54 ANTON COLICOS
In den hellen Kuppeln von Maratha Prime blickte Anton nach draußen in die monatelange Finsternis und fühlte sich sehr allein.
Die Rückkehr des Designierten Avi’h ins leere Urlaubszentrum gab der kleinen Wartungscrew neue Kraft, obgleich sie den unnötigen Anweisungen, die der oberste Beamte Bhali’l erteilte, häufig keine Beachtung schenkte. Die beiden zusätzlichen Ildiraner verstärkten die Verbindungen des Thism.
Doch Anton blieb davon getrennt. Der egozentrische Designierte hatte den Tod von Antons Vater und das Verschwinden seiner Mutter mit einer Gleichgültigkeit verkündet, als wäre die Sache nicht ernster als ein Wetterbericht. Nach so vielen Jahren ohne eine Nachricht hatte Anton das Schlimmste befürchtet, aber trotzdem fühlte er sich so, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Zeit des Kummers und der Reue war gekommen.
Nachdem er losgezogen war, um seinen eigenen Interessen nachzugehen, hatte er seinen Eltern nicht mehr besonders nahe gestanden. Sie waren stolz auf ihn, das wusste er. Margaret und Louis hatten alle seine wissenschaftlichen Artikel gelesen und waren immer zur Stelle gewesen, wenn er Rat und Hilfe brauchte. Eigentlich erstaunlich, wenn er jetzt darüber nachdachte, denn schließlich hatten sie auf fernen Welten Ausgrabungen vorgenommen. Damals hatte er die Präsenz seiner Eltern immer für selbstverständlich gehalten. Er war von ihnen dazu erzogen worden, so unabhängig und selbständig wie sie selbst zu sein.
Vor dem dunklen Hintergrund von Marathas Nacht sah Anton sein geisterhaftes Spiegelbild im gewölbten Glas: schmales Kinn, glattes braunes Haar, tief liegende Augen. Als er ins Ildiranische Reich gekommen war, aufgeregt angesichts der Möglichkeit, mit dem Erinnerer Vao’sh die Saga der Sieben Sonnen zu studieren, hatte er nicht daran gedacht, Fotos seiner Eltern mitzunehmen. In seinem Universitätsbüro hatte Anton viele Bilder von ihnen, aus Fachzeitschriften und in Dokumenten, die eine Biographie von Margaret und Louis Colicos ergeben sollten.
Jetzt war ihre Geschichte traurigerweise zu Ende. Das Stück, das ihm immer gefehlt hatte…
»Ich habe einen weiteren Unterschied zwischen Menschen und Ildiranern entdeckt, Erinnerer Anton.« Vao’shs klangvolle Stimme ertönte hinter ihm. »Wenn der Kummer Ildiraner heimsucht, so streben sie nach Gesellschaft. Sie hingegen sind lieber allein.«
Anton drehte sich um und sah den ildiranischen Historiker in der Tür, vom Licht umgeben. Er rang sich ein mattes Lächeln ab. »Oh, ich versuche nur, damit fertig zu werden, wie sehr sich die Dinge verändert haben. Ich schwimme in Erinnerungen und ertrinke in Erkenntnissen, die ich schon vor Jahren hätte haben sollen.«
Er war acht Jahre alt gewesen, als ihn seine Eltern zum ersten Mal zu einer Ausgrabungsstätte mitgenommen hatten. Der betreffende Planet hieß Pym, eine Welt mit termitenhügelartigen Ruinen der verschwundenen insektoiden Klikiss. Pyms Luft war trocken und der Himmel in jeder Nacht klar – tausende von Sternen funkelten am Firmament. Das Hilfspersonal und die Kollegen von der Universität verbrachten die Abende damit, historische Fragen zu diskutieren und Notizen zu vergleichen, gelegentlich auch mit dem Erzählen unflätiger Geschichten.
Außer Anton gab es keine anderen Kinder im Lager. Die übrigen Archäologen waren viel älter, ihre Söhne und Töchter bereits erwachsen und berufstätig. Deshalb blieb Anton sich selbst überlassen, ein fünftes Rad am Wagen, froh darüber, bei seinen Eltern zu sein – aber er gehörte nicht ganz dazu.
Er wanderte zwischen den Ruinen umher, kletterte in kleine Felsspalten und Löcher, die Erwachsene nicht erforschen konnten. Einmal entdeckte er dabei einen Raum mit einigen Artefakten, aber die Wissenschaftler schalten ihn und beschwerten sich bei Margaret und Louis darüber, dass er überall in den Ruinen uralten Staub aufwirbelte und seine Fußspuren hinterließ.
»Manchmal saß mein Vater abends bei mir«, wandte sich Anton an Vao’sh. »Wir entzündeten ein eigenes kleines Lagerfeuer bei den Klikiss-Türmen. Er war gutherzig, wusste aber kaum mit jemandem zu reden, der kein Kollege war. Ich weiß noch, wie ich den wie Feenlicht aufstiebenden Funken nachgesehen habe, während mein Vater von Klikiss-Theorien und Universitätspolitik sprach.«
Vao’sh setzte sich neben ihn, und als er sprach, war seine Stimme voller Anteilnahme. »Wussten Sie, dass man Maratha Prime ›Stadt am Rand‹ nannte, zwischen Tageslicht und Dunkelheit gelegen? Wir sind hier, sicher und geschützt unter unseren Kuppeln, mit all dem Licht, das die Glänzer uns schenken können. Ich erzähle meine Geschichten einem aufmerksamen Publikum – kein Erinnerer kann sich mehr wünschen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und die Hautlappen zeigten unterschiedliche Farben. »Aber ganz gleich, wie viel Licht wir jeden Tag aufnehmen und in uns behalten, die Nacht dort draußen bleibt schwarz und unergründlich.«
Anton wandte sich von seinem Spiegelbild ab. »Draußen im Dunkeln gibt es eigentlich gar nichts zu fürchten, Vao’sh. Angesichts der Hydroger und all der verheerten Planeten existieren genug tatsächliche Gefahren, über die wir uns Sorgen machen können.«
»Mag sein, Erinnerer Anton, aber Furcht ist nicht nur das Ergebnis einer logischen Analyse.« Vao’sh berührte Anton an der Schulter, eine Geste, die er dem Menschen abgeschaut hatte. »Kommen Sie. Der Designierte Avi’h veranstaltet ein weiteres Bankett und möchte, dass ihm alle Gesellschaft leisten.«
»Schon wieder?«
»Schon wieder.«
»Dann sollten wir besser unsere Pflicht tun. Könnten Sie heute Abend eine Geschichte erzählen, die mich… ablenkt? Wie wär’s mit einer Geistergeschichte? Das würde mir gefallen.«
Vao’sh überlegte. »Ich bin mir nicht sicher, ob es den anderen ebenso sehr gefällt wie Ihnen, aber ich werde eine solche Geschichte für Sie erzählen, Anton.«
Im zentralen Speisesaal, der während des langen Tages tausende aufnahm, standen einige kleine Tische für die siebenunddreißig Personen, die sich noch in der Stadt aufhielten. Der Designierte hielt den Saal für einen angenehmen Ort, aber seine Größe schien die Gruppe noch kleiner zu machen, als sie es ohnehin schon war.
Anton aß frisches Gemüse und konserviertes Fleisch. Mhas’k und Syl’k, die beiden Ildiraner des Bauern-Geschlechts, waren stolz auf ihre gute Produktion, doch der zurückgekehrte Designierte konsumierte die frischen Lebensmittel so schnell, dass sie bald zur Neige gehen würden.
Der Ingenieur Nur’of berichtete voller Enthusiasmus von den neuen Turbinen, die er in den alten Tunneln unter Maratha Prime installiert hatte, doch der Designierte wirkte weder beeindruckt noch interessiert. Avi’h hob die Hände. »Zeit für ein wenig Unterhaltung! Mein Vater hat seinen besten Erinnerer hierher geschickt, damit er uns in Maratha Prime Gesellschaft leistet. Also los, Vao’sh, erzählen Sie uns Ihre beste Geschichte.«
Der neben dem Designierten sitzende Bhali’v wiederholte die Anweisung offiziell. Vao’sh wandte sich Anton zu. »Zu Ehren unseres menschlichen Gastes erzähle ich eine… Schauergeschichte.« Der Designierte Avi’h runzelte die Stirn, schien sich eine heldenhafte oder ein wenig anstößige Geschichte erhofft zu haben. Doch er erhob keine Einwände, lehnte sich zurück und hörte zu.
»Im Spiralarm gibt es viel Geheimnisvolles. In einem früheren Zeitalter, als das Reich wuchs, legten unsere unerschrockenen Forscher weite Strecken zurück und versuchten, den bedeutendsten Fragen des Universums auf den Grund zu gehen. Unser Thism reichte weit; seine Fäden erstreckten sich über viele Sonnensysteme. Der Weise Imperator wollte das Universum kennen lernen und seinem Volk die Möglichkeit geben, es zu berühren.
So brach eine Septa aus Forschungsschiffen auf, um den dunklen Nebel zu ergründen, den wir Schlund des Alls nennen – ein schwarzes Rätsel, das den Analyseversuchen unserer besten Astronomen widerstanden hatte. Der Weise Imperator wollte die Geheimnisse dieses mysteriösen Orts zwischen den Sternen lüften. Ildiraner fürchten die Dunkelheit, und deshalb wurden die Schiffe mit zusätzlichen Glänzern ausgestattet, innen und außen, und dann flogen sie in die Schwärze hinaus.«
Vao’sh zögerte, und die Hauptlappen in seinem Gesicht zeigten rasch wechselnde Farben und Emotionen. Er veränderte die Stimme, um seine Zuhörer zu überraschen, und sagte leise: »Sie verschwanden.«
Anton hörte dem Erinnerer zu und erkannte einige der Techniken wieder, die er Vao’sh selbst gelehrt hatte.
Der ildiranische Historiker beugte sich vor. »Jahrhundertelang blieb die ganze Septa verschollen. Niemand wusste, was mit den sieben Schiffen und ihren tapferen Besatzungsmitgliedern geschehen war, doch durch das Thism spürte der Weise Imperator, dass sich etwas Schreckliches ereignet hatte. Etwas Kaltes, Finsteres und Unheilvolles. Niemand wagte sich mehr in den Schlund des Alls, um nach der Antwort zu suchen. Der schwarze Nebel hing dort wie ein Fleck vor den Sternen, das Gegenteil der Lichtquelle.« Die Hautlappen des Erinnerers zeigten erst ominöse Farben und dann Schattierungen der Furcht.
»Jahrhunderte später fand eine Forschungsgruppe die sieben Schiffe, ohne Energie und ohne Leben. Sie trieben im All, weit vom nächsten Sonnensystem entfernt. Als sich Bergungsarbeiter einen Weg durch den Rumpf schnitten, stellten sie fest, dass alle Ildiraner an Bord tot waren. Sie hatten alle gleichzeitig das Leben verloren, von einem Augenblick zum anderen, und doch auf eine schreckliche Weise! Sie schienen mit ihren größten Ängsten konfrontiert worden zu sein, wirkten wie die Opfer einer Waffe, die immensen Schmerz und unendliches Entsetzen bescherte.«
Vao’sh hob einen Finger. »Aber sie waren nicht nur getötet worden. Jede Leiche war völlig weiß, als wäre sie gebleicht worden. Und vom einfachsten Angehörigen des Soldaten-Geschlechts bis hin zum Septar: Die Gesichter waren Fratzen, als hätten sie etwas Unerträgliches gesehen, das die Lichtquelle erlöschen ließ, die Seele verdunkelte und jeden Funken Leben aus ihrem Selbst stahl.«
Vao’sh sah die Zuhörer der Reihe nach an. Leise und in einem fröstelnden Tonfall fuhr er fort:
»Heute wissen wir, dass die Schiffe tief im Schlund des Alls auf die Shana Rei getroffen waren, auf Kreaturen, die von Schatten umgeben in der Nähe toter Sterne leben. Uns ist nicht bekannt, auf welche Weise die Forscher den Zorn der Shana Rei weckten.
Nicht lange danach kamen die Geschöpfe der Dunkelheit zum Vorschein und verbreiteten ihre Schatten. Damit begann eine Zeit von Geschichten, die zu grässlich sind, dass ich sie hier erzählen könnte. Es war der schrecklichste Konflikt unseres Reiches – bis zur Auseinandersetzung mit den Hydrogern heute.«
Anton musterte die Ildiraner, die auf ihn einen sehr beunruhigten Eindruck machten. Vao’sh hatte von einigen erzählerischen Tricks Gebrauch gemacht, doch seine klangvolle Stimme und die emotionale Ausdruckskraft der Hautlappen sorgten für eine Atmosphäre der Furcht, obgleich es eigentlich gar keinen Plot gegeben hatte – Ildiraner waren nicht besonders gut, wenn es um solche Geschichten ging.
Anton begriff, dass er als Einziger lächelte. Den anderen bereitete es offenbar Unbehagen, diesen Teil der Saga der Sieben Sonnen zu hören. Menschen konnten sich am Lagerfeuer erzählte Geistergeschichten mit dem Wissen anhören, dass alles erfunden war, aber Ildiraner glaubten fest daran, dass jeder Teil ihres großen Epos der Wahrheit entsprach.
»Danke, Vao’sh. Eine sehr gut erzählte Geschichte«, sagte Anton, und seine Stimme schien die Anspannung zu vertreiben. Der alte Erinnerer sah ihn an und nickte anerkennend.
Die anderen Ildiraner seufzten nervös und wandten sich wieder ihrem Essen zu, als ein dumpfes Donnern aus der Ferne kam. Wenige Sekunden später krachte eine weitere Explosion, diesmal direkt unter der Kuppelstadt.
Der Designierte Avi’h stand auf. »Was hat das zu bedeuten?«
Die Generatoren versagten; es gab plötzlich keine Energie mehr. Alle Lichter gingen aus, und Finsternis verschlang ganz Maratha Prime.