35 OX

OX, der einzige Lehrer-Kompi in den privaten Sicherheitsbereichen des Flüsterpalastes, nahm seine täglichen Pflichten wahr, wie während der vergangenen fast zweihundert Jahre. Der junge Raymond Aguerra, der jetzt Peter hieß, war ein interessanter, artiger Schüler gewesen. Von Prinz Daniel konnte man das nicht behaupten.

Mit einem abfälligen Schnaufen wandte sich der junge Mann von der Nachrichtensendung ab, die zeigte, wie der König die erste Ekti-Lieferung der neuen Himmelsmine empfing. Der auf dem Bildschirm zu sehende Peter sprach mit gut modulierter Stimme. »Diese Shuttles transportieren neu produziertes Ekti. Es stammt weder von den Roamern noch aus unseren Vorräten. Diesen Treibstoff für den Sternenantrieb haben wir selbst produziert, in der Himmelsmine über Qronha 3, in der Atmosphäre eines Gasriesen, von dem die Hydroger vertrieben wurden.«

»Die Ildiraner haben sie vertrieben«, sagte Daniel und wiederholte sein abfälliges Schnaufen. »Wir haben überhaupt nichts getan. Warum rechnet sich Peter das als Verdienst an?«

»Er rechnet sich nichts an, sondern nutzt die Situation«, sagte OX. »Solange jener Gasplanet sicher ist, sollten wir in seiner Atmosphäre Ekti produzieren. Es überrascht mich, dass die Ildiraner dort noch keine Produktionsanlage in Betrieb genommen haben.« Aufgrund seiner Erfahrungen wusste er, dass die Ildiraner in ihrem Verhalten starr und steif waren, komplexen und oft langsamen Mustern folgten.

Der Lehrer-Kompi hatte berechnet, dass der von Sullivan Golds Anlage produzierte Treibstoff dem Bedarf der Hanse bei weitem nicht gerecht wurde. Aber die Symbolik war sehr wichtig. Der Nachrichtenschirm zeigte, wie sich die Luken der Shuttles öffneten. Arbeiter traten heraus, gekleidet in saubere, perfekt sitzende Uniformen. Sie trugen Tanks mit komprimiertem Ekti, die zusätzlich von Antigravmodulen gehalten wurden.

»Ach, warum sollte ich mich dafür interessieren?«, sagte Daniel. »Ich darf den Palast nie verlassen.«

»Du bist der erwählte Prinz.« Die Stimme von OX klang geduldig, um den launischen Daniel weder zu provozieren noch zu verärgern. »Das sollte Grund genug für dich sein.«

»Wird man mir jemals gestatten, nach draußen zu gehen? Bekomme ich Gelegenheit, in der Öffentlichkeit zu erscheinen? Ich würde mir gern das Hydroger-Wrack ansehen, aber du erlaubst es mir nicht.« Daniel schmollte.

»Der Vorsitzende Wenzeslas hat klare Anweisungen erteilt. Du bleibst im Palast, zu deinem eigenen Schutz.«

»Peter darf hinaus. Wenn ich wirklich ein Prinz bin, warum kann ich ihn dann nicht begleiten? Immerhin soll ich ihn ersetzen, wenn ihm etwas zustößt.«

In Anbetracht von Daniels Widerspenstigkeit selbst bei den kleinsten Dingen hielt es OX für sehr unwahrscheinlich, dass dem König in naher Zukunft etwas »zustoßen« würde, trotz Basils verhüllter Drohungen. »Vielleicht verändert sich dein Status, wenn du bessere Leistungen zeigst.«

»Wenn die Hydroger kämen und die ganze Stadt vernichteten… Dann könnte ich machen, was ich will. Ha! So tief unten im Flüsterpalast würde ich wahrscheinlich überleben.«

»Sag so etwas nicht, Prinz Daniel.«

»Ich bin der Prinz. Ich kann sagen, was ich will.«

»Und ich bin dein Lehrer. Meine Aufgabe besteht darin, dich zu lehren, wie man spricht. Und wie man sich benimmt.« Den letzten Worten gab der Kompi eine Schärfe, die den jungen Mann verblüffte und zum Schweigen brachte.

Seit vielen Monaten arbeitete OX mit Daniel, um ihn auf seine Rolle vorzubereiten. Den wahren Namen des Jungen kannte er nicht, und die ihm zugänglichen Daten über sein früheres Leben deuteten darauf hin, dass er aus einer schlechten Familie stammte. Er hatte einen Stiefvater, keine Mutter und eine »abscheuliche ältere Schwester«, wie Daniel sie nannte. Zuerst hatte er mit großem Enthusiasmus auf die veränderten Lebensumstände reagiert, übertriebenen Hedonismus und regelrechte Gefräßigkeit gezeigt. Aufgrund früherer Beispiele für menschliches Verhalten nahm OX an, dass solche Wonnen schließlich den Reiz für ihn verloren, doch dann wurde er vielleicht noch störrischer.

Offenbar hatte sich die Hanse bei der ersten Bewertung des jungen Kandidaten geirrt. Daniel war nicht besonders intelligent, diplomatisch oder sympathisch. OX vermutete, dass die Hanse den Jungen verschwinden lassen und durch jemand anders ersetzen würde, wenn der Vorsitzende Wenzeslas den Fehler schließlich bemerkte. Die Öffentlichkeit war noch nicht sehr mit Daniel vertraut.

Der Junge war sich seiner prekären Situation nicht einmal bewusst – ein weiterer Beweis dafür, dass er sich nicht für die Rolle des Prinzen eignete.

OX besann sich auf das Hier und Heute, setzte seine Prioritäten und versuchte erneut, Prinz Daniel zu unterrichten. »Wir befassen uns jetzt mit der Geschichte des Generationenschiffes Abel-Wexler, dem zehnten, das die Erde verließ, im Jahr 2110.«

»Das ist langweilig.«

OX fuhr trotzdem fort. »Nachdem die ildiranischen Retter das Schiff nach Ramah gebracht hatten, blieben sie jahrelang bei den Kolonisten und halfen ihnen dabei, sich auf der neuen Welt einzurichten. Ein charismatisches religiöses Oberhaupt auf Ramah knüpfte enge Beziehungen mit mehreren Ildiranern des Linsen-Geschlechts und gelangte zu der Überzeugung, dass gläubige Menschen das ildiranische Thism nachahmen sollten, um zu Gott zu finden. Zwar war er zum Sprecher des Unisono ausgebildet worden, aber er entwickelte seine eigene Religion.«

Daniel klopfte laut mit seinem Schreibwerkzeug auf den Tisch. OX erhöhte die Lautstärke seiner Stimme.

»Viele der streng gläubigen Kolonisten der Abel-Wexler lehnten die ›ildiranische Häresie‹ ab, und es kam zu einigen Religionskriegen auf Ramah. Mehrere Ildiraner des Linsen-Geschlechts wurden getötet. Das Ildiranische Reich verzichtete auf militärische Vergeltungsmaßnahmen, zog aber seine Bürger von Ramah zurück. Über Jahrzehnte hinweg schwelten religiöse Konflikte unter den menschlichen Siedlern, und es wurden mehrere Versuche unternommen, die ramahnische Theologie in eine für jede Sekte akzeptable Version zu bringen. Da es keinem menschlichen Priester gelang, einen echten Kontakt mit dem ildiranischen Thism herzustellen, verlor diese neue Religion rasch ihre Anhänger.«

Während des kurzen Vortrags zeigte Daniel immer größere Unruhe. Er schien zu versuchen, OX zu provozieren, doch der Lehrer-Kompi blieb geduldiger als ein Mensch. »Wenn du diesen Unterricht nicht auf zufrieden stellende Weise hinter dich bringst, Prinz Daniel, mache ich von meinem Sanktionsrecht Gebrauch und streiche deine Nachspeise bei der heutigen Abendmahlzeit. Und umgekehrt: Gute Leistungen deinerseits werden vielleicht mit einer zusätzlichen Portion belohnt.«

»Ich könnte dich fortschicken lassen, wenn du das machst!«

»Nein, das könntest du nicht«, erwiderte der Kompi mit fester Stimme. Daniel beschloss, nicht auf seiner Behauptung zu beharren.

»Es ist langweilig für dich, weil du dich weigerst, deine Phantasie zu verwenden. Mir geht es nicht darum, dich zu unterhalten, sondern dich zu unterrichten. Ich beabsichtige, dabei erfolgreich zu sein, ganz gleich, ob es dir gefällt oder du es nur über dich ergehen lässt. Du wirst mir zuhören, und ich werde die einzelnen Lektionen so oft wiederholen, wie es nötig ist, bis du ihre Konzepte verstehst.«

»Ich hasse dich, OX.«

Der Kompi schwieg einige Sekunden lang. »Deine emotionale Reaktion auf mich ist irrelevant. Können wir jetzt mit dem Unterricht fortfahren?«

Der verdrießliche Daniel schwieg.

Nach einigen weiteren Sekunden angespannter Stille begann OX mit einem neuen Vortrag. Als Lehrer-Kompi nahm er seine Aufgaben mit vollem Eifer wahr.

Allerdings wusste er, dass dieser junge Mann nie ein guter König sein würde – ihm fehlten Peters Potenzial und Elan. Doch OX hatte klare Anweisungen von der Hanse bekommen, und an die hielt er sich.