90 HYRILLKA-DESIGNIERTER RUSA’H

Als das wirkungsvolle rohe Schiing den größten Teil der Bevölkerung von Hyrillka befreit hatte, beschloss Rusa’h, die Gelegenheit zu nutzen. Er wusste, was getan werden musste, bevor es für das Reich zu spät war.

Es ging dem Designierten nicht um mehr Macht für sich selbst; er handelte aus Überzeugung. Er hatte die Lichtquelle gesehen und konnte dem hellen Pfad besser folgen als jeder andere Ildiraner, besser als Jora’h, besser auch als ihr korpulenter Vater. Es war bereits zu viel Schaden angerichtet worden.

Das ildiranische Volk traf keine Schuld daran, dass es vom rechten Weg abgekommen war. Blind folgte es dem Weisen Imperator, selbst wenn der Fehler machte. Niemand erwartete von den Ildiranern, dass sie selbst Entscheidungen trafen oder sich eigene Gedanken machten. Sie sollten gehorchen, folgen und kooperieren. Doch wenn der Weise Imperator den rechten Weg nicht sah, so musste sich sein Volk verirren.

Rusa’h wusste, was es zu unternehmen galt, um das zu ändern. Schiing würde ihm dabei helfen.

Einige Konvertierte waren bereits an ihn gebunden. Nach dem heutigen Abend würde er den größten Teil der Bevölkerung von Hyrillka auf seiner Seite haben.

Vor einigen Tagen, bei privaten Konsultationen, hatte er die Angehörigen des Linsen-Geschlechts bereits auf den richtigen Pfad geführt, ebenso wie die Vergnügungsgefährtinnen, die ihm ohnehin bereitwillig folgten. Die schönen, fruchtbaren Frauen waren jetzt nicht mehr wie früher an fleischlichen Freuden interessiert. Mit der gleichen Hingabe verfolgten sie nun andere Ziele, seine Ziele.

Thor’h war kein Problem gewesen. Von Anfang an hatte der junge Mann freiwillig an allem teilgenommen, und als Erstdesignierter war er eine wichtige Waffe in einem schwierigen, aber notwendigen Kampf.

Pery’h hingegen würde Probleme bereiten. Der Designierte-in-Bereitschaft war zu intelligent, seinem Vater zu treu ergeben, und er hatte keine offensichtlichen Schwächen. Doch Rusa’h würde eine angemessene Lösung finden. Die Lichtquelle würde ihn an allen Hindernissen vorbei in eine glorreiche Zukunft führen.

Der Hyrillka-Designierte kehrte zum Zitadellenpalast zurück, als die blauweiße primäre Sonne unterging und die sekundäre den Himmel orangefarben erglühen ließ. Der Horizont-Cluster wurde heller; hunderte von Sternen und Welten funkelten prachtvoll.

Seit seiner Kopfverletzung war Rusa’h vom normalen Thism des ildiranischen Volkes getrennt. Doch jetzt hatte er Gesellschaft: Die meisten Bewohner von Hyrillka hatten reichlich frisches, rohes Schiing genossen und wanderten frei umher, ohne eine Verbindung mit dem Gedankennetz. Sie unterlagen nicht mehr der Überwachung durch den Weisen Imperator, und Rusa’h konnte sie zu einem neuen, starken Muster verbinden.

Die Hyrillkaner erlebten die gleiche heilende geistige Stille, in der sich Rusa’h so lange aufgehalten hatte. Im tiefen Subthism-Schlaf war er von der Lichtquelle mit überlegenen Fähigkeiten ausgestattet worden, und jetzt wollte er seine neue Macht verwenden. Während das rohe Schiing die Bevölkerung leicht beeinflussbar machte, würde er die tauben Stränge des Thism einsammeln, die schließlich zu Jora’h zurückgekehrt wären. Nacheinander würde er sie miteinander verknüpfen und neue mentale Pfade schaffen, die Selbstsphären der Hyrillkaner in einem klaren, sauberen Gespinst zusammenführen, dessen Struktur er mithilfe der Inspirationen der Lichtquelle selbst bestimmte…

Im orangefarbenen Licht der Abenddämmerung, umgeben von treuen Konvertierten, saß Rusa’h im Zitadellenpalast und lächelte. Die Vergnügungsgefährtinnen, Linsen-Ildiraner und der stolze Thor’h standen bereit, um ihm Unterstützung zu gewähren. Dies waren die bindenden Fäden des neuen Netzes; auf dieser Grundlage wollte er die Hyrillkaner miteinander verbinden, bevor die Wirkung des Schiing nachließ. Bald würde ganz Hyrillka ihm gehören und ein neues, von ihm kontrolliertes Thism bilden.

Der junge Pery’h saß in der Nähe, war aber durch die unsichtbaren Veränderungen isoliert. Sein Gesicht zeigte Missbilligung, als Bedienstete Bankettspeisen brachten. Der Designierte-in-Bereitschaft wusste nicht, was um ihn herum geschah. Tänzer stolperten, noch immer vom Schiing desorientiert. »Dies ist erschreckend, Onkel.«

»Hör auf, dich zu beklagen«, erwiderte Thor’h. »Diese Leute verdienen ein Fest, und der Designierte Rusa’h hat entsprechende Anweisungen erteilt.«

Pery’h saß an dem ihm zugewiesenen Platz, rührte die Speisen jedoch nicht an. Er war unruhig, seine Haut teigig und feucht. Viele Hyrillkaner hatten sich von Jora’hs Thism getrennt und sich mit Rusa’hs verbunden, und deshalb blieb dem Designierten-in-Bereitschaft nicht einmal der Trost einer kleinen Splitter-Kolonie. Und es würde noch schlimmer für ihn werden.

Als Rusa’h aufstand, herrschte in den offenen Pavillons sofort Stille, obwohl sich die Hyrillkaner noch nicht vollkommen unter seiner Kontrolle befanden. Der Designierte beobachtete sie mit glitzernden Augen und sah großes Potenzial.

Er rief zwei Ildiraner des Mediziner-Geschlechts zu sich, die ihn von Ildira nach Hyrillka begleitet hatten, um seine Rekonvaleszenz zu überwachen. Einem von ihnen hatte Rusa’h insgeheim Schiing geben lassen und ihn so überzeugt. Anschließend war es nicht weiter schwer gewesen, auch den zweiten Arzt auf seine Seite zu ziehen. An diesem Abend sollten sie die notwendige und dramatische medizinische Maßnahme ergreifen, die ihm endgültige Kontrolle gab.

»Ich muss Ihnen etwas mitteilen, das viele von Ihnen zunächst nicht glauben werden«, sagte Rusa’h, davon überzeugt, dass ihm letztendlich alle glauben würden. Er hatte den Beweis… Und es erklärte das seltsame, beunruhigende Verhalten des Weisen Imperators Jora’h.

»Die Zeiten sind dunkel, und Hyrillka hat gelitten. Die Hydroger bedrohen uns. Wir haben versagt, nicht weil die Lichtquelle trüb geworden ist, sondern weil unsere Oberhäupter sie nicht sehen konnten. Mein Vater, der Weise Imperator Cyroc’h, hatte so viele Pläne, dass er sich dadurch selbst verwirrte. Um meinen Bruder Jora’h steht es noch schlechter, denn er bleibt absichtlich blind.«

Pery’h stand auf, das Gesicht weiß vor Zorn. »Onkel, selbst deine Verletzungen entschuldigen nicht, was du sagst!«

Die von Schiing beeinflussten Zuhörer sahen den Designierten-in-Bereitschaft mit verwirrtem Interesse an, doch niemand von ihnen wirkte empört. Die Droge verhinderte, dass sie Pery’h im Thism fühlten. Thor’h lächelte nur. »Hör zu, wenn der rechtmäßige Designierte spricht, kleiner Bruder. Vielleicht lernst du etwas.«

»Der Weise Imperator kann die von dir geschaffene Unruhe spüren«, sagte Pery’h. »Ich rate dir, deine Worte vorsichtiger zu wählen.«

Rusa’h musterte den jungen Mann, der sich geweigert hatte, zusammen mit den anderen Schiing zu nehmen. »Jora’h ist heute Abend nur durch deine Augen zugegen, Pery’h. Sollte ich dich vielleicht fortschicken?«

Offenbar wurde dem Designierten-in-Bereitschaft klar, dass er allein mit Ildira verbunden war, durch einen dünnen Thism-Faden, und dass ganz Hyrillka gegen ihn stand. Er setzte sich wieder.

»Hör dir an, was ich zu sagen haben, Pery’h, bevor du eine Entscheidung triffst. Du bist ein intelligenter junger Mann und dazu bestimmt, der nächste Hyrillka-Designierte zu sein. Doch Schicksal und vorgefasste Meinungen lassen sich ändern. So etwas liegt in unserer Macht.«

Pery’h starrte ihn schockiert an. »Nein. Das lasse ich nicht zu.«

Der Hyrillka-Designierte runzelte die Stirn. »Zuerst hör mich an, und dann triff deine Wahl. Unser Volk ist zu dem Glauben verleitet worden, dass Jora’h der wahre Weise Imperator ist, rechtmäßiges Zentrum aller Stränge des Thism, aber ich weiß es besser, denn die Lichtquelle bleibt ihm fern. Während meines Subthism-Schlafs konnte ich mich körperlich nicht bewegen, aber mein Geist durchstreifte andere Sphären. Ich habe Geheimnisse gesehen und von Dingen erfahren, die keinem anderen Ildiraner bekannt sind. Und ich habe einen Beweis.«

Thor’h strahlte voller Enthusiasmus, und Pery’hs Verwunderung wuchs. »Was für einen Beweis?« Er hatte sich nicht den Feiernden in den Nialia-Feldern hinzugesellt und noch immer einen klaren Kopf. Die Hyrillkaner stellten Rusa’hs Behauptungen nicht infrage, doch der Designierte-in-Bereitschaft blieb skeptisch.

»Der frühere Weise Imperator starb plötzlich, als ich noch bewusstlos war. Während des Kummers und der Bestürzung nach seinem Tod trat Jora’h rasch Cyroc’hs Nachfolge an. Die Ildiraner halten ihn für gewissenhaft und ehrenvoll. Niemand von uns ahnte etwas von seiner Machtgier! Niemand von uns wusste, dass er zu allem bereit war, um Chrysalissessel und Prismapalast für sich zu beanspruchen.«

Pery’h stand erneut auf und wandte sich zum Gehen, aber zwei Wächter versperrten ihm den Weg. Rusa’h fuhr fort und wusste, dass der Designierte-in-Bereitschaft zuhörte, obwohl er am liebsten geflohen wäre. »Von den Salbern, die den Leichnam des Weisen Imperators für die Kremation vorbereiteten, habe ich eine Gewebeprobe bekommen. Das Ergebnis der chemischen Analyse ist eindeutig: Cyroc’h starb keines natürlichen Todes – er wurde vergiftet.«

Dutzende von Hyrillkanern schnappten nach Luft.

»Sein Leibwächter Bron’n muss an der Verschwörung beteiligt gewesen sein, aber wenigstens hatte er genug Ehre, sich das Leben zu nehmen, nachdem mein Vater im Chrysalissessel gestorben war. Jora’h bekam, was er wollte. Er hat den Weisen Imperator ermordet, um seinen Platz einzunehmen.«

Trotz der vom Schiing bewirkten Benommenheit bereiteten sich Unbehagen und Unruhe unter den Zuhörern aus. Niemand zweifelte daran, dass Rusa’h die Wahrheit sagte, und alle glaubten an die Unstrittigkeit seines Beweises.

»Und deshalb hat die Lichtquelle ihn verlassen!«, rief der Designierte. »Die Seelenfäden können nicht die Dunkelheit in Jora’hs Herz durchdringen. Alle Ildiraner bezahlen den Preis, und unser Volk wird weiterhin leiden – bis ich uns zur Lichtquelle zurückführen kann.« Rusa’h faltete die Hände. »Ich bin bereit, das Notwendige zu tun.«

Thor’h hörte wie hingerissen zu und nahm die schrecklichen Offenbarungen mit einem Nicken zur Kenntnis. Doch Pery’h sah den Designierten voller Entrüstung an, und Rusa’h verlor allmählich die Geduld mit ihm. Er wandte sich an die stämmigen Wächter. »Bringen Sie den Designierten-in-Bereitschaft zu seinem Quartier. Dort soll er bleiben, bis er… Vernunft annimmt.«

Die Hyrillkaner kamen der Aufforderung sofort nach. Pery’h leistete nur symbolischen Widerstand, als ihn die Wächter vom offenen Platz führten, wo sich die bunten Blütenkelche der Kletterpflanzen im orangefarbenen Zwielicht öffneten. Keiner der Ildiraner fühlte ihn im Thism.

Als der Designierte-in-Bereitschaft fort war, kehrte Rusa’h seinen ernsten Vergnügungsgefährtinnen den Rücken zu und rief die beiden Mediziner zu sich.

»Wenn Jora’h nicht der rechtmäßige Weise Imperator ist, so braucht das ildiranische Volk einen anderen. Die Lichtquelle hat mich dazu bestimmt, die Bürde dieser Verantwortung zu tragen. Ich weiß um den schwierigen Weg, der vor uns liegt, und ich werde dem hellen Pfad folgen und euch führen. Zum Wohle des Reiches werde ich alles ertragen.«

Er streifte seine Umhänge ab und legte sich nackt auf einen Diwan. »Sie können jetzt ein Ereignis beobachten, das unser Volk für immer verändern wird.«

Die beiden Ildiraner des Mediziner-Geschlechts holten rasiermesserscharfe Kristallmesser hervor. Rusa’h sah zu den Vergnügungsgefährtinnen und dachte an die Zeit der Ausschweifung, die er mit ihnen verbracht hatte. Doch körperliche Freuden interessierten ihn nicht mehr; die Zukunft hielt etwas anderes für ihn bereit. Er wandte sich von ihnen ab, schloss die Augen und lenkte seine Gedanken in eine andere Richtung, um das Licht im Innern zu sehen.

Nach der langen Qual kannte er seine wahre Mission. Nur ein egoistischer Feigling wäre jetzt verschwunden. Er musste seinem Glauben folgen, bis zur letzten Konsequenz. Er allein konnte das Netz des Thism neu knüpfen, die verknoteten, verdorbenen Fäden lösen und sie alle mit sich als Zentrum zusammenführen. Hyrillka war der Anfang. Die vielen Systeme im Horizont-Cluster würden folgen, und dann auch der Rest des Ildiranischen Reiches.

Flüsternd gab der Designierte den entscheidenden Befehl, und die Ärzte machten einen schnellen, sauberen Schnitt zwischen seinen Beinen. Rusa’h biss die Lippen zusammen, kämpfte gegen den Schmerz an, zwang ihn durch die Nerven und kanalisierte ihn, bis er in seinem Bewusstsein zu einem Inferno aus Licht wurde. Von dort sah er all die treibenden Stränge des Thism, gelöst vom Schiing, das die Hyrillkaner genommen hatten.

Er achtete weder auf die Arbeit der beiden Mediziner noch das ehrfürchtige Murmeln des Publikums im Zitadellenpalast, als er die Stränge miteinander verknüpfte, sie in seinem Herzen sammelte und sicherte, sodass Jora’h nicht die Kontrolle über diese Ildiraner zurückgewinnen konnte.

Er lächelte, nachdem er endlich das wahre Thism geschaffen hatte, die Grundlage eines verjüngten und geläuterten Ildiranischen Reichs.