71 NIKKO CHAN TYLER
Nikko transportierte Wental-Wasser und setzte die mächtigen Entitäten auf unbewohnten Welten aus; deshalb hielt er es für angemessen, sein Schiff Aquarius zu nennen.
Sein Vater und er hatten es vor Jahren aus den Teilen mehrerer Wracks gebaut, die dem Tyler-Clan gehörten. Nach dem Ende der Ekti-Produktion in der Atmosphäre von Ptoro verfügte der Clan über viele geborgene Schiffe, Frachter und Ausrüstungsteile, die nicht mehr gebraucht wurden. Nikko hatte seinem Raumschiff einen größeren Frachtraum gegeben, ein leistungsfähigeres Triebwerk und Tanks, die mehr Treibstoff aufnehmen konnten. Vor kurzer Zeit waren spezielle Behälter für das Wental-Wasser hinzugekommen. Die Aquarius war ein gutes Schiff, auch wenn sie ein wenig seltsam aussah.
Jess Tamblyn hatte die Wasserträger in unerforschte Bereiche des Spiralarms geschickt, auf der Grundlage der alten ildiranischen Sternkarten. Nikko und die anderen halfen den Entitäten nicht nur dabei, sich auszubreiten und wieder stark zu werden – sie fanden auch Planeten, auf die niemand Anspruch erhob und die von Roamern verwendet werden konnten.
Ohne einen strikten Zeitplan und ohne ein bestimmtes Ziel zu fliegen – das kam Nikkos Neigungen entgegen. Er traf nur selten ein, wann und wo man ihn erwartete, und bei dieser Mission brauchte er keine Verlegenheit zu fürchten, weil er sich hatte ablenken lassen. Die Wentals in ihren Behältern schien es nicht zu kümmern. Die Wasserwesen lebten nach einem anderen zeitlichen Maßstab und freuten sich einfach darüber, dass sich das Blatt im Spiralarm bald wenden würde.
Nikko verzeichnete das nächste offizielle Ziel im Logbuch, ohne sich daran gebunden zu fühlen, lehnte sich dann nachdenklich zurück und sah ins All. »Ich glaube… wir machen einen Abstecher nach Ptoro«, sagte er laut und erhoffte sich eine Antwort. Immerhin hatte Jess schon vor seiner Verwandlung mit den Wentals kommuniziert. »Ich weiß, dass es dort kein Wasser für euch gibt, aber ich verspreche euch, dass ich anschließend einen Wasserplaneten suchen werde. Seitdem die Tiwis bei Ptoro eine Klikiss-Fackel eingesetzt haben, ist niemand mehr dort gewesen. Ich möchte einige Aufnahmen für meine Eltern anfertigen, obwohl sie beide Ptoro hassen.«
Nikko dachte an die Geschichte seiner Familie und fragte sich, ob den Wentals die Informationen in seinem Kopf zur Verfügung standen. Sein Urgroßvater hatte eine alte ildiranische Himmelsmine über Ptoro gekauft – eine Monstrosität –, und zwei Generationen lang hatte der Tyler-Clan sie betrieben, obgleich sie nicht besonders effizient gewesen war. Sie waren zurechtgekommen, ohne genug zu erwirtschaften, um die Anlagen zu modernisieren. Nikkos Vater Crim hatte es bedauert, in die Fußstapfen seines Großvaters treten zu müssen.
Die Wolken über Ptoro waren immer kalt gewesen. Die alte Ekti-Fabrik hatte quietschende und knarrende Geräusche verursacht, und Crim hatte sein ganzes Leben lang darüber geklagt. Nikko hatte seine Jugend damit verbracht, in der alten Himmelsmine zu frösteln und auf eisengraue Wolken hinabzustarren.
Crims Frau Maria Chan stammte aus einem Asteroiden-Treibhauskomplex, der Lebensmittel für Roamer-Siedlungen produzierte. In den Chan-Treibhäusern war es immer warm und hell gewesen, und deshalb hatte sich Nikkos Mutter nie an die kalten grauen Wolken von Ptoro gewöhnt. Als die Hydroger ein Ende der Ekti-Produktion in den Atmosphären von Gasriesen verlangt hatten, war Crim froh gewesen, die Himmelsmine aufgeben zu können. Er hatte sie zum Schrottpreis verkauft und das Geld in die Chan-Treibhäuser investiert. Jetzt arbeiteten Maria und er glücklich in hellem Sonnenschein und bauten Nahrungspflanzen an.
Nikko war immer ruhelos gewesen. Als wahrer Roamer, den es von Stern zu Stern zog, hatte er Arbeit als Frachterpilot gefunden und die Außenposten der Roamer mit Ekti versorgt. Er mochte die Aufregung von Rendezvous und des Hurricane-Depots, ertrug den Lärm und die rege Betriebsamkeit jedoch nur für eine bestimmte Zeit – es dauerte nicht lange, bis er wieder das Bedürfnis verspürte, an Bord seines Schiffes zu gehen und allein durchs All zu fliegen.
Die Wental-Mission war der ideale Job für ihn.
Die Berechnung des Kurses nach Ptoro fiel ihm nicht besonders schwer, denn er war schon mehrmals dort gewesen. Als er den früheren Gasriesen erreichte, begann er mit Sondierungen und suchte nach Erkundungsschiffen der TVF oder zurückgelassenen Beobachtungsplattformen. Doch er sah nur eine lodernde Kugel dort, wo sich zuvor eine kalte graue Welt befunden hatte.
Die Große Gans hatte den Planeten in eine Sonne verwandelt und den Hydrogern damit eine Lektion erteilt, hoffte Nikko.
Als er sich dem brennenden Ball näherte, bemerkte er ellipsoide Gebilde, die unabhängig voneinander hin und her glitten… Es schien sich um lebende Objekte zu handeln. Sie flogen durch die heißen Gasschichten, stiegen auf und sanken, erweckten dabei den Eindruck, sich in der Glut wohl zu fühlen. Nikko hatte nicht damit gerechnet, die Feuerentitäten mit eigenen Augen zu sehen.
Sei vorsichtig. Die Worte erklangen in seinem Kopf. Die Wentals sprachen zu ihm, so wie sie an Bord des Nebelseglers zu Jess Tamblyn gesprochen hatten.
»Besteht Gefahr? Auf Theroc haben die Faeros den Menschen gegen die Hydroger geholfen.«
Sie sind launisch und nicht vertrauenswürdig. Derzeit kämpfen sie gegen die Hydroger, doch das könnte sich ändern.
Nikkos Schiff war nicht bewaffnet, und deshalb hielt er es für besser, sich von Ptoro zu entfernen. Der Umstand, dass die Wentals endlich zu ihm sprachen, bescherte ihm noch mehr Aufregung als die Sichtung der Faeros.
In einem nahen Sonnensystem zeigten die ildiranischen Sternkarten einen namenlosen Planeten mit großen Meeren und kalten Seen. Nikko beschloss, dorthin zu fliegen, berechnete den Kurs, verglich die Daten mit den Koordinaten und korrigierte einen kleinen Fehler, bevor er das Navigationssystem programmierte.
Anschließend versuchte er, das Gespräch mit den Wentals fortzusetzen. »Faeros, Wentals, Hydroger. Worum ging es bei dem alten Krieg? Warum habt ihr überhaupt gegen die Hydroger gekämpft? Warum habt ihr euch mit den Weltbäumen verbündet und… Womit haben die Faeros euer Misstrauen verdient? Kämpften damals alle Wentals auf der gleichen Seite?«
Nikko spürte eine vibrierende Präsenz im Kopf. Die Wentals sind im Wesentlichen eine einzige Entität. Zwar existieren wir an unterschiedlichen Orten, aber unsere Gedanken und Selbstsphären sind miteinander verbunden.
»Wie bei den Weltbäumen.«
Es lässt sich damit vergleichen. Allerdings gab es in der Vergangenheit Gelegenheiten, bei denen Teile des Wentalkörpers… verdarben.
Nikko wartete neugierig, aber die Wasserentitäten fügten diesen Worten keine Erklärung hinzu. »Was meint ihr mit ›verdarben‹? Wie fauliges Wasser?«
Die subtilen Details wären unverständlich für dich, so wie die Hintergründe des damaligen Krieges.
»Ihr könntet zumindest versuchen, es mir zu erklären.«
Die Wasserwesen übermittelten verwirrende Bilder, Momentaufnahmen von Hydrogern und Wentals, gewaltigen Feuerkreaturen und verdorrender Wälder. Nikko fühlte das Entsetzen und den Schrecken des kosmischen Krieges, und es überraschte ihn zu erfahren, dass die insektoiden Klikiss und sogar die Ildiraner daran beteiligt gewesen waren. Er wusste noch immer nicht, wofür die mächtigen körperlosen Wesen gekämpft hatten, aber die Gründe spielten keine Rolle mehr. Wie benommen flog er sein Schiff.
Als Heranwachsender hatte er in Rendezvous über Jahre hinweg beim Unterricht von den irdischen Regierungen und der Clangeschichte gehört. Der Gouvernanten-Kompi UR hatte endlose Fragen beantwortet, denn die Roamer-Kinder verstanden die Konflikte der Menschheit nicht.
»Ich wette, die Gründe für den damaligen Krieg waren dumm oder trivial«, brummte Nikko. »Wie bei den Kriegen der Menschen.«
Die Aquarius flog mit hoher Geschwindigkeit durchs All. Jess Tamblyns Mission erforderte viel Ekti, aber Sprecherin Peroni und die Clan-Oberhäupter hatten den notwendigen Treibstoff bewilligt. Nach dem Abbruch der Handelsbeziehungen mit der Großen Gans waren die Ekti-Vorräte der Roamer etwas größer als vorher. Gab es eine bessere Verwendung dafür als einen mächtigen Verbündeten gegen die Droger zu gewinnen? Es freute Nikko, dass er einen Beitrag dazu leisten konnte.
Als er einen Ortungsreflex auf dem Schirm sah, erwachte er aus seiner Benommenheit. Offenbar näherte er sich dem Ziel… aber das Sonnensystem befand sich nicht dort, wo er es erwartete. Er runzelte die Stirn, überprüfte die Koordinaten, verglich sie mit den ildiranischen Karten und stellte fest, dass er vom falschen Nullpunkt ausgegangen war. Er seufzte und begriff, dass er sich verirrt hatte, wieder einmal. Andererseits… Dieser Ort war so gut wie jeder andere.
Er änderte den Kurs, aktivierte Sensoren und Scanner.
Das Sonnensystem vor der Aquarius – er wusste nicht einmal, ob es in den Karten verzeichnet war – hatte einen Planeten mit einem großen Meer. »Na bitte. Eine neue Heimat für euch.«
Die Wentals in ihren Behältern schienen zufrieden zu sein. Wir werden uns vermehren und ausbreiten. Unsere Kraft wird erneut zunehmen.
Nikko schwenkte in die Umlaufbahn und wischte sich erleichtert Schweiß von der Stirn. Dies war ein echter Glücksfall. »Bleibt nur bei mir. Ich bringe euch durch den ganzen Spiralarm, so oder so.«