9 WEISER IMPERATOR JORA’H

Im Ossarium unter dem Prismapalast, wo ihn niemand sehen konnte, trat Jora’h vor den Totenkopf seines Vaters. »Du zwingst mich, den unehrenhaftesten aller Pläne fortzusetzen.« Das offene, lebendige Haar zuckte hin und her, wie Bänder voll statischer Elektrizität, und in der gespenstischen Stille kehrten seine Worte als verspottende Echos zu ihm zurück. »Bekh! Nicht einmal die Menschen haben passende Schimpfwörter, mit denen sich mein Zorn darauf ausdrücken ließe, was du warst – und was ich geworden bin.«

Nur ein Tag war seit der Kremation vergangen, und der Totenkopf seines Vaters befand sich bereits im kalten Ossarium, einem privaten, stillen Ort, wo ein Weiser Imperator über seine Herrschaft nachdenken konnte. Am liebsten hätte sich Jora’h in einen tiefen Subthism-Schlaf geflüchtet, wie der Hyrillka-Designierte.

Der perlweiß glühende Totenkopf blieb stumm, die Augenhöhlen leer. Der tote Weise Imperator schien zu grinsen und über die Situation seines Sohns zu lachen.

Vor fast hundert Jahren war Cyroc’h mit dem gleichen Wissen konfrontiert worden, als er vom Zuchtprogramm und den gefangenen Menschen erfahren hatte. Jora’h fragte sich, ob sein Vater sich schuldig gefühlt oder die neuen »Ressourcen« einfach akzeptiert hatte, um sie zum Wohle des Reiches zu nutzen.

Jora’h betrachtete die glühenden Knochen seines Großvaters, der Weiser Imperator gewesen war, als man das terranische Generationenschiff Burton gefunden hatte. Jahrtausendelang war es den Ildiranern nicht gelungen, einen Interspezies-Telepathen zu schaffen, der eine Kommunikation mit den Hydrogern herstellen konnte. Jora’hs Großvater hatte damals beschlossen, die Experimente auf Dobro in eine ganz neue Richtung zu lenken und die Gene der Burton-Nachkommen mit denen begabter Ildiraner zu vermischen: Menschliche Frauen wurden von ildiranischen Männern aus verschiedenen Geschlechtern geschwängert.

Jora’h nahm sich erneut vor, so bald wie möglich nach Dobro zu fliegen und seine geliebte Nira zu finden. Als Weiser Imperator hatte er die Macht, sie aus der Gefangenschaft zu befreien, und er wollte auch seine Tochter Osira’h sehen. Er würde alles wieder gutmachen, auch in Hinsicht auf die übrigen menschlichen Gefangenen…

Er schauderte, als er an all die Geheimnisse dachte, die sein Vater gehütet hatte, wohl wissend, dass sein naiver Sohn erst dann alles verstehen würde, wenn er selbst zum Weisen Imperator wurde. Er wusste jetzt, welche Rolle die Ildiraner beim vorherigen Krieg gegen die Hydroger gespielt hatten, und er verstand, warum das friedliche Reich – das angeblich seit tausend Jahren auf keinen äußeren Feind gestoßen war – eine so mächtige Solare Marine unterhielt und einen so großen Vorrat an Ekti hortete. Alles war Teil der langfristigen Vorbereitungen auf die Rückkehr der Hydroger.

»Warum hast du den Menschen gestattet, bei Oncier die Klikiss-Fackel zu testen, wenn du wusstest, was geschehen würde?« Trotz des vollen Zugangs zum Thism verstand Jora’h seinen Vater nicht. »Warum bist du ein Risiko eingegangen und hast das Schicksal herausgefordert?« Eins verstand er: Der frühere Weise Imperator – und alle Ildiraner – hatten die Ambitionen der Menschheit oft unterschätzt und falsch beurteilt. War Cyroc’h bis zum Schluss davon überzeugt gewesen, dass die Wissenschaftler der Hanse letztendlich auf den Einsatz der Klikiss-Fackel verzichten würden? Vielleicht hatte Cyroc’h kein klares Bild vom Ausmaß des menschlichen Wahns gewonnen…

Jora’h runzelte die Stirn, als er den phosphoreszierenden Totenkopf betrachtete, dazu entschlossen, sich aus seiner verfahrenen Situation zu befreien. Er spürte einen plötzlichen kalten Hauch und hörte fernes Flüstern, wandte sich den Knochen seiner Vorgänger zu. »Ja, Vater, ich werde meinem Volk dienen und es durch alle Krisen führen, wie es meine Pflicht gebietet. Aber dein Weg ist nicht der einzige. Wenn ich eine andere Lösung finde, verlasse ich diesen Pfad.«

Sein Sohn Zan’nh, der jetzt die Aufgaben des Adar wahrnahm, hatte eine Analyse in Hinsicht auf die gegenwärtigen Ekti-Vorräte übermittelt, und es betrübte den Weisen Imperator festzustellen, wie schnell sie zur Neige gingen. Das Reich brauchte Treibstoff für den Sternenantrieb. Die Vorräte mussten erneuert werden.

Zan’nh würde das Kommando über die Solare Marine bald offiziell übernehmen. Sein Vorgänger und Mentor Adar Kori’nh war zusammen mit vielen anderen bei einem selbstmörderischen Angriff auf Qronha 3 ums Leben gekommen. Alles deutete darauf hin, dass die Hydroger von jenem Planeten vertrieben worden waren, und wenn das stimmte, konnte in der Atmosphäre von Qronha 3 Ekti produziert werden – bis die Hydroger zurückkehrten.

Wenigstens diese Maßnahme konnte er ergreifen. Das Reich sah sich Herausforderungen gegenüber, die Jora’h zwangen, große Risiken einzugehen. Aber noch schlimmer wäre es gewesen, überhaupt nichts zu versuchen.

Als er sich von den leuchtenden Knochen abwandte und den wenig hilfreichen Totenköpfen seiner Vorgänger keine Beachtung mehr schenkte, fühlte Jora’h Zuversicht angesichts der getroffenen Entscheidung. Wenn die Hydroger aus den Tiefen von Qronha 3 verschwunden waren, konnte er Zan’nh anweisen, eine der großen Himmelsminen zusammenzubauen und mit einer vollen Crew aus Ildiranern des Ektisammler-Geschlechts zum Gasriesen zu fliegen. Das war ein positiver Schritt – ein weiterer Sieg, ermöglicht durch den heldenhaften Tod von Adar Kori’nh.

Mit einem grimmigen Lächeln verließ Jora’h das Ossarium und rief nach seinem Sohn Zan’nh.