29 WEISER IMPERATOR JORA’H

Udru’h war altersmäßig sein nächster Bruder – und der letzte Ildiraner im Reich, den Jora’h sehen wollte. Der Dobro-Designierte trug für das Zuchtprogramm noch mehr Verantwortung als der frühere Weise Imperator Cyroc’h. Doch als Jora’h Vorbereitungen dafür traf, selbst nach Dobro zu fliegen, verlangte er von seinem Bruder einen vollständigen Bericht über Nira. Udru’h konnte sie aus den Zuchtlagern holen und retten.

Beim förmlichen Empfang seines Bruders saß Jora’h im hellen, bunten Licht, das durch die Kuppel der Himmelssphäre fiel. Das gewaltige Arboretum über ihm enthielt Bäume, Blumen, Farne, schmetterlingartige Geschöpfe und Federsummer. Getreue Wächter umgaben den auf einem Podium stehenden Chrysalissessel.

»Sag mir: Hast du sie gefunden?« Der Weise Imperator beugte sich in seinem Chrysalissessel vor. Er hatte die vielen Pilger und Besucher aus allen Geschlechtern fortgeschickt, denn bei dieser Begegnung wollte er mit Udru’h allein sein.

Das Gesicht des Dobro-Designierten wirkte wie aus Stein gemeißelt. Sein geschorener Kopf war noch immer makellos glatt, obgleich einige der anderen Designierten nach Cyroc’hs Kremation damit begonnen hatten, ihr Haar wieder wachsen zu lassen. Seine Kleidung war neutral, und er verzichtete darauf, sich mit den bunt schimmernden Kristallen oder Sonnenenergiestreifen zu schmücken, die viele Höflinge trugen.

Udru’h hob das Kinn, und das helle Licht der Himmelssphäre glitzerte in seinen Augen. »Ich habe gerade die Informationen von Dobro bekommen, die du angefordert hast, Herr.«

»Nun? Erzähl mir von Nira. Wenn du sie verletzt hast…«

Der Designierte senkte den Blick. »Leider muss ich dir mitteilen, dass die menschliche grüne Priesterin ums Leben gekommen ist, Herr. Der Grund dafür ist ein Unglück, für das ich nicht verantwortlich bin.«

Jora’h rückte noch etwas weiter im Chrysalissessel vor und schloss die Hände so fest um den Rand, als wollte er ihn zerbrechen. »Was?« Zorn und jäher Kummer durchzuckten ihn, fegten die neu erwachte Hoffnung fort. »Du hast sie umgebracht!«

»Nein, Herr. Wie ich schon sagte: Es war ein Unglück, ein schreckliches Unglück. Während des Durcheinanders nach dem Tod unseres Vaters gerieten viele Ildiraner in Panik, als sie die Verbindung zum Thism verloren. Sie waren außer Kontrolle. Die grüne Priesterin versuchte zu fliehen, und einige der Dobro-Wächter haben… zu heftig reagiert.«

Nira war tot! »Warum habe ich nichts davon gespürt? Warum habe ich nichts davon erfahren?«

Udru’h blieb kühl und rational. »Wir waren alle voneinander getrennt, bevor du zum neuen Weisen Imperator wurdest, Herr. Ich hatte keine Kontrolle über meine Soldaten.«

Jora’h wusste, dass sein Bruder die Wahrheit sagte. Sein Vater hatte ihn einst mit einer Geschichte über Niras Tod belogen, aber diesmal konnte es nicht erfunden sein. Kein Designierter war jemals imstande gewesen, die Wahrheit vor dem Weisen Imperator zu verbergen. Eine gähnende Leere formte sich in Jora’hs Herz, wie ein Schwarzes Loch.

Udru’h hatte schließlich den Anstand, beschämt den Kopf zu senken. »Ich entschuldige mich für den Kummer, den dir dies bereitet. Ich weiß, dass die grüne Priesterin die Mutter deiner Tochter Osira’h und einiger anderer Halbblutkinder war.«

»Deine Machenschaften auf Dobro haben mir großen Schmerz bereitet.« Erneut sammelte Jora’h seine Entschlossenheit, einen Weg zu finden, das Zuchtprogramm zu beenden und gleichzeitig das Ildiranische Reich vor den Hydrogern zu retten. »Wann bist du mit dem zufrieden, was du erreicht hast?«

»Ich werde zufrieden sein, wenn ich zum Wohle des Reiches einen Erfolg erzielt habe, Herr. Alle meine Anstrengungen haben zum Zweck, uns eine Möglichkeit zu geben, den Hydrogern zu widerstehen. Deine Tochter könnte dabei eine wichtige Rolle spielen.« Udru’h blieb unerschütterlich. »Selbst wenn du mir nicht glaubst, selbst wenn du denkst, dass ich die menschliche Frau aus reiner Bosheit getötet habe… Berücksichtige dabei, dass ich eine so außergewöhnliche Ressource nicht absichtlich vergeudet hätte. Es war wirklich ein Unglück.«

Jora’h tastete an dem hellen mentalen Faden entlang, der ihn mit allen seinen Untertanen verband, insbesondere mit seinen Brüdern und adlig geborenen Söhnen. Der Dobro-Designierte hatte ein starkes Bewusstsein und eine feste Präsenz im Thism, und Jora’h konnte keine direkte Täuschung erkennen. Udru’h ließ die geistige Sondierung ohne ein Zeichen von Nervosität über sich ergehen.

Der Kummer war erstickend. Jora’h war erst seit kurzer Zeit Weiser Imperator und hatte nach wenigen Tagen zu seiner geliebten Nira eilen wollen, doch jetzt war es zu spät. Ja, sie musste wirklich tot sein. Er hatte Unrecht wieder gutmachen wollen, doch dazu gab es jetzt keine Möglichkeit mehr.

Der Weise Imperator beugte sich zitternd vor. Seine Stimme war heiser. »Ich möchte, dass du die Kontrolle über Dobro so schnell wie möglich abgibst, Udru’h. Daro’h ist der Designierte-in-Bereitschaft, und du wirst ihn alles lehren, was er wissen muss.«

»So verlangt es die Tradition, Herr. Ich werde natürlich deinen Anweisungen gehorchen.«

Jora’h dachte an seinen Sohn, einen intelligenten und hilfsbereiten jungen Mann. Es widerstrebte ihm, Daro’h an einen so strengen, düsteren Ort zu schicken, aber die ildiranische Tradition hatte das Gewicht eines Gesetzes. Aufgrund seines Platzes in der Geburtsordnung, nicht wegen seiner Befähigung, war der zweite Sohn immer dazu bestimmt gewesen, der Designierte-in-Bereitschaft für Dobro zu werden. Von jetzt an wollte Jora’h die dort stattfindenden Experimente genauer im Auge behalten – bis er eine Möglichkeit fand, sie zu beenden.

Falls sie beendet werden konnten.

»Selbst wenn Nira tot ist, Udru’h… Ich habe trotzdem vor, nach Dobro zu fliegen, um dort einen direkten Eindruck vom Zuchtprogramm zu gewinnen und festzustellen, wie du die menschlichen Gefangenen behandelst. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das Unrecht wieder gutzumachen, das dort seit Generationen geschieht.«

Aber jetzt gab es keinen Grund mehr zu Eile. Nira war tot.

Und wenn Jora’hs Vater Recht hatte? Brachte die Befreiung der menschlichen Versuchsobjekte dem Ildiranischen Reich Unheil? Die Hydroger setzten ihre Angriffe fort. Ein neues Bündnis musste geschaffen werden…

Oben in der Himmelssphäre zwitscherten Vögel. Jora’h sah zur üppigen Vegetation empor, dachte dabei an die schöne Nira und ihre Arbeit als grüne Priesterin, an die herrlichen Wälder auf Theroc und die intelligenten Weltbäume. »Und ich möchte endlich meine Tochter kennen lernen.«

Er bemerkte den Glanz von echtem Stolz und Respekt in den Augen seines Bruders. »Ja, Herr, du solltest Osira’h sehen. Dann wirst du verstehen, dass alle unsere Bemühungen gerechtfertigt waren. Deine Tochter wird dem Ildiranischen Reich in diesem Krieg Sicherheit gewähren.«

Angehörige des Bediensteten-Geschlechts trugen einen ruhelosen Weisen Imperator zu einer hohen Plattform auf dem höchsten Turm des Prismapalastes. Sein Bruder Rusa’h stand dort im warmen Licht der vielen Sonnen, in ein fahles Gewand gekleidet, den Kopf nach hinten geneigt, sodass ihm der Sonnenschein aufs Gesicht fiel. Ohne zu blinzeln blickte er in den strahlenden Glanz, als bestünde überhaupt keine Gefahr zu erblinden. Vier neugierige Ildiraner des Linsen-Geschlechts und zwei Erinnerer umgaben den vor kurzer Zeit erwachten Hyrillka-Designierten – sie alle wollten hören, was er zu berichten hatte.

Rusa’h hatte nach Worten gesucht, um seine Erlebnisse und Offenbarungen während des Subthism-Schlafs zum Ausdruck zu bringen. Die aufmerksamen Erinnerer prägten sich alles ein. Die Angehörigen des Linsen-Geschlechts staunten über seine Beschreibungen und überlegten, welche Folgen sich dadurch für die Dinge ergaben, die sie lehrten und an die sie glaubten. Sie alle drehten sich um, als der Weise Imperator eintraf.

Jora’h sah seinen jüngeren Bruder an, dessen Blick auch weiterhin den Sonnen galt. »Willst du die verlorene Zeit aufholen und all das Licht empfangen, das du während deines langen Schlafs versäumt hast?«

Rusa’h drehte sich langsam zu ihm um. »Ich habe die Lichtquelle gesehen. Weder die Sonnen am ildiranischen Himmel und noch die des ganzen Horizont-Clusters halten einem Vergleich damit stand.« Der früher so hedonistische Rusa’h hatte Gesellschaft geliebt, immerzu gefeiert, Musikanten zugehört und Tänzern zugesehen. Doch der Designierte, der aus dem langen Subthism-Schlaf erwacht war, wirkte zurückgezogen und besorgt.

Rusa’h schickte die Ildiraner aus dem Linsen-Geschlecht und die Erinnerer fort, wandte sich dann dem Weisen Imperator zu. »Ich muss sofort nach Hyrillka zurückkehren. Mein Volk braucht mich. Es ist schon zu lange ohne… richtige Führung.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung. Pery’h sollte dich begleiten. Es wird Zeit, alle Designierten-in-Bereitschaft zu ihren Welten zu schicken.«

In Rusa’hs Gesicht zeigte sich weder Wärme noch Willkommen für seinen Nachfolger. »Pery’h…« Er schien Mühe zu haben, sich daran zu erinnern, wer der junge Mann war. »Und Thor’h. Ja… Thor’h.«

»Thor’h ist jetzt mein Erstdesignierter«, sagte Jora’h.

»Er könnte mir… sehr helfen, in dieser Zeit des großen Wandels.«

»Der Designierte-in-Bereitschaft kann diese Hilfe leisten. Darin besteht seine Aufgabe.«

Es war erstaunlich, dass Rusa’h auf seinem Anliegen beharrte. »Thor’h weiß viel über Hyrillka und darüber, wie diese Welt früher war. Und er kennt mich. Pery’h muss erst noch alles lernen.« Rusa’hs Gesicht zeigte keine Bitte, sondern ein echtes Bedürfnis, und als Jora’h das sah, legte sich sein Ärger. Vielleicht war es ganz gut für den unreifen Thor’h, wenn er an einer so wichtigen Aufgabe mitwirkte wie dem Wiederaufbau von Hyrillka. Jora’h konnte seinen ältesten Sohn jederzeit zurückrufen, wenn er ihn brauchte, und Rusa’h benötigte ganz offensichtlich Hilfe.

»Na schön, der Erstdesignierter kann dir vorübergehend Gesellschaft leisten und beim Übergang helfen. Dadurch wird das Reich stärker.«

»Ja.« Rusa’h blickte zu den gleißenden Sonnen empor. »Vielleicht noch stärker als vorher.«