6 JESS TAMBLYN
»Vermutlich halten mich alle für tot.« Jess saß allein am Ufer eines vom Wind gepeitschten fremden Meeres, nackt und sauber, aber ohne zu frieren. Nie zuvor hatte er sich so isoliert gefühlt, und auch so… anders. Unnatürliche, explosive Energie prickelte unter seiner Haut, wie zu Entladungen bereit. Die Haare auf seiner Brust sahen normal aus, doch angesichts des veränderten Körpers wirkten sie völlig fehl am Platz.
Er lebte, obwohl sein Schiff von Hydrogern zerstört worden war. Jess erinnerte sich vage daran, nach dem Angriff durch die Wolken gefallen und in den Ozean gestürzt zu sein… Und dann war er wieder aufgetaucht und hatte sich von den Wellen schaukeln lassen, während er zum grauen Horizont sah. Er war nackt, die Kleidung verbrannt, aber er war unverletzt. Er schwamm in einem endlosen Meer, ohne Land in Sicht, ohne Nahrung, ohne eine Möglichkeit zu überleben, und allmählich wurde ihm klar, dass er all das in seiner neuen Existenz gar nicht brauchte. Die Wentals hielten ihn am Leben und gaben ihm Kraft. Er hätte für immer im Meer treiben können.
Sein veränderter Körper enthielt unermessliche Energie, ein Potenzial, das er niemals für möglich gehalten hätte. Doch er saß an einem leeren Ort fest, nicht dazu in der Lage, zu den Roamer-Clans heimzukehren oder andere Menschenwelten zu erreichen. Gespenstisches Wasserleben pulsierte in ihm und dem Ozean dieses unerforschten Planeten.
Die Hydroger hatten ihn dem Tod überlassen – und die Wentals hatten ihn gerettet.
An jenem ersten Tag, allein im Meer, hatte Jess große schwimmende Wesen in der Nähe gefühlt, den Plesiosauriern oder Seeschlangen aus den Legenden der Erde ähnlich. Einmal kam eins der hungrigen Ungeheuer aus der Tiefe empor, und Jess sah ein großes Maul, spitze Zähne und dornige Tentakel. Das grässliche Wesen näherte sich, um ihn zu verschlingen, doch die Wentals schützten ihn. Sie schickten eine Botschaft durchs Wasser und wiesen darauf hin, dass diesem Mann nichts geschehen durfte.
Ein Koloss war aufgetaucht, damit sich Jess an den knotigen Flossen auf dem schlüpfrigen, schleimigen Rücken festhalten konnte. Mit großer Geschwindigkeit sauste das Geschöpf durchs Wasser und brach durch Wellen, bis Jess schließlich eine dünne Linie aus Felsen und Brandung sah. Ein Meeresungeheuer brachte ihn an Land…
Zahllose Tage hatte er zwischen Gestrüpp und kargem Buschwerk gelebt, ohne essen zu müssen, und er sehnte sich nach menschlicher Gesellschaft, obwohl die Wentals immer in seinem Bewusstsein präsent waren. Lange Zeit beobachtete er gepanzerte, trilobitenartige Kreaturen, die endlos umherkrochen, einen Gezeitentümpel verließen und in den nächsten tauchten. Die Tage vergingen qualvoll langsam. Mit ausgestreckten Armen stand Jess da, wenn ein Gewitter über ihn hinwegzog, und dann badete er im Regen. Selbst die Blitze konnten ihm nichts anhaben.
Während des Flugs mit dem Nebelsegler hatte sich Jess nicht oft rasiert. Er hatte schulterlanges, welliges braunes Haar und einen Bart, der den Spalt in seinem Kinn bedeckte. Inzwischen wären Haareschneiden und Rasur gar nicht mehr nötig gewesen – seit der Verbindung mit den Wentals wuchsen weder Haare noch Bart.
»Ich wollte euch Wentals zu den Roamern bringen, damit ihr euch ausbreiten und wachsen könnt«, sagte Jess laut. »Und jetzt bin ich hier gestrandet. Wir sind besiegt, noch bevor wir anfangen konnten.«
Nicht besiegt. Wir sind jetzt stärker als vorher. Die summende Stimme erklang in seinem Kopf, die widerhallende Präsenz zahlreicher verschiedener Wentals. Wir haben zehntausend Jahre gewartet, um diesen Punkt zu erreichen. Wir können auch noch länger warten.
Am Rande des gewaltigen Ozeans saß Jess auf den schroffen Felsen und beobachtete, wie das blaugrüne Wasser am Riff Schaum bildete. Die verblüffende Macht, über die er nun verfügte, und die Rückkehr der Wentals – unter den gegenwärtigen Umständen nützte ihm das nichts. »Ich warte nicht gern.«
Am Horizont sah er dunkle Gewitterwolken, in denen es immer wieder flackerte. Er konnte enorm weit sehen und begriff, dass sein Blick der Wölbung des Planeten folgte. Er spürte, dass er dabei auf die visuelle Wahrnehmung aller Wental-Entitäten im globalen Ozean zurückgriff.
Es war wundervoll. Jess bedauerte nur, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte.
Auf der ersten Welt, zu der er die Wasserwesen gebracht hatte, war das Meer steril gewesen, ohne einen einzigen Organismus. Dort hatten die Wentals sofort vom ganzen Ozean Besitz ergriffen, sich rasend schnell in ihm ausgebreitet und jedes einzelne Molekül ihrer Essenz hinzugefügt – ein ganzer Planet war dadurch lebendig geworden.
Doch auf dieser Welt gab es bereits ein wenn auch primitives Ökosystem. Dieser Ozean enthielt Plankton, Pflanzen, Schalentiere und große Wesen. Auch hier hatten sich die Wentals ausgebreitet, aber vorsichtiger und zurückhaltender, ohne Einfluss auf die anderen Geschöpfe zu nehmen – sah man einmal von dem Ungetüm ab, das Jess zur Küste gebracht hatte.
Die Veränderungen in Jess waren irreversibel. Die Wental-Energie gehörte nun für immer zu seiner Physiologie. Vielleicht konnte er jene Kraft sogar dazu nutzen, seinem Volk zu helfen – wenn es ihm gelang, den Planeten zu verlassen.
Fast zwei Jahrhunderte lang hatten Roamer-Clans ihr Leben selbst unter den ungünstigsten Umständen bewältigt. Sie lösten Probleme, kamen mit innovativen Ideen und neuer Technik dort weiter, wo die Hanse aufgab.
Jess war sicher, dass es irgendwie möglich war, den Planeten zu verlassen.
Zwar konnten die Wasserentitäten seine Gedanken »hören«, aber trotzdem rief er übers Meer: »Wenn ihr Wentals so mächtig seid, warum dann warten? Es gibt viel zu tun!« Dort draußen, in den enormen Weiten des Spiralarms, setzten die Hydroger weiterhin den Außenposten der Roamer zu. »Im Spiralarm findet ein Krieg statt. Wollt ihr aufgeben, obwohl ihr eine zweite Chance bekommen habt?«
Wir fließen von Möglichkeit zu Möglichkeit. Das entspricht unserer Natur.
»Dann fließt zu einer anderen. Wie komme ich fort von hier? Ihr wolltet euch noch weiter ausbreiten, nicht wahr? Warum sollten wir einfach nur hoffen, dass irgendwann jemand hierher kommt? Vermutlich ist es Jahrhunderte her, seit zum letzten Mal jemand diesen Planeten besucht hat, wenn überhaupt jemals jemand hier war.« Jess nahm einen Stein und warf ihn ins Meer. Er verschwand darin, und das Wasser kräuselte sich nicht einmal.
Die Wentals antworteten: Alle Ressourcen dieser Welt stehen dir zur Verfügung, von den Felsen unter dir über die im Wasser gelösten Metalle und Mineralien bis hin zu den Lebewesen.
»Wie soll mir das dabei helfen, ein Raumschiff zu bauen? Ich habe keine Werkzeuge, nur meine bloßen Hände.«
Du hast uns.
Jess sprang auf. »Was soll das heißen?«
Unterschätze deine neuen Energien und Fähigkeiten nicht. Mit der Kraft der Wentals in dir kann es vergleichsweise… einfach sein, ein Raumschiff zu konstruieren.
Jess empfing geistige Bilder, und ein plötzliches Verstehen der Möglichkeiten ließ ihn aufgeregt nach Luft schnappen.
So primitiv das Ökosystem im Ozean auch sein mochte, es bestand aus Milliarden von lebenden Geschöpfen, von riesigen Ungeheuern bis hin zu mikroskopisch kleinen Organismen. Eine gewaltige Arbeiterschaft. Unter Anleitung der Wentals konnten sie alle zusammenarbeiten und ein Raumschiff bauen, Molekül für Molekül.
Die Wentals zeigten Jess, wie es sich bewerkstelligen ließ.