80 ANTON COLICOS
Plötzliche Dunkelheit hüllte Maratha Prime ein, brachte ungläubige Verblüffung und Panik.
Die siebenunddreißig ildiranischen Arbeiter schnappten nach Luft, als rechneten sie mit dem Fall eines Henkerbeils. Anton hörte das Geräusch unsicherer Schritte, und dann klapperten Teller, als ängstliche Hände nach Halt suchten. Der Linsen-Ildiraner namens Ilure’l schrie auf, als hoffe er, das letzte Glühen fliehender Photonen, die kristallene Wände durchdrangen und sich in der Finsternis jenseits davon verloren, zurückrufen zu können.
»Was machen wir jetzt?«, jammerte jemand. Mhas’k? Anton konnte die Stimme niemandem zuordnen.
Zwar war er ebenso überrascht wie die anderen, aber er versuchte, die Ruhe zu bewahren, als er sich vom Tisch abstieß. »Vermutlich ist eine Sicherung durchgebrannt.« Seine Stimme klang geisterhaft und körperlos. »Bitte beruhigen Sie sich.«
»Wo ist mein Ingenieur?«, fragte der Designierte schrill. »Wie lautet noch sein Name?«
»Nur’of, Designierter.« Das war die dünne Stimme von Bhali’v.
Schließlich aktivierte Vik’k, einer von Nur’ofs Leuten, einen mobilen Glänzer, den er bei der Arbeit in den Tunneln benutzte. Die Ildiraner seufzten erleichtert. Sie drängten sich um den ernsten Arbeiter, blockierten damit das Licht für die anderen.
»Was ist geschehen?«, fragte der Designierte Avi’h. »Wer trägt hierfür die Verantwortung?«
»Die Shana Rei stecken dahinter! Sie haben es auf uns abgesehen!« Diese Worte stammten von Ilure’l. Der gebildete Ildiraner des Linsen-Geschlechts hätte es eigentlich besser wissen sollen, fand Anton.
»Seien Sie nicht dumm.« Er wandte sich an Vao’sh, der schockiert Platz nahm. »Ich schätze, wir sollten keine weiteren Schauergeschichten erzählen.«
»Ja, Erinnerer Anton, darauf verzichten wir besser.«
Ein anderer breitschultriger Tunnelarbeiter holte einen zweiten Glänzer hervor, und dadurch wurde es im großen Speisesaal noch etwas heller.
»Na bitte«, sagte Anton in einem beruhigenden Tonfall. »Es wird alles gut. Es gibt nichts zu befürchten.« Er schien der Einzige zu sein, der nicht der Panik nahe war.
Als er während des langen Tages eine Gruppe ildiranischer Touristen eingeladen hatte, mit ihm die große Baustelle von Maratha Secda zu besuchen, hatten sie vermutlich geglaubt, dass Anton nicht ganz richtig im Kopf war. Aber er hatte ihnen Geschichten von menschlichem Mut erzählt und einige dazu überredet, ihn zu begleiten. Jetzt starrten ihn die Ildiraner so an, als wäre ihm die Gefahr noch nicht klar geworden. Anton beschloss, nicht von Tapferkeit zu erzählen, sondern sich als tatkräftiger Held zu zeigen, obwohl er so etwas nur aus Büchern kannte.
»Na schön, denken wir einmal darüber nach. Bis es uns gelingt, die Generatoren zu reparieren… Haben Sie Kerzen?« Im unsteten Licht wandte er sich an die Ildiraner, die das Essen serviert hatten. »Gibt es in der Küche Kochflammen oder etwas in der Art?«
Als die Ildiraner unsicher nickten, nahm Anton zwei von ihnen und einen der beiden mobilen Glänzer mit sich. Es widerstrebte den anderen, die Lichtquelle aufzugeben, wenn auch nur vorübergehend, aber Anton blieb entschlossen. »Keine Sorge. Ich kehre mit mehr Licht zurück. Sehen Sie eine Art Investition darin!«
Er gab sich weiterhin gut gelaunt und optimistisch, als er mit den beiden Ildiranern aufbrach, bevor der Designierte reagieren und etwas anderes beschließen konnte.
Mit dem Licht des Glänzers schritten sie durch erschreckend dunkle Gänge, bis sie die Küche erreichten. In den dortigen Schränken fanden sie Schachteln mit Zündstangen und Brenngel. Mit dem neuen Licht kehrten sie zum Speisesaal zurück.
Der Maratha-Designierte überwand genug von seiner Furcht, um zornig zu werden. »Nur’of, Sie sind mein Ingenieur. Finden Sie heraus, was geschehen ist, und sorgen Sie dafür, dass es in dieser Stadt wieder hell wird.«
»Ich muss einen Glänzer und mehrere Arbeiter mitnehmen…«
»Beeilen Sie sich!«, heulte der Designierte Avi’h. »Die Zündstäbe halten nicht ewig.«
Anton legte dem Erinnerer Vao’sh beruhigend die Hand auf den Arm. »Ich begleite Nur’ofs Gruppe und leiste ihr Gesellschaft, bis wir herausfinden, was den Blackout verursacht hat. Bleiben Sie hier und erzählen Sie den anderen lustige Geschichten. Unterhalten Sie sie. Leuchten Sie sich ins Gesicht, damit man die Farben Ihrer Hautlappen sehen kann.«
Anton, der Ingenieur und vier Techniker brachen auf; mehrere Rampen brachten sie in die unteren Bereiche der Kuppelstadt, wo eine bedrückende Stille herrschte. Einer der Techniker kramte in einem Ausrüstungsschrank, fand einen weiteren mobilen Glänzer und schaltete ihn rasch ein.
Zuvor hatten das dumpfe Brummen der Generatoren und das Summen der Maschinen wie ein heranziehendes Gewitter geklungen, doch jetzt war es totenstill. Der Energieausfall hatte alle Anlagen und Systeme von Maratha Prime stillgelegt.
»Ich habe ein oder zwei Explosionen gehört, unmittelbar bevor das Licht ausging«, wandte sich Anton an Nur’of. »Könnte einer der Generatoren explodiert sein?«
Der Ingenieur sah ihn aus großen Augen an. Das Licht des Glänzers schuf seltsame Schattenmuster in seinem Gesicht. »Bekh! Wir haben Notsysteme und Reservegeneratoren! Es kann nicht alles gleichzeitig ausgefallen sein.«
Als sie den Maschinenraum betraten, bekam Anton seine Antwort. Die Energie erzeugenden und verteilenden Aggregate waren zerstört, Turbinen zerfetzt, Kabel gerissen, Generatoren auseinander gebrochen.
Und es war ganz offensichtlich kein Unfall.
Als zumindest einige Lampen wieder brannten, kehrten Anton und die technische Gruppe zum Speisesaal zurück. Jubelrufe empfingen sie dort, und das Gesicht des Designierten zeigte tiefe Zufriedenheit.
Anton war die ganze Zeit über ruhig gewesen, was ihn selbst überraschte, denn sein Wissen stammte hauptsächlich aus Büchern und nicht aus direkter Erfahrung. Er hatte das Leben immer aus der Rolle eines distanzierten Beobachters gesehen und war gewiss kein Mann der Tat. Aber seine Eltern hatten ihn auch gelehrt, Probleme zu lösen, der eigenen Kraft zu vertrauen und nicht in Panik zu geraten. Er wusste, dass er der Einzige war, der mit dieser besonderen Situation fertig werden konnte. Mit freundlicher Konversation und Ratschlägen hatte er dafür gesorgt, dass sich Nur’of und seine Leute nicht in Unbehagen und Furcht verloren, während er ihnen dabei half, die Notsysteme zu lokalisieren und einen Weg zu finden, Energie von den unbeschädigten energetischen Reservoirs zur Hauptkuppel von Maratha Prime zu leiten. Das Bestreben, die Ildiraner zu beruhigen und zu ermutigen, hatte schließlich auch ihn selbst optimistischer werden lassen.
Nur’of trat vor den Designierten. »Wir verwenden die Energie der Reservebatterien für die Lebenserhaltungssysteme – die Generatoren sind vollkommen zerstört. Alle Hauptaggregate wurden sabotiert. Sabotiert! Jemand oder etwas kam durch die Tunnel und hat unsere Anlagen angegriffen.«
»Die Shana Rei«, beharrte der Linsen-Ildiraner.
»Die Shana Rei können nicht hierher gekommen sein«, sagte der Erinnerer mit fester Stimme, aber Anton glaubte, in den Farben der Hauptlappen Hinweise auf Ungewissheit und Verwirrung zu erkennen.
»Wir brauchen keine mythischen Geschöpfe zu erfinden, um dies zu erklären«, ließ sich Anton vernehmen.
»Nichts in der Saga ist mythisch«, erwiderte Ilure’l.
»Die Energiesysteme werden nicht lange funktionieren«, sagte Nur’of und kam wieder zur Sache. »Ich kann uns Licht und Wärme für höchstens einige Tage geben. Wir haben es hell genug, um zu planen, aber wir werden uns nicht sicher und geborgen fühlen. Die Kollektorreserven sind zerstört, und die neuen thermischen Leitungen liefern nur wenig Energie, die nicht lange reichen wird. Ein neuerlicher Ausfall der Systeme lässt sich nicht vermeiden. Selbst meine besten Batterien werden bald leer sein.«
»Was sollen wir machen, Designierter?«, entfuhr es dem Beamten neben Avi’h. »Wie können wir entkommen? Wohin sollen wir fliehen? Wer kann uns helfen?«
Avi’h hob das Kinn und sprach wie ein echter Designierter. »Wir müssen Energie für das Kommunikationssystem abzweigen und ein Signal senden.«
Anton wusste: Ohne einen grünen Priester würde ein Hilferuf den nächsten ildiranischen Planeten oder ein Schiff der Solaren Marine nicht rechtzeitig erreichen. Die Septa aus Kriegsschiffen, die den Designierten Avi’h nach Maratha gebracht hatte, war längst einige Sonnensysteme entfernt.
»Kann der Weise Imperator durchs Thism fühlen, was geschehen ist?«, fragte Anton. »Wird er Rettungsschiffe hierher schicken?«
Vao’sh schüttelte den Kopf. »Der Maratha-Designierte ist sein Bruder, nicht sein Sohn. Die Verbindung ist nicht perfekt. Wenn nichts anderes die Aufmerksamkeit des Weisen Imperators beansprucht, spürt er vielleicht unsere Notlage, aber nicht deutlich genug, um Rettungsschiffe zu entsenden.«
»Wer sonst kann uns helfen?« Es gelang Ilure’l, seine Furcht unter Kontrolle zu halten.
Der Beamte hatte eine Idee. »Wir könnten mit den Klikiss-Robotern in Maratha Secda Kontakt aufnehmen.«
Avi’hs Miene erhellte sich. »Ein ausgezeichneter Vorschlag, Bhali’v. Ja, die zweite Stadt dürfte inzwischen fast fertig gestellt sein, und dort gibt es Tageslicht. Die Roboter können uns helfen, und wir warten dort auf Rettung.«
Die Ildiraner plapperten erleichtert. »Wir entkommen.«
»Bald sind wir wieder im Sonnenschein!«
Anton fühlte sich von Unbehagen erfasst. »Einen Augenblick. Niemand von uns kann sagen, ob nicht die Klikiss-Roboter hinter unserer Situation stecken. Wer sonst befindet sich auf Maratha?«
»Die Shana Rei«, wiederholte Ilure’l. »Vielleicht haben sie all die unterirdischen Tunnel angelegt, dort, wo es immer dunkel ist.«
Bhali’v wirkte fast empört, als er Anton ansah und erwiderte: »Die Klikiss-Roboter haben hier jahrzehntelang für uns gearbeitet und kein Anzeichen von Verrat gezeigt. Warum sollten wir ihnen nicht vertrauen?«
Anton wölbte die Brauen. »Weil jemand die hiesigen Generatoren zerstört und uns das Licht genommen hat.«
Avi’h und Nur’of hörten nicht auf ihn und eilten zum Kommunikationsraum. Sie nahmen Glänzer und vorsichtshalber auch einen Zündstab mit, obwohl es genug Licht gab.
Vao’sh saß in stummer Sorge da, und Anton nahm neben dem Erinnerer Platz, der den Kopf mit den vielen Hautlappen schüttelte. »Sie glauben an die Shana Rei, weil sie sich keinen anderen Feind vorstellen können, der hierfür verantwortlich ist. Aber sie können es nicht gewesen sein! Das ist unmöglich.«
Als Nur’of und der Designierte später in den Speisesaal zurückkehrten, strahlten sie beide. »Wir bringen gute Nachrichten!«, sagte Avi’h. »Ich habe mit den Klikiss-Robotern in Secda gesprochen und ihnen unsere Situation erklärt. Sie sind bereit, uns in Secda unterzubringen, und es gibt auch ausreichend Lebensmittel für uns – wir können dort in aller Ruhe auf die Rettungsschiffe warten. Leider verfügen die Roboter nicht über Fahrzeuge, um uns abzuholen. Wir müssen selbst eine Möglichkeit finden, nach Secda zu gelangen.«
»Aber wie?«, fragte Ilure’l. »Maratha Secda liegt auf der anderen Seite des Planeten.«
Avi’h sah den Ingenieur an, der antwortete: »Wir müssen durch die Nacht reisen, um den Tag zu erreichen. Draußen in den Hangars stehen drei Oberflächenwagen bereit.«
Die Idee gefiel den Ildiranern nicht sonderlich, aber Anton hatte diese Reise schon einmal unternommen und wusste, das sie möglich war.
Als die Ildiraner brummten und klagten, ging Vao’shs Geduld zu Ende. Die scharfe Stimme des Erinnerers ließ die anderen verstummen. »Genug! Haben Sie Ingenieur Nur’of nicht zugehört? Die Energiesysteme fallen bald wieder aus, und dann herrscht endgültig Dunkelheit in Maratha Prime. Wenn wir nicht aufbrechen, bevor es zu spät ist, droht uns allen der Tod in Finsternis.«
Nach diesem Hinweis gab es keine Klagen mehr.