108 CHEFWISSENSCHAFTLER
HOWARD PALAWU
In der Nacht auf Rheindic Co, wenn die Kolonisten in ihren Zelten vor der Klippenstadt der Klikiss schliefen, ließ die hektische Betriebsamkeit am Transportal nach, und dann konnte Howard Palawu arbeiten.
Der Chefwissenschaftler untersuchte die von den Insektoiden zurückgelassenen Maschinen und Apparate, und dabei benutzte er seinen alten Datenschirm, um sich Notizen zu machen und Vermutungen festzuhalten. Er wusste noch immer nicht, wie das Transportal-Netz funktionierte, und mit jedem neuen Detail, das er herausfand, veränderten sich seine Hypothesen. Es gehörte zur wissenschaftlichen Methode, verschiedene Ideen auszuprobieren, und die Umwege und Sackgassen bedauerte Palawu nicht.
So ähnlich verhielt es sich auch mit seinem Leben. Rückblickend hätte er einige Entscheidungen anders getroffen und sich in bestimmten Situationen anders verhalten, aber er sah in den falschen Schritten keine »Fehler«. Alles war Teil des Lebens, im Guten wie im Schlechten.
Es wäre schön gewesen, einige zusätzliche Jahre mit seiner Frau verbringen zu können. Während ihrer besten Zeit hatte er es nicht bereut, sich tagelang einfach nur ihrer Gesellschaft zu erfreuen. Sie waren zusammen bei den heißen Quellen gewesen, die sie so liebte, weil sie ihre Schmerzen linderten. Jetzt war der Chefwissenschaftler allein und konnte seine ganze Zeit der Forschung widmen, doch er hätte sich gern einen Nachmittag frei genommen, um mit seiner Frau durch die Schluchten von Rheindic Co zu wandern. Aber sie lebte nicht mehr…
Eine Technikerin, müde, weil sie den ganzen Tag Kolonisten durchs Transportal geleitet hatte, brachte die Aufzeichnungen auf den neuesten Stand. Man sah ihr deutlich an, dass sie diesen Pflichten nicht gern nachkam. Aladdia hatte ein schmales Gesicht, bronzefarbene Haut und langes blauschwarzes Haar. Während sie ihrer langweiligen Schreibarbeit nachging, verspeiste sie einen Snack, der den Kontrollraum mit dem Geruch von Curry und Knoblauch erfüllte. Palawu wusste nicht, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hatte, aber Aladdia bot ihm nicht an, den Imbiss mit ihm zu teilen. Er war nicht so unhöflich, sie darum zu bitten.
Indikatoren leuchteten auf der Kontrolltafel der Technikerin, und das trapezförmige Steinfenster verschwamm. »Wird auch Zeit«, murmelte Aladdia.
Palawu sah auf und beobachtete, wie ein hochgewachsener Mann durchs Steinfenster trat. Er hatte zerzaustes Haar und trug einen staubigen, aber bequem wirkenden Expeditionsoverall. Der leichte Rucksack enthielt Messgeräte und Überlebensrationen.
Der Forscher nahm den Rucksack ab und reichte Aladdia die gesammelten Daten. »Eine weitere gute Welt, ein wenig kühler als die anderen. Aber der Boden enthält große Vorkommen seltener Metalle.«
Aladdia ließ den Inhalt des Datenmoduls auf einem Bildschirm erscheinen und nickte. »Gut. Wir fügen den Planeten der Kolonisierungsinitiative hinzu.«
»Ich dusche jetzt, esse etwas und schlafe mich aus.« Der Transportal-Forscher ließ seine Ausrüstung zurück und stapfte durch den Korridor fort.
Während des vergangenen Monats hatte Palawu oft gesehen, wie Forscher von ihren Ausflügen zu unbekannten Welten heimkehrten. Ihre Abenteuer faszinierten ihn nach wie vor. »Es gibt noch immer viele Koordinatenkacheln, die darauf warten, ausprobiert zu werden. Wer weiß, wie es an ihrem Bestimmungsort aussieht und was wir auf jenen Welten finden könnten?«
»Ja, wer weiß? Wenn Sie herausfinden, wie die Transportale funktionieren, bekommen wir wesentlich mehr Antworten.« Die Technikerin schien nur auf die Rückkehr des Forschers gewartet zu haben, denn sie packte jetzt ihre Sachen zusammen und stand auf. »Das System gehört Ihnen, Dr. Palawu. Ich hoffe, Sie finden heute Nacht etwas, das die Mühe lohnt.«
Als sie gegangen war, wanderte der Chefwissenschaftler durch den Raum und betrachtete das große Steinfenster, durch das der Forscher zurückgekehrt war. Palawu war schon mehrmals im Transportal-Netz unterwegs gewesen, um die Apparaturen auf als sicher eingestuften Klikiss-Welten zu untersuchen. Doch der Gedanke, dass es noch immer so viele Lücken in den Daten gab, störte ihn grundsätzlich. Als Chefwissenschaftler der Hanse bestand seine Aufgabe darin, das ganze Transportsystem der Klikiss zu erforschen.
Sein Blick glitt über die geheimnisvollen Hieroglyphen, exotischen Buchstaben oder Zahlen, die mit den Welten jener untergegangenen Zivilisation in Verbindung standen. Es gab hunderte von Kennzeichnungen, die Welten betrafen, die noch nie ein Mensch gesehen hatte. Diese Vorstellung erfüllte ihn mit Aufregung.
Es mangelte ihm nicht an wissenschaftlicher Neugier, und er hatte viele Kolonisten beobachtet, die das Transportal passierten, ohne dass es zu irgendwelchen Zwischenfällen kam. Palawu hatte bereits Großes geleistet. Voller Stolz konnte er auf zahlreiche technische Abhandlungen und wissenschaftliche Leistungen zurückblicken. Et hatte den Klikiss-Roboter Jorax analysiert und Dutzende von fundamentalen Durchbrüchen erzielt, viele davon nützlich, manche lediglich exotisch.
Er kannte die Koordinatenkachel, die ihn nach Rheindic Co bringen würde, was bedeutete: Er konnte jederzeit zurückkehren. Er musste nichts mehr beweisen, aber vielleicht war es möglich, noch etwas ganz anderes zu leisten? Zu verlieren gab es nichts…
Mit der Sorgfalt, die er schon als Laborassistent gelernt hatte, dokumentierte er seine Absicht, hinterließ eine vollständige Erklärung und sortierte die Berichte, die er bisher über das Transportal-Netz zusammengestellt hatte. Dann entschied er sich für eine der Kacheln mit unbekanntem Ziel und zeichnete ihr Symbol in den Unterlagen auf, die er zurückließ.
Palawu nahm den Rucksack des heimgekehrten Forschers, der genug Proviant für eine kurze Reise enthielt. Er schlang ihn sich auf den Rücken, zog die Riemen fest und ging zum Portal.
Nach der Aktivierung verwandelte sich das Steinfenster in einen schimmernden, mysteriösen Durchgang. Palawu atmete tief durch, lächelte zuversichtlich und trat mit offenen Augen durchs Portal…
Er erreichte eine Welt von kompromissloser Fremdartigkeit, völlig anders als die anderen aufgegebenen Klikiss-Welten, die er kannte. Farben, Geräusche und Gerüche waren so unerwartet und intensiv, dass sie einen um den Verstand bringen konnten. Völlig unverständliche visuelle Eindrücke strömten auf Palawu ein, so exotisch und fremdartig, dass sein Gehirn nicht mit ihnen fertig werden konnte.
Und dann geschah noch etwas Unerwartetes. Eine ältere menschliche Frau näherte sich ihm, mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Verblüfft erkannte Palawu jene Frau, die er gut kannte, obwohl er ihr nie begegnet war.
Margaret Colicos – und sie lebte! Es überraschte ihn nicht, dass nach hunderten von Forschungsmissionen durch die Transportale der Klikiss jemand die Welt fand, auf die es Margaret verschlagen hatte. Aber dass ausgerechnet er sie entdeckte…
Plötzlich sah er mehr, viel mehr, und er schrie…
Am nächsten Morgen, als die Techniker in den Kontrollraum zurückkehrten, um Vorbereitungen für den Transfer weiterer Kolonisten zu treffen, fanden sie Palawus Aufzeichnungen. Zuerst ärgerten sie sich über das Risiko, das der Chefwissenschaftler eingegangen war. Und dann, als Palawu nicht zurückkehrte, verwandelte sich der Ärger in Sorge.
Nach einer Woche – so lange hätte der restliche Proviant im Rucksack nicht gereicht – wurde die von Palawu ausgewählte Koordinatenkachel schwarz markiert. Die Techniker übermittelten die vom Chefwissenschaftler zusammengestellten Daten und Berichte einer Gruppe von Hanse-Forschern, damit die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Unterdessen ging die Kolonisierungsinitiative weiter.
Howard Palawu kehrte nie zurück.