehr der Clavain, den alle zu kennen glaubten. Scorpio war überzeugt, dass die Techniker trotz des ausdrücklichen Verbots ihren Männern und Frauen, ihren Geliebten und Freunden von dem seltsamen Greis erzählen würden, der da plötzlich aus der Nacht aufgetaucht war. Er sehe Clavain frappant ähnlich, würden sie sagen, nur sehr viel älter und gebrechlicher. Sicher wäre es ihnen lieber, der Alte würde sich als jemand anderer herausstellen, und ihr Anführer wäre weiterhin am anderen Ende der Welt. Wenn sie diesen Greis als Clavain akzeptierten, dann akzeptierten sie auch, dass man sie belogen hatte, und dass Clavain nur noch ein grauer Schatten seiner selbst war.
Scorpio setzte sich auf den freien Platz neben seinem Freund. »Empfängst du etwas?«
Clavain antwortete erst nach einer Weile und im Flüsterton. »Nicht viel mehr als die bereits erwähnten Routineinformationen. Die Kapsel blockiert die meisten neuronalen Signale. Sie kommen nur verstümmelt an, und manchmal sind sie auch noch verschlüsselt.«
»Aber du bist sicher, dass es Remontoire ist?«
»Ich bin sicher, dass es nicht Skade ist. Wer könnte es sonst noch sein?«
»Ich würde sagen, es gibt dutzende von Möglichkeiten«, flüsterte Scorpio.
»Das stimmt nicht. In dieser Kapsel liegt ein Synthetiker.«
»Dann eben einer von Skades Verbündeten.«
»Nein. Ihre Freunde waren alle von der gleichen Art: Synthetiker der neuen Generation, schnell, rationell und kalt wie Eis. Ihr Bewusstsein fühlt sich anders an.«
»Das ist mir zu hoch, Nevil.«
»Du glaubst, wir wären alle gleich, Scorp. Aber das war und ist nicht so. Jeder Synthetiker, mit dem ich jemals eine Bewusstseinsverbindung einging, war anders. Wenn ich Remontoires Bewusstsein berührte, war es immer…« – Clavain zögerte einen Moment und lächelte, als er den passenden Vergleich fand – »wie die Mechanik einer Uhr. Ein altes Uhrwerk, solide und zuverlässig, wie man es einstmals in Kirchen hatte. Aus Eisen, mit Rädchen und Federn. Er fand mich wohl noch langsamer und mechanischer… wie einen Mühlstein vielleicht. Galianas Bewusstsein dagegen…«
Er verstummte.
»Ganz ruhig, Nevil.«
»Es ist schon gut. Ihr Bewusstsein war wie ein Raum voller Vögel. Schöner und kluger Singvögel. Und ihr Gesang – das war keine sinnlose Kakophonie, auch kein Chor, sondern ein Wechselgesang – ein Netz aus flirrenden Tönen, ein sprühender Wortwechsel, so schnell, dass der Geist nicht folgen konnte. Und Felka…« Wieder stockte er, fand aber den Faden gleich wieder. »Felka war eine Turbinenhalle. Erschreckend. Ihr Bewusstsein vermittelte den Eindruck von Statik bei unglaublicher Geschwindigkeit. Sie erlaubte mir nur selten, in die Tiefen vorzudringen. Sie dachte wohl, ich könnte es nicht ertragen.«
»Und Skade?«
»Sie war wie ein Schlachthof voll schwirrender, blitzblanker Klingen, scharf genug, um die Wirklichkeit und jeden, der töricht genug war, zu tief in ihren Schädel zu schauen, in dünne Scheiben zu zerschneiden. Das war es jedenfalls, was sie offen legte. Vielleicht hatte es mit ihrem wahren Geisteszustand gar nicht viel zu tun. Ihr Kopf war wie ein Spiegelsaal. Man bekam nur das zu sehen, was sie einem zeigen wollte.«
Scorpio nickte. Er war nur ein einziges Mal und nur für wenige Minuten mit Skade zusammengetroffen. Er war mit Clavain in ihr Schiff eingedrungen, das schwer beschädigt gewesen war und steuerlos dahintrieb, nachdem sie mithilfe gefährlicher Alien-Maschinen versucht hatte, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten. Damals war sie geschwächt gewesen und hatte die Erlebnisse nach dem Unfall noch nicht verarbeitet. Er hatte nicht in ihr Bewusstsein blicken können, doch er hatte das Raumschiff mit der festen Überzeugung verlassen, dass mit Skade nicht zu spaßen war.
Er würde ihr nie in den Schädel schauen können, und das bedauerte er auch nicht. Dennoch musste er vom Schlimmsten ausgehen. Wenn Skade sich in der Kapsel befand, war es durchaus möglich, dass sie ihre neuronalen Signale tarnte und Clavain in Sicherheit wiegte, um dann im richtigen Moment ihre Krallen in sein Gehirn zu schlagen.
»Sobald dir irgendwas komisch vorkommt…«, begann Scorpio.
»Es ist Rem.«
»Bist du dir vollkommen sicher?«
»Ich bin sicher, dass es nicht Skade ist. Reicht dir das?«
»Ich muss mich wohl damit zufrieden geben, Mann.«
»Hoffentlich«, sagte Clavain, »weil nämlich…« Er verstummte und blinzelte überrascht. »Warte. Jetzt tut sich etwas.«
»Gut oder schlecht?«
»Das werden wir gleich erfahren.«
Die Leuchtanzeigen an der Seite des Eies hatten sich immer wieder verändert, seit sie es aus dem Meer gezogen hatten, aber jetzt sprangen sie abrupt in einen anderen Modus. Ein roter Kreis blinkte nicht mehr einmal alle zehn Sekunden, sondern mehrmals in einer Sekunde. Scorpio beobachtete ihn wie gebannt. Dann hörte er ganz zu blinken auf, starrte sie boshaft an – und wurde grün. Aus dem Innern des Eies waren leise Schläge zu hören. Scorpio musste an die alte mechanische Uhr denken, von der Clavain gesprochen hatte. Gleich darauf öffnete sich in der Seite der Kapsel ein Spalt. Scorpio war auf einiges gefasst, dennoch fuhr er zurück. Kühler Dampf entwich aus dem Innern, der Spalt wurde breiter. Eine große Platte aus rußig schwarzem Metall schwang lautlos nach oben.
Eine Wolke verschiedener Gerüche traf das Hyperschwein: Desinfektions- und Schmiermittel, heiß gewordene Kühlflüssigkeit, menschliche Ausdünstungen.
Als sich der Dampf verzogen hatte, sahen sie eine nackte menschliche Frau in Embryohaltung im Innern des Eies liegen. Sie war mit grünlichem Schutzgel bedeckt und von einem Gewirr von schwarzen Maschinen umrankt wie eine Statue von wildem Wein.
»Ist das Skade?«, fragte Scorpio. Er hatte Skade anders in Erinnerung – schon die Kopfform stimmte nicht –, aber es konnte nicht schaden, eine zweite Meinung einzuholen.
»Skade ist es nicht«, sagte Clavain. »Aber es ist auch nicht Remontoire.« Er trat einen Schritt zurück.
Eine Automatik schaltete sich ein. Die Maschinen lösten sich von der Frau. Sprühstrahlen entfernten das grüne Schutzgel. Unter der Matrix war die Haut so hell wie Karamell. Der Kopf war fast kahl geschoren. Kleine Brüste schmiegten sich in den Hohlraum zwischen Beinen und Oberkörper.
»Ich will sie mir ansehen«, sagte Valensin.
Scorpio hielt ihn zurück. »Warten Sie. Wenn sie es bis hierher allein geschafft hat, hält sie sicher noch ein paar Minuten länger durch.«
»Scorp hat Recht«, sagte Clavain.
Die Frau zuckte wie ein toter Gegenstand, der mit Elektroschocks zu einem Scheinleben erweckt wurde. Dann begann sie mit steifen Fingern an dem Gel zu zupfen und die ekelhaften Klumpen von sich zu schleudern. Ihre Bewegungen wurden zusehends hektischer, als versuche sie ein Feuer zu ersticken.
Clavain hob die Stimme. »Hallo«, sagte er. »Keine Aufregung. Sie sind in Sicherheit und unter Freunden.«
Der Sitz oder Rahmen, von dem die Frau gehalten wurde, hob sich auf Kolben aus dem Ei. Obwohl sich viele von den Maschinen bereits gelöst hatten, steckten immer noch zahlreiche Leitungen in ihrem Körper. Ein komplexes Beatmungsgerät aus Plastik bedeckte die untere Hälfte ihres Gesichtes und verlieh ihr das Profil eines Affen.
»Kennt sie jemand?«, fragte Vasko.
Der Rahmen zog die Frau langsam aus der Embryostellung in eine normale Haltung. Bänder und Gelenke knirschten und knackten bedrohlich. Die Frau stöhnte unter der Maske und begann die Kabel und Leitungen wegzureißen, die sich in ihre Haut bohrten oder mit Klebepflastern darauf befestigt waren.
»Ich kenne sie«, sagte Clavain leise. »Sie heißt Ana Khouri. Sie war eine Freundin von Ilia Volyova auf der alten Unendlichkeit, bevor uns das Lichtschiff in die Hände fiel.«
»Die ehemalige Soldatin«, sagte Scorpio. Er hatte die Frau ein paarmal getroffen und wusste ein wenig über ihre Vergangenheit Bescheid. »Du hast Recht – das ist sie. Aber sie sieht irgendwie anders aus.«
»Natürlich. Sie ist ungefähr zwanzig Jahre älter. Außerdem hat man sie zur Synthetikerin gemacht.«
»War sie das denn vorher nicht?«, fragte Vasko.
»Nicht, solange wir sie kannten«, sagte Clavain.
Scorpio sah den Alten an. »Und du bist sicher, dass sie jetzt Synthetikerin ist?«
»Ich konnte ihre Gedanken lesen. Ich konnte erkennen, dass sie nicht Skade oder einer ihrer Freunde war. Mein Fehler war nur, daraus zu schließen, sie müsste Remontoire sein.«
Valensin wollte sich abermals an ihm vorbeidrängen. »Ich würde mich jetzt gerne um sie kümmern, wenn ich nicht allzu sehr störe.«
»Sie schafft das schon selbst«, sagte Scorpio.
Khouris Haltung war jetzt fast aufrecht. Sie saß da wie jemand, der auf eine Verabredung wartete. Aber die Ruhe dauerte nur ein paar Sekunden. Dann hob sie die Hand, zog sich die Maske ab und holte sich fünfzehn Zentimeter schleimigen Plastikschlauch aus der Kehle. Dabei stieß sie ein bellendes Keuchen aus, als hätte sie einen Tritt in den Magen bekommen. Trockene Hustenstöße folgten, doch nach einer Weile beruhigte sich ihre Atmung.
»Scorpio…«, mahnte Valensin.
»Doc, ich habe seit dreiundzwanzig Jahren keinen Menschen mehr geschlagen. Geben Sie mir jetzt keinen Anlass, von dieser Gewohnheit abzuweichen. Setzen Sie sich hin!«
»Sie sollten tun, was er sagt«, bemerkte Clavain.
Khouri drehte ihnen den Kopf zu. Dann hob sie eine Hand, legte sie schützend vor ihre blutunterlaufenen, verschwollenen Augen und blinzelte zwischen den Fingern hindurch.
Ohne sich abzuwenden, stand sie auf. Scorpio sah höflich aber ungerührt zu. Manche Schweine wären durch den Anblick einer nackten Frau stimuliert worden, so wie es auch Menschen gab, die sich zu Schweinen hingezogen fühlten. Die physiologischen Unterschiede zwischen einem weiblichen Schwein und einem weiblichen Menschen waren nicht gerade extrem zu nennen, doch für Scorpio waren sie das, worauf es ankam.
Khouri stützte sich mit einer Hand an der Kapsel ab. Ihre Knie neigten sich leicht nach innen, als wollte sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Aber sie konnte das Licht jetzt ertragen, auch wenn sie die Lider noch zusammenkneifen musste.
Endlich fragte sie mit heiserer, aber fester Stimme: »Wo bin ich?«
»Sie sind auf Ararat«, sagte Scorpio.
»Wo.« Das war keine Frage.
»Auf Ararat, das genügt vorerst.«
»Ich nehme an, in der Nähe Ihrer Hauptsiedlung.«
»Wie gesagt…«
»Wie lange?«
»Das kommt darauf an«, antwortete Scorpio. »Zwei Tage, seit wir das Signal Ihrer Kapsel auffingen. Wie lange Sie im Meer lagen, wissen wir nicht. Oder wie lange Sie brauchten, um den Planeten zu erreichen.«
»Zwei Tage?« Sie sah ihn an, als hätte er Wochen oder Monate gesagt. »Wieso hat das so lange gedauert?«
»Sie hatten Glück, dass wir Sie so schnell gefunden haben«, sagte Blood. »Und auf das Aufwachprogramm hatten wir keinen Einfluss.«
»Zwei Tage… Wo ist Clavain? Ich muss ihn sprechen. Bitte sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten ihn vor meiner Ankunft sterben lassen.«
»Keine Sorge«, sagte Clavain nachsichtig. »Wie Sie sehen, bin ich noch recht lebendig.«
Sie starrte ihn sekundenlang höhnisch an, als glaubte sie, er erlaube sich einen schlechten Scherz. »Sie?«
»Ja.« Er streckte die flachen Hände aus. »Bedauere, wenn ich Sie enttäusche.«
Sie betrachtete ihn noch etwas länger, dann sagte sie: »Entschuldigen Sie. Es ist nur… nicht ganz das, was ich erwartet hätte.«
»Ich glaube, ich kann mich immer noch nützlich machen.« Er wandte sich an Blood. »Holst du ihr bitte eine Decke? Wir wollen nicht, dass sie uns erfriert. Und dann sollte Doktor Valensin allmählich wohl doch seine medizinische Untersuchung vornehmen.«
»Dafür ist keine Zeit«, sagte Khouri und riss sich ein paar Klebepflaster ab, die sie übersehen hatte. »Ich brauche ein wassertüchtiges Boot. Und ein paar Waffen.« Sie zögerte. »Außerdem Essen und Wasser. Und etwas zum Anziehen.«
»Warum so eilig?«, fragte Clavain. »Kann das nicht bis morgen warten? Wir haben uns immerhin dreiundzwanzig Jahre lang nicht gesehen. Da gibt es sicher eine Menge zu erzählen.«
»Verdammt, Sie haben keine Ahnung«, sagte sie.
Blood reichte Clavain eine Decke. Er gab sie an Khouri weiter, die sich ohne große Begeisterung hineinwickelte.
»Mit Booten können wir dienen«, sagte Clavain. »Mit Waffen auch. Aber es wäre nicht schlecht, wenn wir wenigstens eine gewisse Vorstellung hätten, warum Sie das alles so dringend brauchen.«
»Es geht um mein Baby«, sagte Khouri.
Clavain nickte höflich. »Ihr Baby.«
»Meine Tochter. Sie heißt Aura. Sie ist hier, auf… wie, sagten Sie noch, heißt dieser Planet?«
»Ararat«, sagte Clavain.
»O. k. sie ist hier auf Ararat. Und ich muss sie retten.«
Clavain warf seinen Begleitern einen Blick zu. »Und wo soll Ihre Tochter genau sein?«
»Etwa achthundert Kilometer von hier«, sagte Khouri. »Und jetzt besorgen Sie mir die Waffen. Und einen Brutkasten. Und jemanden, der sich auf Feldchirurgie versteht.«
»Wieso Feldchirurgie?«, fragte Clavain.
»Weil wir sie«, antwortete Khouri, »zuerst aus Skade herausholen müssen.«