107 ANTON COLICOS

Allein in der tiefsten Nacht von Maratha versuchten Anton und siebenunddreißig ängstliche Ildiraner, das Licht lange genug brennen zu lassen, um zu überleben.

Ingenieur Nur’of verband die letzten noch funktionierenden Energiezellen miteinander, um die wichtigsten Systeme der Kuppelstadt in Funktion zu halten. Der Maratha-Designierte verlangte, dass es überall hell sein sollte, aber die Energie reichte nur noch für einige Tage.

»Secda bietet vielleicht Sicherheit, doch diese Leute fürchten sich davor, die Dunkelheit zu durchqueren«, sagte Erinnerer Vao’sh zu Anton. »Es gibt Gefahren außerhalb der Kuppel, und wir haben kaum genug Ildiraner für eine Splitter-Kolonie.«

»Gefahr lauert auch hier, Vao’sh, und früher oder später müssen wir aufbrechen. Wir sollten keine Zeit verlieren.« Anton rang sich ein Lächeln ab. »Wenn es hilft, könnte ich einige irdische Parabeln erzählen, die vor dem Zaudern warnen.«

Als der Designierte einsah, dass keine Rettung kommen würde, wies er seinen Assistenten an, alles für den Aufbruch vorzubereiten. Anton begleitete Bhali’v und den Linsen-Ildiraner Ilure’l mit einem Glänzer zum Fahrzeughangar. Die drei Männer streiften reflektierende Hautfilme über, die eigentlich dazu bestimmt waren, vor Hitze und Sonnenschein des hellen Tages zu schützen. Jetzt hielten die Schichten aus synthetischem Stoff die Kälte der langen Nacht fern.

Als sie über den dunklen Boden stapften, bemerkte Anton, dass die Hangartür beschädigt aussah. Weitere böswillige Sabotage oder nur schlechte Wartung? Bhali’v öffnete die Tür und eilte zu den drei schnellen Oberflächenfliegern im Hangar.

Als Anton, Vao’sh und eine Gruppe aus ildiranischen Freiwilligen Secdas Baustelle besucht hatten, waren sie mit einem solchen Vehikel unterwegs gewesen. Nachdem die Nacht über Maratha Prime hereingebrochen war, hatten die Ildiraner die Flieger außer Dienst gestellt. Jetzt boten sie Anton und den Ildiranern die einzige Möglichkeit, zur Tagseite des Planeten zu gelangen.

Ilure’l wirkte sehr nervös. Er schien noch immer zu glauben, dass die Shana Rei aus Vao’shs Geschichte auf eine Gelegenheit warteten, über sie herzufallen. Anton hingegen dachte nicht an irgendwelche geheimnisvollen Wesen, sondern die tatsächlich existierenden Saboteure.

Der Assistent des Designierten inspizierte die drei Flieger, überprüfte sie mithilfe einer Checkliste und machte sich Notizen auf einer Diamantkristalltafel. »Alles scheint zu funktionieren. Diese Fahrzeuge können uns nach Secda bringen, wo die Roboter uns willkommen heißen werden. Ich teile uns in drei Gruppen ein.«

Sie kehrten zu den Ildiranern zurück, die im hellen Teil der Kuppel auf sie warteten, und Bhali’v entwickelte auch einen Plan, der vorsah, jeden Flieger mit einem Vorrat an Proviant und Ausrüstungsmaterial auszustatten. Zwar konnten die schnellen Flugmaschinen die weite Strecke in nur anderthalb Tagen zurücklegen, aber die Flüchtlinge wussten nicht, wie lange sie am Ziel auf die Hilfe der Roboter warten mussten.

Es überraschte Anton noch immer, wie gut er mit der angespannten Lage fertig wurde. Er blieb kühl und vernünftig, fand Kraft und einen Mut, von dessen Existenz er bis dahin gar nichts gewusst hatte. Vielleicht war er doch mehr als nur ein Sesselabenteurer; vielleicht hatte er aus all den Geschichten tatsächlich etwas gelernt. Um die Ildiraner davor zu bewahren, in Panik zu geraten, erzählte er aus seinem Repertoire Geschichten über Tapferkeit und Entschlossenheit. Besonders angetan zeigten sich seine Zuhörer, unter ihnen auch Vao’sh, von dem holländischen Jungen, der mit seinem Finger ein Loch im Damm abgedichtet hatte. Es war eine einfache Geschichte, aber sie ähnelte den Ereignissen, über die die Saga der Sieben Sonnen berichtete.

Als Ingenieur Nur’of bekannt gab, dass die Oberflächenflieger startbereit waren, verkündete der Designierte Avi’h mit übertriebener Zufriedenheit: »Ich habe erneut mit den Klikiss-Robotern in Maratha Secda kommuniziert. Sie warten auf uns.«

»Dann sollten wir uns besser auf den Weg machen«, sagte Anton mit gespielter Fröhlichkeit. »Bevor hier erneut das Licht ausgeht.« Die Worte sollten eigentlich ein Scherz sein, aber für die Ildiraner bildeten sie genau den Ansporn, den sie brauchten.

Sie streiften Schutzkleidung über und verließen die Kuppel mit kleinen Glänzern. Der Designierte trug den hellsten und ging voraus, unter Sternen, die viel zu weit entfernt waren. Selbst der kurze Weg zum Hangar schien für die Ildiraner fast zu viel zu sein. Avi’h behauptete, durch das Thism Kraft von seinem Bruder, dem Weisen Imperator, zu bekommen, und ging mit raschen Schritten voran.

Anton und die Ildiraner teilten sich in drei Gruppen und eilten durch den erleuchteten Hangar zu ihren jeweiligen Fliegern. Der menschliche Historiker und Vao’sh würden zusammen mit dem Maratha-Designierten und seinem Assistenten sowie den Linsen-Ildiranern, Bauern, Gräbern und Technikern unterwegs sein.

Der Designierte Avi’h wollte möglichst schnell aufbrechen, aber Vao’sh wies ihn leise darauf hin, dass es heldenhafter für ihn wäre, wenn er die beiden anderen Flieger zuerst starten ließ. »Denken Sie daran, dass wir hier an Ereignissen teilnehmen, die Eingang in die Saga der Sieben Sonnen finden, Designierter. Wie soll man sich an Sie erinnern?«

Bhali’v stimmte Vao’sh zu. »Sie sind unser Anführer, Designierter. Sie sind unsere Verbindung mit dem Weisen Imperator und durch ihn mit der Lichtquelle.« Der pragmatische Assistent fügte hinzu: »Indem Sie zuletzt starten, erlauben Sie den beiden anderen Fliegern, den Weg vorzubereiten und den Empfang zu sichern.«

Avi’h gab entsprechende Anweisungen. Das Triebwerk des ersten Fliegers zündete, und Anton fühlte tiefe Erleichterung, als die Flugmaschine aufstieg, beschleunigte und dem fernen Tag entgegenflog.

Das Triebwerk des zweiten Fliegers donnerte, als Anton neben Vao’sh Platz nahm. Ingenieur Nur’of ging bereits Pläne durch, die er mitgebracht hatte. Während er darauf wartete, dass sich alle Passagiere anschnallten, stellte er eine Liste des Materials zusammen, das ihnen in Secda zur Verfügung stand – der Designierte hatte ihn beauftragt, nach dem Erreichen der Baustelle auf der Tagseite einen Weg zu finden, den Planeten zu verlassen.

Anton überprüfte seine persönlichen Unterlagen und vergewisserte sich, dass er nichts zurückgelassen hatte. Über Monate hinweg war er damit beschäftigt gewesen, Teile der Saga zu übersetzen und zu analysieren. Viele Historiker von der Hanse hatten sich um die Chance bemüht, mit einem ildiranischen Erinnerer zusammenzuarbeiten, aber bisher war es nur Anton Colicos vergönnt gewesen, sich diesen Traum zu erfüllen. Es war ein intellektueller und akademischer Coup, dem seine Kollegen nichts entgegensetzen konnten. Seine Zeit bei den Ildiranern, die Freundschaft mit Vao’sh, jetzt die Flucht von Maratha Prime zur anderen Seite des Planeten, ganz zu schweigen von dem Hinweis, dass sein Vater tot war und seine Mutter vermisst wurde… Dies alles musste er erst einmal verarbeiten. Es ging weit über seine ursprüngliche Absicht hinaus, ildiranische Mythen und Legenden zu übersetzen.

Anton sah den Erinnerer an. »Freuen Sie sich darauf, selbst eine legendäre Gestalt in der Saga zu werden, anstatt immer nur von welchen zu erzählen?«

Die Hautlappen in Vao’shs Gesicht zeigten viele verschiedene Farben. »Nein, Erinnerer Anton. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber Geschichten erzählen, als sie selbst zu erleben.«

Der zweite Flieger war inzwischen gestartet, und die dritte Maschine stieg ebenfalls auf. Nur’of fungierte als Pilot, denn er brachte die besten Voraussetzungen dafür mit. Bhali’v saß an der Kommunikationskonsole und hielt mit den beiden anderen Fliegern Kontakt. Sie flogen dicht über dem unebenen Boden dahin, über eine öde und leblos wirkende Landschaft. Anton blickte aus dem dunklen Fenster, während sich die Ildiraner zusammendrängten, dem Licht zugewandt.

Mit jedem verstreichenden Moment kamen sie der Tagseite näher. Der erste Flieger hatte einen solchen Vorsprung gewonnen, dass er hinter der Wölbung des Planeten verschwunden blieb. Das Triebwerk des zweiten zeigte sich als kleiner orangefarbener Fleck am Horizont.

Bhali’v runzelte die Stirn und überprüfte die Kommunikationssysteme. »Wir haben den Kontakt zum ersten Flieger verloren.« Er drehte den Kopf und sah zum Maratha-Designierten. »Ich empfange keine Signale mehr. Der Pilot wies auf ungewöhnliche Anzeigen hin… Und dann brach der Kontakt ab.«

»Was ist mit dem zweiten Flieger?«, fragte der Designierte Avi’h.

Anton fühlte sich von jäher Unruhe erfasst und beugte sich vor. Bhali’v bediente die Kommunikationskontrollen. »Bisher ist alles in Ordnung. Moment…«

Aus dem orangefarbenen Fleck am Horizont wurde ein plötzliches Gleißen.

Die Ildiraner waren verblüfft. »Kllar bekh!«, entfuhr es Ingenieur Nur’of, der sofort die Anzeigen überprüfte. »Der Flieger ist explodiert!«

Anton sprang auf. »Schalten Sie alles ab, Nur’of! Landen Sie! Jetzt sofort!«

»Aber hier draußen gibt es doch nichts«, klagte der Designierte Avi’h.

»Zwei Flieger explodieren kurz nacheinander?«, stieß Anton hervor. »Das kann wohl kaum ein Zufall sein. Wir befanden uns nur einige Flugminuten hinter dem zweiten; es bleibt also nicht viel Zeit.«

Der Ingenieur reduzierte die Geschwindigkeit, und wenige Sekunden später setzte der Flieger auf. Der Rumpf kratzte über den Boden. »Ich weiß nicht, ob Sabotage dahinter steckt oder ein Konstruktionsfehler. Möglicherweise befindet sich eine Bombe an Bord, ausgestattet mit einem Zeitzünder, den der Start aktivierte. Wir müssen so schnell wie möglich hinaus.«

Der Flieger verharrte, und Anton öffnete die Luke, hinter der Dunkelheit und Kälte warteten. »Nehmen Sie Ihre Glänzer, wenn Sie nicht darauf verzichten können, aber steigen Sie aus! Los!«

Erinnerer Vao’sh ergriff eine der mobilen Lampen und folgte dem menschlichen Gelehrten nach draußen, fort vom immer noch knackenden und summenden Flieger. Nur’of half den beiden Ildiranern des Bauern-Geschlechts, Mhas’k und Syl’k, durch die Luke.

»Wenn ich mich irre, können wir später zurückkehren!«, rief Anton. »Aber wenn ich Recht habe, so erfahren wir das in einer Minute. Laufen Sie!«

Dem Designierten Avi’h lag viel an seinem Leben. Er rannte los und zog Bhali’v hinter sich her.

Ingenieur Nur’of verließ den Flieger als Letzter. »Vielleicht lag es an einer Überhitzung des Triebwerks«, spekulierte er. »Mit der Landung könnten wir das Problem vermieden haben.«

Anton bedeutete ihnen allen, sich zu beeilen. »Möglicherweise gibt es eine ganz andere Ursache. Kommen Sie!« Derzeit vermutete er, dass die unbekannten Saboteure die Triebwerke der Flieger manipuliert hatten, damit sie nach einer gewissen Zeit explodierten. In Gedanken setzte er den Countdown fort.

Der Luft war sehr kalt, und die Finsternis wirkte undurchdringlich. Hier, fern von Maratha Prime und noch immer weit von Secda entfernt, fühlte sich auch Anton isoliert und hilflos. Die Ildiraner mussten regelrecht entsetzt sein. Schließlich blieben sie schnaufend stehen und hoben ihre Glänzer, die aussahen wie ein Schwarm Glühwürmchen.

Der Designierte Avi’h wandte sich Anton zu, und aus seiner Angst wurde Zorn. »Jetzt dürfte Ihnen klar sein, dass Sie übertrieben reagiert haben. War es unbedingt nötig…«

Eine Explosion zerriss den dritten Flieger und zündete den Treibstoff in den Tanks. Die Flugmaschine verwandelte sich in einen Feuerball; brennende Trümmerstücke flogen am Himmel hoch und fielen dann wie Meteore zu Boden. Für einige Sekunden war es taghell, doch das Licht spendete den Ildiranern keinen Trost.

Vao’sh sprach als Erster und brachte zum Ausdruck, was alle dachten. »Erinnerer Anton und Ingenieur Nur’of haben uns das Leben gerettet.«

»Aber wir sitzen mitten im Nichts fest«, stöhnte Ilure’l. »Wir sind der Dunkelheit und den Schatten ausgeliefert… und allem anderen, das hier lauert.«

»Nur zwölf von uns haben überlebt – und ein Mensch«, sagte Bhali’v. »Wir sind nicht annähernd genug für einen Splitter.«

Anton begriff, dass er die Ildiraner irgendwie zusammenhalten musste. »Es gibt noch Hoffnung. Die anderen beiden Flieger wurden vernichtet, aber wir sind dem Tod entronnen. Wir können überleben.« Er spürte die Verzweiflung der Ildiraner und wusste, dass sie Einsamkeit und Finsternis mehr fürchteten als verborgene Mörder. »Wir müssen uns gegenseitig helfen. Es hätte keinen Sinn, hier zu bleiben und auf Rettung zu hoffen.« Er deutete in Richtung Tagseite des Planeten und versuchte sich einzureden, am Horizont mattes Grau zu sehen. »Wir können nur eines tun – wir müssen zu Fuß gehen.« Er griff nach Vao’shs Arm und setzte sich in Bewegung.

»Unsere Geschichte in der Saga ist gerade noch interessanter geworden«, sagte der Erinnerer leise. »Hoffentlich überlebt einer von uns, um sie zu erzählen.«