1 CELLI

Geschwärzt von den Flammen reckten sich die überlebenden Weltbäume nach dem Albtraum, der sie heimgesucht hatte, trotzig dem Himmel entgegen. Halb verkohlte Äste, in Agonie erstarrt, streckten sich nach oben, als wollten sie einen weiteren Schlag abwehren. Verbrannte Rinde löste sich wie lepröse Haut von den Stämmen. Viele der Bäume waren tödlich verletzt. Der Wald hatte sich in ein riesiges Durcheinander aus toten Zweigen und halb umgestürzten Bäumen verwandelt.

Celli, das jüngste Kind von Mutter Alexa und Vater Idriss, spürte, wie ihr Tränen in die großen braunen Augen stiegen, als sie das Chaos sah. Sie war achtzehn, hatte zottiges, korkenzieherartiges, kastanienbraunes Haar, das sie nur dann schnitt, wenn es sie störte. Ruß und Asche klebten an ihrem Top, das einen Teil des Bauches unbedeckt ließ, und auch an dem kurzen, weiten Rock. Normalerweise zeigte sich immer ein Lächeln unter der nach oben gerichteten Nase, doch seit einiger Zeit gab es kaum mehr Grund zu lächeln.

Nach dem Rückzug der Hydroger waren die letzte Kraft des Weltwaldes, eine gewaltige Anstrengung der Theronen und die Hilfe der zu spät eingetroffenen terranischen Flotte nötig gewesen, um die vielen Feuer unter Kontrolle zu bringen.

Trotzdem waren ganze Kontinente verheert. Hier und dort brannte es noch, und Rauch stieg auf, bildete Flecken am blauen Himmel, wie von blutigen Fingern hinterlassene Striemen. Grüne Priester und theronische Arbeiter versammelten sich täglich an zentralen Orten für die schier überwältigende Aufgabe, Ordnung zu schaffen.

Celli gesellte sich ihnen jeden Tag hinzu. Wenn sie lief, kam ihr bei jedem Atemzug der Gestank von verbrannten fleischigen Blättern in die Nase. Sie wusste, dass sie den Geruch von bratendem Fleisch und verbrennendem Holz für den Rest ihres Lebens ekelhaft finden würde.

Als sie zum ersten Mal die Überreste einer Pilzriff-Stadt erreicht hatte – eines riesigen, aus einzelnen Lagen bestehenden Pilzes, im Lauf von Jahrhunderten entstanden –, war sie schockiert gewesen. Der Wirtsbaum war verbrannt, das Pilzriff halb zerstört, und die herausgeschnittenen Räume waren unbewohnbar.

Auf einer zertrampelten Lichtung unter dem beschädigten Pilzriff gaben sich Cellis Eltern alle Mühe, die Anstrengungen der müden Arbeiter zu organisieren. Idriss und Alexa hatten sich offiziell in den Ruhestand zurückgezogen und die Regierungsgeschäfte Cellis ältestem Bruder Reynald überlassen, aber Reynald war beim Angriff der Hydroger ums Leben gekommen. Vor dem inneren Auge sah sie ihn noch einmal, wie er herausfordernd auf dem Blätterdach des Weltwaldes stand, als Hydroger und Faeros am Himmel gegeneinander kämpften…

Doch heute, wie an jedem Tag nach dem Angriff der Hydroger, nahm sich niemand die Zeit, zu trauern und an die zu denken, die gestorben waren. Unter den gegenwärtigen Umständen die Arbeit zu unterbrechen, selbst aus Kummer, wäre unangebracht gewesen. Zahllose Bäume und Menschen konnten noch gerettet werden, wenn sämtliche Überlebende mithalfen. Deshalb stellten sich alle Theronen, die nicht zu schwer verletzt waren, klaglos den Aufgaben, die erledigt werden mussten. Wie die anderen Bewohner Therocs trauerte Celli bei der Arbeit.

Nicht nur ihr Bruder zählte zu den vielen Opfern, sondern auch drei von Cellis besten Freunden. Und ihr anderer Bruder, Beneto, ein grüner Priester, der beim Angriff der Hydroger auf Corvus Landing ums Leben gekommen war. Jeden Tag arbeitete Celli bis zur Erschöpfung und versuchte, den schlimmsten Schmerzen zu entrinnen. Sie wagte es nicht, zu lange an Lica, Kari und Ren zu denken, aus Furcht davor, dass der Kummer sie lähmte.

Vor dem Angriff der Hydroger hatten Celli und ihre Freunde die Zeit damit verbracht, sich im Wald zu vergnügen, ohne groß an das zu denken, was der nächste Tag bringen mochte. Celli übte den Baumtanz, und Ren verstand sich gut darauf, Kondorfliegen zu fangen. Lica und Kari mochten den gleichen Jungen, der davon jedoch gar nichts wusste. Wie oft hatten sie gelacht und zusammen gespielt, ohne zu ahnen, dass einmal alles ganz anders sein würde…

Niemand von ihnen hatte mit Feinden jenseits des Himmels gerechnet.

Celli befand sich jetzt als einziges Kind der Familie auf Theroc, denn ihre Schwestern Sarein und Estarra lebten beide im Flüsterpalast auf der Erde. Früher hatten die Schwestern ihr vorgeworfen, sich zu oft zu beklagen; jetzt erschienen ihr die Sorgen und Misslichkeiten ihrer Jugend banal. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Celli sowohl einen Hauch Unabhängigkeit als auch das Gewicht echter Verantwortung. Und sie war entschlossen, ihrem Volk dabei zu helfen, diese Tragödie zu überwinden. Das Problem schien immens groß zu sein, doch sie hob das Kinn und biss die Zähne zusammen.

Auch die anderen theronischen Überlebenden verfügten über eine neue Entschlossenheit, die es ihnen erlaubte, ihre Verzweiflung beiseite zu schieben. Auf eine derartige Katastrophe waren sie nicht vorbereitet gewesen, aber sie entdeckten nun in sich eine neue Entschlossenheit, als sie versuchten, so viel wie möglich vom Weltwald zu retten und gleichzeitig Trost in diesem Bemühen fanden.

»Wir sind nicht allein. Wir kümmern uns um die Bäume, und sie kümmern sich um uns. Wir lassen uns gegenseitig nicht im Stich. Dies ist die Quelle unserer Kraft, und zusammen überstehen wir alles«, hatte Vater Idriss bei der Versammlung der Überlebenden kurz nach dem Angriff gesagt.

Leitern, Flaschenzüge, Rampen und Stege verschafften am zentralen Baum Zugang zum Pilzriff, und die Theronen versuchten zu retten, was noch zu retten war. Erwachsene entfernten Trümmer und verbranntes Pilzfleisch aus den unteren Bereichen, während Kinder vorsichtig nach oben kletterten und sichere Routen für die schwereren Erwachsenen fanden. Celli erinnerte sich daran, als Estarra und sie ganz oben auf dem riesigen Pilz herumgeklettert waren, um dort das zarte weiße Fleisch zu ernten, das Beneto so sehr gemocht hatte…

Zum Glück waren die Hydroger nach ihrem ersten Angriff mit dem Kampf gegen die Faeros beschäftigt gewesen und deshalb nicht zum Weltwald zurückgekehrt. Doch das tröstete Celli kaum. Es gab zu viel Tod und Zerstörung um sie herum.

Ein überraschender Ruf kam von oben, gefolgt von kummervollem Stöhnen. In einem Raum des Pilzriffs hatte ein Kind gerade eine erstickte Frau gefunden. Weitere Theronen kletterten über die harten Außenflächen des Pilzes und begannen damit, das Opfer zu bergen. Celli hatte die Frau gekannt: eine Freundin der Familie, bekannt für ihre köstlichen Pasteten aus Waldbeeren. Für mehr Kummer gab es keinen Platz in Celli – jeder neue Tropfen der kalten Tragödie rann wie Wasser über einen bereits nassen Mantel. Reynald, Beneto, Lica, Kari, Ren… Die Namen hallten durch ihr Bewusstsein, einer nach dem anderen. Alle verdienten es, dass man sich an sie erinnerte. Jeder Einzelne.

Celli wollte nicht zugegen sein, wenn die Arbeiter die Leiche der Frau herunterbrachten, und deshalb wandte sie sich an ihre Großeltern. »Ich möchte dorthin gehen, wo ich mich besonders nützlich machen kann, Großmutter. Bitte schick mich fort.«

»Ich weiß, dass du ungeduldig bist, meine Liebe.« Die wässrigen Augen der alten Lia wirkten sehr müde. »Wir versuchen zunächst zu entscheiden, welche Arbeiten am wichtigsten sind.«

Cellis Großvater kratzte sich an der zerschrammten Wange. »Wir sind noch immer damit beschäftigt, einen Überblick darüber zu gewinnen, welchen Schaden der Wald genommen hat.«

Uthair und Lia verfolgten den Weg von Erkundungsgruppen, kritzelten Notizen und fertigten Aufzeichnungen an, die nur für sie einen Sinn ergaben. Normalerweise konnten die grünen Priester einen mentalen Kontakt mit den Weltbäumen herstellen, um den ganzen Wald zu sehen, aber das Ausmaß der Verwüstung war so gewaltig, dass viele von ihnen die fragmentarischen visuellen Informationen nicht zu einem einheitlichen Bild zusammensetzen konnten.

Das alte Paar breitete detaillierte Satellitenbilder aus, die von den TVF-Schiffen stammten und deutlich die von Feuer und Kälte verheerten Waldbereiche zeigten. Grüne Priester hatten diese Informationen durch den Telkontakt mit den Bäumen geteilt, aber der Weltwald wusste bereits von seinen enormen Verletzungen, die eine direkte, klare Kommunikation erschwerten. Cellis Großmutter deutete auf eine nicht gekennzeichnete Stelle, wo hunderte Morgen geborstener und geknickter Bäume auf dem Boden lagen, wie ein riesiges Kornfeld, über das ein Orkan hinweggezogen war. »Da ist noch niemand gewesen.«

»Ich sehe mich dort um.« Celli war froh über die nützliche Aufgabe, die sie ganz allein erledigen konnte. Sie hieß die Verantwortung willkommen. Immerhin war sie inzwischen so alt wie Estarra, als sie König Peter geheiratet hatte. Alle Bewohner von Theroc, bis hin zum kleinsten Kind, waren gezwungen, zu schnell erwachsen zu werden.

Sie lief los und suchte sich einen Weg durch den Wald. Der Brand hatte das Unterholz verschwinden lassen, doch die Kältewellen der Hydroger hatten wie Sprengstoff gewirkt und ganze Bäume zerfetzt. Hier und dort bildeten ihre Splitter ein wirres Durcheinander.

Celli eilte leichtfüßig durch den Wald, mit Beinen, die vom Klettern, Laufen und Tanzen muskulös waren. Sie stellte sich vor, erneut zu üben, um eines Tages Baumtänzerin zu werden, was sie sich seit vielen Jahren wünschte. Sie hatte fleißig geübt und sah sich selbst als eine Mischung aus Ballerina und Marathonläuferin.

Während sie lief, sah sie weitere Tote, von Kältewellen getötet, oder schrecklich verbrannte Leichen, die in der Fötusposition dalagen – Muskeln und Sehnen hatten sich in der Hitze zusammengezogen. Viel zu viele waren gestorben, sowohl Bäume als auch Menschen.

Celli setzte den Weg fort, und ihre Füße wirbelten Aschewolken auf. Jeder lebende Baum, den sie melden konnte, war ein kleiner Sieg für Theroc. Jeder einzelne Triumph dieser Art tilgte ein wenig von der Verzweiflung, die die Hydroger gebracht hatten.

Als sie den verheerten Wald in einem langsamen, breiten Zickzack erforschte, entdeckte sie nur wenige überlebende Bäume, doch jeden von ihnen berührte sie kurz, murmelte dabei ermutigende und hoffnungsvolle Worte. Auf Händen und Knien kroch sie durch ein Gewirr aus umgestürzten Bäumen so breit wie ein Haus. Geborstene Zweige kratzten ihr über die Haut, aber Celli achtete nicht darauf, kroch weiter und erreichte eine Lichtung, wo alle Bäume auf dem Boden lagen. Etwas Großes schien hier explodiert zu sein und in der Mitte einen offenen Bereich geschaffen zu haben.

Celli schnappte überrascht nach Luft. Im Zentrum des Kreises der Zerstörung sah sie gewölbte Trümmer aus rußgeschwärztem Kristall, die geborstenen Fragmente eines Kugelschiffs. Pyramidenförmige Vorsprünge ragten wie Dorne durch die sphärischen Rumpfsegmente.

Die Reste eines Hydroger-Schiffes.

Sie hatte die Kugelschiffe am Himmel gesehen, doch dies war ein auseinander gebrochenes Wrack – die einzelnen Teile lagen auf der Lichtung verstreut. Aus einem Reflex heraus ballte Celli die Fäuste, und ein leises, zorniges Knurren entrang sich ihrer Kehle.

Bisher hatte die TVF trotz ihrer modernen Waffen kaum etwas gegen die diamantene Panzerung der Hydroger ausrichten können. Celli wusste: Das terranische Militär wäre sicher sehr daran interessiert, Teile eines Kugelschiffes untersuchen zu können. Und eine derartige Möglichkeit sollte es bekommen, wenn das beim Kampf gegen den Feind half.

Voller Aufregung angesichts der Entdeckung lief Celli zur Pilzriff-Stadt zurück, froh darüber, eine gute Nachricht zu bringen.