116 CESCA PERONI
Die frühere Sprecherin Jhy Okiah hatte den Rest ihres Lebens in Rendezvous verbringen wollen, doch jetzt packte Cesca sie an einem dünnen Arm. »Beeil dich, wir müssen fort. Lass alles stehen und liegen. Die Tiwis haben das Hurricane-Depot vernichtet – hier haben sie das gleiche Ziel.«
Die alte Frau verzog das Gesicht und bewegte sich ohne Eile, während die TVF-Schiffe den Asteroidenhaufen einkreisten. Alarmsirenen heulten, und Roamer eilten durch die Tunnel, sammelten ihre Sachen ein und suchten Familienangehörige. »Wie können sie es wagen, Rendezvous anzugreifen? Wir sind ein unabhängiges Volk, und dies ist der offizielle Sitz unserer Regierung. Für wen hält sich der angeberische Admiral, dass er es wagt, uns Ultimaten zu stellen?«
»Er befolgt die Befehle des Vorsitzenden.« Erneut bedauerte Cesca die trotzige Haltung, für die sich die Clan-Oberhäupter entschieden hatten. »Die Hydroger können sie nicht schlagen, und deshalb nehmen sie uns als Trostpreis. Der Admiral schmückt sich mit einem Sieg, und die Große Gans wird sagen, dass sie uns unterworfen und allen Widerstand gebrochen hat.«
»Deshalb müssen wir weiterhin Widerstand leisten.« Jhy Okiah wirkte jetzt viel älter.
»Das können wir nur, wenn wir entkommen und überleben. Sieh dir nur die Größe der Flotte an, mit der die Tiwis hierher gekommen sind. Wir müssen auf unsere eigene Art und Weise Widerstand leisten. Nachdem wir den Angreifern entwischt sind.«
Schließlich gab die Alte nach, nahm einige der Dinge, an denen ihr besonders viel lag, und folgte Cesca in die Korridore. Alle Bewohner von Rendezvous hatten die Evakuierung mindestens hundertmal geübt, und es kam nicht zu einem Chaos, als die Roamer zu den zahlreichen Hangars liefen. Jeder Clan hatte ein Familienschiff oder einen Frachter, und für sie alle gab es in anderen Sonnensystemen Orte, an denen sie sich verstecken konnten.
Ein Schiff nach dem anderen flog fort, in offener Missachtung der von Admiral Stromo übermittelten Anweisungen. Andere Clanmitglieder machten von ihrem Pilotengeschick Gebrauch, rasten zwischen den Asteroiden und TVF-Schiffen hin und her. Zwar unternahmen sie nichts gegen die Mantas und stellten keine Gefahr für sie da, aber trotzdem wurden einige von ihnen zerstört. Cesca empfand jeden Explosionsblitz auf den Bildschirmen als einen schmerzlichen persönlichen Verlust. Roamer starben, Opfer eines Krieges, den sie nicht gewollt hatten.
Und niemand von ihnen wollte in Gefangenschaft geraten. Die Roamer wussten nicht, was mit jenen geschehen war, die die Tiwis beim Hurricane-Depot gefangen genommen hatten. Vielleicht befanden sie sich auf einem Strafplaneten oder mussten in Industrieanlagen der Hanse Zwangsarbeit leisten. Vermutlich waren sie zunächst verhört und gezwungen worden, die Koordinaten von Rendezvous zu verraten. Niemand unterschätzte den Vorsitzenden; er war zu allem fähig.
Der Gouvernanten-Kompi UR, der die Kinder der Roamer unterrichtet hatte, aktivierte die für den Notfall bestimmte Schutzprogrammierung und brachte die Mädchen und Jungen zu den Fluchtschiffen. Aber dabei handelte es sich um Personentransporter, nicht um Blockadebrecher oder sehr schnelle Schiffe. Cesca bezweifelte, dass sie entkommen konnten. Sie hatte gesehen, wie die Mantas auf die Fliehenden geschossen hatten, und deshalb rang sie sich zu einer schweren Entscheidung durch. »UR, kümmere dich um die Kinder und ergib dich.«
»Ich kann versuchen, das Schiff an den TVF-Kreuzern vorbeizusteuern«, sagte der Gouvernanten-Kompi, aber Cesca schüttelte den Kopf.
»Die Kinder dürfen nicht in Gefahr geraten. Sei ihr Hüter. Bring sie zu den Tiwis und sorg dafür, dass sie am Leben bleiben. Ich verlasse mich auf dich, dass sie anständig behandelt werden.«
»Ich habe nicht die Kraft oder die Kampfprogrammierung eines Soldaten-Kompis, aber jene Leute werden mich kennen lernen, wenn sie versuchen, meine Mündel zu missbrauchen.«
»Das ist die richtige Einstellung, UR. Kümmere dich um die Kinder. Wir werden versuchen, Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen. Noch haben uns die Tiwis nicht geschlagen.«
Cesca und die alte Jhy Okiah eilten weiter. Explosionen erschütterten den Hauptasteroiden, und Staub rieselte aus Rissen in Wänden und Decke. Lichter blinkten, und noch immer heulten die Alarmsirenen. Alle Roamer wussten, worauf es nun ankam.
Cesca suchte noch einmal den Kontrollraum auf, wo Roamer-Verwalter von Konsole zu Konsole liefen, Notprogramme starteten und Schiffe fortschickten. Vor langer Zeit hatten Roamer die automatischen Systeme und Kompis in Vorbereitung auf eine solche Situation mit Sicherheitsroutinen ausgestattet. Die Koordinaten der Roamer-Siedlungen waren ein gut gehütetes Geheimnis; derartige Informationen durften auf keinen Fall den Tiwis in die Hände fallen.
»Es ist so weit!«, rief Cesca, um den Lärm zu übertönen. Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, konnte das Zittern aber nicht unterdrücken. »Aktivieren Sie die Kaskadenlöschung. Leeren Sie alle Speicher. Wenn die Tiwis hierher kommen, sollen sie nur noch Schrott vorfinden. Es sieht ganz danach aus, dass wir nie mehr hierher zurückkehren können.«
Die frühere Sprecherin schloss die Hand um ihren Arm, schwieg aber. Sie wirkte sehr kummervoll.
Die Techniker und Verwalter zögerten nicht, legten ein System nach dem anderen still. Funken stoben; Bildschirme zeigten nichts mehr an.
»Die Evakuierung ist fast komplett, Sprecherin Peroni«, sagte einer der Techniker.
»Sie ist erst dann vollständig, wenn auch Sie alle fort sind«, erwiderte Cesca und nahm Jhy Okiahs Hand. »Wir machen uns ebenfalls auf den Weg.«
Die letzten Bewohner von Rendezvous erreichten die Hangars und gingen dort an Bord der noch zur Verfügung stehenden Schiffe. Cesca half Jhy Okiah, in ein kleines diplomatisches Schiff zu klettern, das für die Sprecherin reserviert war. »Wir alle müssen unserem Leitstern folgen«, sagte sie leise. »Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«
Die alte Frau kannte die Prozedur und schnallte sich an. Ihre Knochen waren fragil, aber sie bewegte sich mit natürlicher Eleganz. Jhy Okiah würde sich nicht beklagen. Draußen bohrten sich Jazer-Strahlen und explosive Projektile in die peripheren Asteroiden. Schwere Explosionen donnerten durch den Hauptkomplex. Als Cesca die Luke schloss, wich der Lärm gnädiger Stille.
Als sie sich vom majestätischen Komplex aus miteinander verbundenen Konstruktionen, Kuppeln und Asteroiden entfernten, wusste Cesca, dass sie keine wichtigen Informationen über die Roamer zurückließen, keine Karten, Daten oder Koordinaten, die benutzt werden konnten, um die fliehenden Clans zu verfolgen. Zumindest einige der fernen Außenposten würden geheim bleiben. Die Tiwis versuchten vielleicht, Informationen zu gewinnen, und möglicherweise stahlen sie das eine oder andere, aber sie würden für all ihre Mühe nicht viel bekommen.
Doch das war eine geringe Genugtuung. Ganz abgesehen von den vielen persönlichen Dingen, die die Roamer zurückließen: Rendezvous war das Zentrum ihres Volkes gewesen, die älteste Siedlung, ein Symbol für ihren Sieg über widrige Umstände. Das Durcheinander aus Asteroiden und Konstruktionen zeigte, dass die Clans mit den schwierigsten Situationen fertig werden konnten.
Und jetzt blieb all das hinter ihnen zurück. Sie überließen es dem Feind.
Die Kampfschiffe der TVF näherten sich und feuerten noch immer. Sie schossen auf alles, auch auf dahintreibende Felsen.
Cesca flog mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, ließ das kleine diplomatische Schiff hin und her tanzen. Mehrere Jazer-Blitze zuckten an ihm vorbei, aber es huschte durch die Trümmerwolke eines zerstörten Roamer-Schiffes – Cesca sah Rumpfplatten, die sich langsam drehten und das Licht der fernen roten Sonne reflektierten. Sie nahm den kürzesten Weg, zwischen zwei Manta-Kreuzern hindurch.
Admiral Stromo sprach noch immer, und seine Worte klangen wie einstudiert. »In Namen der Regierung aller Menschen verlangt König Peter die volle Kooperation und Unterstützung der Roamer-Clans beim Kampf gegen die Hydroger. Ihre eklatante Weigerung, uns zu helfen, ist deutlicher Beweise für Ihre Untreue der Menschheit gegenüber. Deshalb gelten die Roamer von jetzt an als Geächtete.«
Im Cockpit wandte sich Jhy Okiah an Cesca und lächelte schief. »Es hat etwas Romantisches, Geächtete zu sein, nicht wahr?« Ihr seltsamer Humor wuchs aus Verzweiflung.
Genau in diesem Augenblick lief die von Stromo gesetzte Frist ab, und erneut tönte die Stimme des Admirals aus den Kom-Lautsprechern. »Die Zeit ist um. Suchgruppen, beginnen Sie mit dem Einsatz und beschaffen Sie uns Informationen. Alle anderen Einheiten warten auf mein Zeichen.«
In weniger als einer Stunde trieben die Tiwis jene Roamer zusammen, die bei der Flucht gefasst worden waren oder sich ergeben hatten, und die Suchgruppen meldeten, dass die Asteroiden nichts mehr enthielten, mit dem sich etwas anfangen ließ. Admiral Stromo hatte klare Befehle in Bezug auf das Ziel seiner Mission, und es schien ihm großes Vergnügen zu bereiten, sowohl die gefangenen Roamer als auch jene Clanmitglieder zu schockieren, die das Geschehen bei Rendezvous aus sicherer Entfernung beobachteten.
»Im Auftrag des Vorsitzenden der Terranischen Hanse und des Königs ordne ich hiermit die Zerstörung dieser Einrichtung an.« Leise und wie im Selbstgespräch fügte er hinzu: »Was für ein Rattennest!«
Vorbereitete Sprengladungen explodierten und trennten die wichtigsten Verbindungen. Die Manta-Kreuzer nahmen Rendezvous von oben mit Jazern und hochenergetischen kinetischen Projektilen unter Beschuss. Die Strahlen und Geschosse galten den Streben, Gerüsten und Kabelbündeln zwischen den Asteroiden.
Cesca beobachtete, wie es bei Rendezvous immer wieder aufblitzte. Die neben ihr sitzende Jhy Okiah schloss die Augen, und Tränen kamen unter ihren Lidern hervor, rannen über die faltigen Wangen. Die Asteroiden brachen auseinander, und alles fiel der Vernichtung anheim: persönliche Quartiere, Lager, Lehr- und Ausbildungszentren… all das, was für Kultur und Geschichte der Roamer wichtig gewesen war.
Die anderen Clan-Schiffe flogen in unterschiedliche Richtungen davon, um sich in den Weiten des Spiralarms zu verstecken. Die Roamer kannten hunderte von geheimen Siedlungen, Basen und Stützpunkten. Sie würden sichere Ort aufsuchen und schließlich wieder zusammenkommen.
Auch auf Cescas Wangen hinterließen Tränen fechte Spuren. Sie warf sich vor, die Skrupellosigkeit des Vorsitzenden Wenzeslas unterschätzt zu haben. Wie war es ihm überhaupt gelungen, Rendezvous zu finden? Als ob die Roamer einen weiteren Grund gebraucht hätten, der Großen Gans nicht zu trauen…
»Lass uns von hier verschwinden, Cesca«, sagte Jhy Okiah mit heiserer Stimme.
Cesca nickte wortlos. Sie gab Kursdaten in den Navigationscomputer, und das diplomatische Schiff beschleunigte, entfernte sich vom Trümmerhaufen, der einmal Rendezvous gewesen war. »Wir werden überleben. Wenn der Himmel dunkel ist, leuchtet unser Leitstern am hellsten.«
Die Roamer flohen, stoben in alle Richtungen davon.