30 DOBRO-DESIGNIERTER UDRU’H

Die grüne Priesterin hatte ihm viele Probleme bereitet. Jedes Mal, wenn Udru’h glaubte, eine Lösung für ihre Situation gefunden zu haben, ergaben sich überraschende Konsequenzen. Wenn Nira für das Zuchtproblem nicht so enorm wichtig gewesen wäre, hätte er sie schon vor Jahren getötet. Aber das wäre eine Verschwendung des Potenzials der Frau gewesen.

Zwar beharrte der Weise Imperator noch immer darauf, nach Dobro zu fliegen, aber wenigstens glaubte Jora’h jetzt, dass Nira tot war. Mit einer unglaublichen geistigen Anstrengung hatte es Udru’h geschafft, das Geheimnis vor seinem Bruder zu hüten. Aber jetzt begann ein schwieriges und sehr gefährliches Spiel, bis der Designierte entscheiden konnte, was letztendlich aus Nira werden sollte…

In einer erhabenen Prozession war eine Septa aus Kriegsschiffen der Solaren Marine von Ildira aufgebrochen, um die Designierten und ihre jungen Lehrlinge zu den verschiedenen ildiranischen Welten zu bringen. Erst am vergangenen Tag hatten Udru’h und der Designierte-in-Bereitschaft Daro’h Dobro erreicht. Nachdem die anderen in seinem Gefolge zu den Zuchtlagern zurückgekehrt waren, um dort die Arbeit fortzusetzen, hatte der Designierte Daro’h unter seine Fittiche genommen. Gemeinsam vergewisserten sie sich bei den Medizinern und Verwaltern, dass alle Experimente wie geplant weitergingen und die menschlichen Versuchsobjekte keine Schwierigkeiten gemacht hatten. Dann begann Udru’hs junger Neffe damit, sich mit den Grundlagen der Kolonie zu befassen, die er einmal übernehmen würde.

Dadurch bekam der Designierte Gelegenheit, sich um seine eigenen dringenden Angelegenheiten zu kümmern. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, suchte Trost bei der Lichtquelle und brach mit einem schnellen Shuttle auf, der ihn zur anderen Seite des Planeten bringen sollte. Allein.

Bei einem Ildiraner bewirkten Einsamkeit und Isolation ebenso großes Entsetzen wie Dunkelheit, doch Udru’h musste damit fertig werden. Die Geheimhaltung war wichtiger als sein Empfinden. Er war stark genug. Niemand sollte von dieser Sache erfahren, nicht einmal die Angehörigen des Mediziner-Geschlechts, die sein volles Vertrauen genossen.

Niemand außer ihm durfte wissen, dass Nira noch lebte.

Udru’h hatte lange geübt, seine geistigen Fähigkeiten trainiert und die Verbindung zum großen Netz des Thism gefestigt. Er konnte diese Qual ertragen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Er flog mit Höchstgeschwindigkeit, donnerte über den Himmel nach Süden, über Dobros Äquator hinweg zum unbesiedelten Südkontinent. Als er einen großen, seichten See sah, wusste er, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Stunden waren bereits vergangen, Stunden der Einsamkeit, aber er setzte den Flug fort.

Es war nicht so schlimm. Noch nicht. Er war stark, ja, stark genug… zweifellos stärker als Jora’h.

Nach dem plötzlichen Tod des früheren Weisen Imperators, während das Thism zerbrochen und alle Ildiraner verwirrt und ohne Verbindung gewesen waren, hatte der Dobro-Designierte die erhoffte Chance genutzt.

Als Jora’h, zu jenem Zeitpunkt noch Erstdesignierter, festgestellt hatte, dass Nira noch lebte, war dieser bereit gewesen, die Arbeiten auf Dobro einzustellen, Jahrhunderte sorgfältiger Experimente einfach wegzuwerfen und die Zukunft des Ildiranischen Reiches zu gefährden – alles nur, weil er eine Frau liebte. Und nicht einmal eine ildiranische Frau, sondern eine menschliche, deren telepathisches Potenzial und Verbindung mit dem intelligenten Weltwald einzigartige Gelegenheiten boten.

Jahrelang hatte Udru’h seinen besten Linsen-Ildiranern und mentalen Experten zugehört, während sie mit Osira’h und ihren Geschwistern arbeiteten. Die ganze Zeit über hatte er gelächelt und zugesehen, dabei aber auch die eigenen Fähigkeiten verbessert und neue geistige Methoden erlernt. Er hatte gelernt, wie man das Bewusstsein von geistigem Ballast befreite, gewisse Gedanken hinter unsichtbaren Barrieren verbarg und Geheimnisse vor Entdeckung schützte.

Zuerst war es ein Spiel, dann eine Herausforderung – und schließlich eine echte Fähigkeit, von der die anderen Ildiraner nichts wussten, weil sie so etwas nie für möglich gehalten hätten. Udru’h hatte immer befürchtet, dass sein Bruder unbesonnene Maßnahmen ergreifen würde. Zwar konnte er dem rechtmäßigen Weisen Imperator nicht widersprechen und musste allen Anweisungen Jora’hs gehorchen, aber er bereitete sich auf bestimmte Möglichkeiten vor.

Nachdem der Dobro-Designierte gelernt hatte, wie man bestimmte Gedanken vom Thism fern hielt, beschäftigte er sich mit Meditation und anderen mentalen Techniken und fand schließlich einen Weg, den geistigen Fäden seines Bruders auszuweichen. Ohne eine mentale Sondierung mit besonderem Nachdruck würde Jora’h nicht herausfinden, dass der Dobro-Designierte log.

Während der dunklen Tage des noch nicht vollzogenen Machtwechsels hatte Udru’h das Chaos genutzt, Nira aus dem Zuchtlager geholt und fortgebracht. Seinen Anweisungen gemäß hatten die Wächter die grüne Priesterin bewusstlos geschlagen – sie waren dabei so gründlich gewesen, dass Nira fast gestorben wäre. Die Mediziner hatten sie am Leben erhalten, in einem drogeninduzierten Koma.

Und dann, vor der Wiederherstellung des Thism, hatte Udru’h einen Ort für Nira gefunden und sie versteckt.

Wenn man berücksichtigte, was diese Frau für Jora’h bedeutete… Der Designierte wusste, dass sie eine Trumpfkarte für ihn sein konnte, wenn seine Pläne fehlschlugen.

Dieses Geheimnis vertraute Udru’h absolut niemandem an. Er konnte nicht dafür sorgen, dass sich jemand anders um Nira kümmerte – sie musste ganz allein bleiben und ohne Hilfe zurechtkommen. Der Dobro-Designierte hatte einen perfekten Käfig geschaffen, eine große Zelle, aus der die grüne Priesterin nicht entkommen konnte und die ihr das Überleben ermöglichte, ohne dass jemand anders wusste, wo sie sich befand.

Während der Krise nach dem Tod des früheren Weisen Imperators war Udru’h von Ildira nach Dobro zurückgekehrt, hatte die mit Drogen betäubte, komatöse Frau aus der Obhut der Wächter geholt und sie zur südlichen Hemisphäre des Planeten gebracht, weit fort vom Zuchtlager, in eine ganz andere Klimazone. Er hatte eine kleine Insel mit üppiger Vegetation in der Mitte eines großen Sees gefunden, Nira dort zurückgelassen und sich dann erneut auf den Weg nach Ildira gemacht, um bei der Kremation des verstorbenen Weisen Imperators zugegen zu sein. In all dem Durcheinander hatte Jora’h die kurze Abwesenheit seines Bruders nicht einmal bemerkt.

Jetzt, Wochen später, kehrte Udru’h zu der Insel zurück, um sich zu vergewissern, dass Nira noch lebte. Als er die Insel erreichte, sah er, dass die Frau eine Unterkunft aus Holz für sich errichtet hatte. Ihre smaragdgrüne Haut versorgte sie über die Photosynthese mit Lebensenergie. Für einen Ildiraner wäre eine solche Isolation eine furchtbare Strafe gewesen, doch Nira war stark. Das wusste Udru’h aus Beobachtungen ihres Verhaltens im Zuchtlager.

Er landete dort, wo keine Bäume standen, stieg aus und atmete die feuchte Luft ein, die sich so sehr von der trockenen im Norden unterschied. Der Sonnenschein ließ seine Kopfhaut prickeln, als er wachsam nach der grünen Priesterin Ausschau hielt. Er fragte sich, ob Nira verrückt geworden war, ob sie plötzlich aus dem Gebüsch kommen und ihn mit einem Knüppel angreifen würde.

Statt dessen trat sie ruhig vor, hoch aufgerichtet und bis auf einen Lendenschurz nackt. Sie sah ihn an, mit Zorn im Gesicht, aber ohne Furcht. Udru’h bemerkte ebenso viel Verachtung wie Resignation. »Sie haben sich von Ihren Verletzungen erholt«, sagte er. »Offenbar sind Sie gesund und kräftig, trotz der Isolation.«

»Ich bin nicht allein. Ich habe die Bäume.« Die knubbeligen Gewächse mit den breiten, farnartigen Blättern schienen ihr Mut zu geben. »Und jeder Ort ist besser als Ihr Zuchtlager.«

»Viele Nachfahren der Burton-Kolonisten würden Ihnen widersprechen.« Udru’hs Blick huschte hin und her. Der weite, offene See und der leere Himmel verstärkten das Gefühl, allein zu sein. Die Gesellschaft der menschlichen Frau verschaffte ihm keine Erleichterung, denn sie war nicht mit dem Thism verbunden.

Nira kam näher, so selbstbewusst, dass Udru’h einen Schritt zurückwich. Verdammt, sie wusste, wie sehr er es verabscheute, allein zu sein. »Ich habe Waffen«, sagte er, und Nira lächelte. Er verfluchte sich dafür, Furcht vor ihr gezeigt zu haben.

»Sie glauben vielleicht, mich in ein schreckliches Exil geschickt zu haben, aber für mich ist dies ein kleines Paradies, mit viel Wasser, Bäumen und Sonnenschein. Ich habe essbare Früchte und Wurzeln gefunden.« Nira hob die grünen Arme. »Dies ist nicht das grässliche Gefängnis, das Sie im Sinn hatten. Ich könnte hier jahrelang überleben.«

Ihnen beiden war klar, dass sie nicht entkommen konnte. Der See reichte bis zum Horizont, kein Land war in Sicht. Selbst wenn es Nira irgendwie gelungen wäre, das Wasser zu überqueren und das ferne Ufer zu erreichen – wohin hätte sie sich dann wenden sollen? Nein, es war besser für sie, hier zu bleiben, auf der Insel, die Udru’h kannte. Vielleicht brachte er sie eines Tages zur Zivilisation zurück…

»Ich weiß, was Sie machen«, sagte Nira. »Ihr Leben ist eine Lüge. Alles auf Dobro ist eine Lüge, und Sie verstecken mich hier so, wie Sie auch die Nachkommen der Burton-Siedler verstecken.«

»Vielleicht.« Der Designierte trat einen weiteren Schritt zurück, näher an den Shuttle heran, und seine Unruhe wuchs. Er wollte so schnell wie möglich zur Zuchtkolonie zurück, wo er die beruhigende Präsenz anderer Ildiraner fühlen konnte. »Aber es war notwendig, Sie hierher zu bringen. Menschen lassen sich leicht täuschen. Mein Bruder Jora’h ist nicht so… leichtgläubig.«

»Nein«, erwiderte Nira mit einem Lächeln. »Er wird mich finden.«