17 WEISER IMPERATOR JORA’H
Jora’h saß in seiner privaten Kontemplationskammer, einem Raum mit glatten Wänden aus blutrotem Kristall. Sieben eifrige Bedienstete kämmten und ölten sein goldenes Haar, zogen die zuckenden Strähnen dann zusammen. Trotz des Durcheinanders aus Händen gelang es ihnen, das Haar zu einem Zopf zu flechten. Er reichte nur bis zum Nacken, aber im Lauf der Jahre würde er zu einem langen Seil wachsen, wie beim früheren Weisen Imperator.
Sein korpulenter Vater hatte den Chrysalissessel nie verlassen, aber Jora’h fühlte sich darin wie gefangen und isoliert, in seiner Fähigkeit beschränkt, über das ildiranische Volk zu regieren. Die Tradition verlangte, dass er Verfügungen erließ und das Volk führte, ohne jemals den Boden zu berühren, doch darin sah Jora’h eine absurde Einschränkung für einen Herrscher.
Als Erstdesignierter hatte er immer gewusst, dass dies letztendlich sein Schicksal sein würde. Unglücklicherweise hatte er die Bedeutung seiner Freiheit und der vielen Gelegenheiten erst erkannt, als es zu spät war.
Regierung, Solare Marine, die Designierten und ihre Nachfolger – sie alle mussten jetzt das Chaos des Machtwechsels hinter sich bringen. Jora’h musste seine Söhne mit ihren neuen Aufgaben betrauen, Anweisungen erteilen, sich mit Proklamationen ans Volk wenden und den Ildiranern versichern, dass seine Vision der Lichtquelle richtig war und das Thism stark.
Wie sollte er nach Dobro fliegen, um Nira und die anderen gefangenen Menschen zu befreien, wenn so viele Krisen und Verpflichtungen seine Aufmerksamkeit erforderten? Er hoffte, in einigen Tagen die Möglichkeit zu bekommen, sich auf den Weg nach Dobro zu machen, zu Nira. Seit vielen Jahren befand sie sich dort und glaubte sicher, dass er sie aufgegeben hatte…
Doch zuerst musste er seine Rolle als Weiser Imperator ausfüllen.
Sein Sohn Thor’h schob sich an den Türwachen vorbei, obwohl Jora’h seinen Kindern befohlen hatte, draußen zu warten. »Vater, die neuen Designierten haben sich versammelt und sind für dich bereit.«
Jora’h sah den Erstdesignierten an und versuchte, nicht verärgert die Stirn zu runzeln. Er bemerkte den glasigen Glanz in den Saphiraugen des jungen Mannes. Für die Sinne des Weisen Imperators war Thor’h ein Fleck im Thism, ein undeutlicher Schemen. »Wenn du weniger Schiing nehmen würdest, Thor’h, fiele es dir vielleicht leichter, mich Entscheidungen treffen und Anweisungen erteilen zu lassen.«
Sein Sohn hatte nicht einmal den Anstand, sich vom Tadel getroffen zu zeigen. »Schiing erlaubt mir, mich zu konzentrieren. Ich bekomme dadurch mehr Kraft für meine wichtigen Pflichten.« Schiing, auf Hyrillka eine beliebte Droge, war kaum mehr zu bekommen, seit die Hydroger jene Welt zerstört hatten. Doch Thor’h verfügte noch immer über Nachschub, und Jora’h fürchtete, dass er süchtig war.
Der Mangel an Disziplin und Verständnis seines Sohns weckte Zorn in Jora’h, und unter dem weichen Tuch im Chrysalissessel ballte er die Fäuste. Der Erstdesignierte war noch jung und schlecht ausgebildet. Durch die Jahre auf Hyrillka war er verweichlicht, obwohl es Jora’h damals für gut gehalten hatte, seinen Sohn dorthin zu schicken. Jetzt fragte er sich, ob es besser gewesen wäre, etwas strenger mit seinem Erstgeborenen zu sein, um ihn darauf vorzubereiten, Erstdesignierter zu werden. Er hoffte, dass Thor’h reifte und lernte, seinen neuen Aufgaben auf angemessene Weise gerecht zu werden. Er selbst musste ebenfalls lernen – der vorherige Weise Imperator hatte Jora’h erst während der letzten Monate auf die Nachfolge vorbereitet.
»Geh und hol meine anderen Söhne herein«, sagte Jora’h abrupt. »Ich möchte nicht länger warten.«
Der Erstdesignierte drehte sich sofort um, eilte hinaus und kehrte kurze Zeit später mit seinen beiden nächsten Brüdern Daro’h und Pery’h zurück. Pery’h würde die Rolle des Hyrillka-Designierten übernehmen, obwohl Thor’h dort mehr Zeit verbracht hatte.
Niemand bekommt genau das, was er möchte… nicht einmal der Weise Imperator.
Hinter den drei jungen Männern kam unaufgefordert Yazra’h herein, die älteste Tochter des Weisen Imperators. Sie war schlank und muskulös, und ihre Bewegungen deuteten auf Selbstbewusstsein und Entschlossenheit hin. Kupferfarbenes Haar umgab ihren Kopf wie eine Mähne, lang und extravagant im Vergleich mit dem ihrer Brüder – alle ildiranischen Männer hatten ihr Haar abgeschnitten, als Zeichen der Trauer nach dem Tod des früheren Weisen Imperators.
Thor’h sah seine Schwester an und schniefte verächtlich. »Du wirst hier nicht gebraucht, Yazra’h.« Die Blutlinie des Weisen Imperators bestand hauptsächlich aus männlichen Nachkommen. Jora’h hatte viele Nachkommen unterschiedlicher Geschlechter, aber nur wenige von ihnen waren Töchter, darunter eine von Nira…
Zwar hatte er Yazra’h nicht aufgefordert, an dieser Versammlung teilzunehmen, aber Jora’h beschloss, die Arroganz des Erstdesignierten nicht zu ignorieren. »Der Weise Imperator trifft solche Entscheidungen, Thor’h«, sagte er mit einem warnenden Ton in der Stimme. »Insbesondere in seiner eigenen Kontemplationskammer.«
Yazra’hs Augen glänzten und forderten ihre älteren Brüder heraus. Der Weise Imperator zweifelte nicht daran, dass sie in der Lage gewesen wäre, jeden seiner Söhne im Nahkampf zu besiegen. Sanfter fügte er hinzu: »Ich habe nur meine ersten Designierten-Kandidaten zu mir bestellt, Yazra’h.«
Sie zuckte wie beiläufig mit den Achseln und warf dem Erstdesignierten einen geringschätzigen Blick zu. »Deine Türwächter scheinen keine besonders gute Arbeit dabei zu leisten, unerwünschte Personen fern zu halten. Ich wollte nur meine Hilfe anbieten, falls du sie brauchst.«
»Ich werde das in Betracht ziehen. Vielleicht kannst du dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit unserer Wächter zu verbessern.«
Yazra’h strahlte und verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, auf jede Weise zu dienen, die mein Vater für mich wählt.« Sie verließ den Raum und ging an den grimmig wirkenden Wächtern vorbei.
Jora’h sah die jungen Designierten an. »In den nächsten Stunden spreche ich mit allen meinen adlig geborenen Söhnen und werde ihren Transfer an Bord von Schiffen der Solaren Marine veranlassen. Während der fünfjährigen Übergangsperiode wird jeder von euch von einem meiner Brüder ausgebildet. Nur du, Pery’h, musst allein zurechtkommen.«
Der junge Mann neigte traurig den Kopf. Sein verletzter Onkel wurde noch immer im medizinischen Zentrum des Prismapalastes behandelt; Rusa’hs Zustand schien hoffnungslos zu sein. Pery’h musste der neue Hyrillka-Designierte werden, ohne auf die Hilfe eines Mentors zurückgreifen zu können, aber er war intelligent und hatte Bereitschaft gezeigt, Rat anzunehmen. Jora’h glaubte, dass er gute Arbeit leisten würde.
Der Wechsel vom Designierten zum Nachfolger hatte immer nach und nach stattgefunden. Viele von Jora’hs Brüdern waren absolut kompetent in ihren Rollen, aber weil die Thism-Verbindung zwischen Vater und Sohn am stärksten war, wurden die Kinder des Weisen Imperators traditionell als Regenten der ildiranischen Kolonien eingesetzt, weil er sie geistig besser wahrnehmen konnte.
Die Designierten-in-Bereitschaft würden die besonderen Erfordernisse und Aspekte der jeweiligen Splitter-Kolonien kennen lernen. Durch das Thism konnte Jora’h die Loyalität seiner Söhne fühlen und wissen, dass sie ihre Verantwortung akzeptierten. Der plötzliche Tod des Weisen Imperators Cyroc’h war ein schwerer Schock für das Ildiranische Reich gewesen, aber es würde weiterhin so stark sein wie bisher. Wenn Jora’hs Söhne die ihnen zugewiesenen Welten erreicht hatten, war wieder alles in Ordnung.
Dann kann ich zu Nira.
Als er Thor’h, Daro’h und Pery’h fortschickte, hörte Jora’h Aufruhr im Korridor und sah schattenhafte Gestalten hinter den transparenten Wänden. Jemand näherte sich rasch. Yazra’hs frühere Kritik veranlasste die Wächter des Krieger-Geschlechts, aufmerksamer und grimmiger zu agieren. Sie knurrten Warnungen und wiesen die eingetroffene Person zurück.
»Aber ich bringe wichtige Neuigkeiten!«, ertönte eine Stimme.
Durch das Thism spürte Jora’h einen Ildiraner des Mediziner-Geschlechts und begriff, dass es sich tatsächlich um eine bedeutende Angelegenheit handelte. »Lasst ihn eintreten. Ich möchte erfahren, was…«
Der Arzt platzte herein, noch bevor der Weise Imperator den Satz beenden konnte. »Der Hyrillka-Designierte, Herr!« Die gewandten Hände des Doktors zitterten vor Aufregung. »Nach all der Zeit im Subthism-Schlaf ist Ihr Bruder Rusa’h endlich erwacht!«