24 ANTON COLICOS
In seiner freien Zeit entzifferte Anton die epischen ildiranischen Erzählungen für eine spätere Veröffentlichung auf der Erde. Immer wieder las er Geschichten, von denen vor ihm noch kein Mensch erfahren hatte. Was konnte er sich mehr wünschen?
Doch die ständige Beschäftigung mit der Saga der Sieben Sonnen ließ ihn ruhelos werden. Anton vertrat sich gern die Beine, indem er durch die Boulevards der Urlaubsstadt ging. Die seltsam schrägen Gebäude mit ihren bunten Kristallen reflektierten das Licht der Glänzer, die von den Kuppeln herabhingen. Die Farben, Lichter und exotischen Gerüche erinnerten ihn an Tausendundeine Nacht. Hier agierten Vao’sh und er während der Dunkelzeit wie Scheherazade: Abends erzählten sie auf dem zentralen Platz Geschichten für jene Arbeiter, die ihre Arbeit beendet hatten und Zeit fanden, ihnen zuzuhören. Der Rest von Maratha Prime war praktisch leer.
Anton pfiff leise vor sich hin, als er weiterschlenderte und mit einer Hand über sein glattes braunes Haar strich, als wollte er es vor einer Begegnung in Ordnung bringen. Er war unmusikalisch, versuchte aber, die Melodie des alten Volkslieds »Greensleeves« zu summen, das seiner Mutter so sehr gefallen hatte. Er erinnerte sich an ihre große Freude, als er ihr einmal eine aufziehbare Spieldose geschenkt hatte, die jene Melodie wiedergab, obgleich Margaret nie sehr an solchen Objekten interessiert gewesen war…
Anton ging in die unteren Bereiche hinab, wo sich die Generatoren, Lüftungspumpen und energetischen Versorgungssysteme von Maratha Prime befanden. Lärm hallte durch die Räume unter der Kuppelstadt. Unordnung herrschte hier, und Anton empfand sie als erfrischend nach der majestätischen Erhabenheit in den oberen Bereichen. Große Geräte und Kisten mit Material standen neben dem gewölbten Zugang eines nach unten führenden Tunnels. Aus der Tiefe kamen die mahlenden Geräusche schwerer grabender Maschinen und Stimmen, die Anweisungen riefen.
Nur’of, Marathas leitender Ingenieur, hatte zu Beginn der langen Nacht, wenn er keine ildiranischen Urlauber störte, mit einem ehrgeizigen Projekt begonnen. Nach dem Start des letzten Shuttles hatten seine stämmigen Arbeiter angefangen, Schächte in die Kruste des Planeten zu treiben. Nur’ofs Bemühungen beruhten nicht auf einer Direktive des abwesenden Maratha-Designierten. Er wurde aus eigener Initiative aktiv, mit der Absicht, einige Verbesserungen zu entwickeln. Der Designierte Avi’h würde sicher keine Einwände gegen eine Erhöhung der energetischen Effizienz erheben; vermutlich bemerkte er nicht einmal etwas davon.
Anton duckte sich durch den Bogen und trat in den steilen Schacht. Mobile Glänzer waren in Abständen von einigen Metern installiert, und helles Licht ging von ihnen aus. »Hallo? Haben Sie etwas dagegen, wenn ich hier eintrete?«
Er begegnete einem muskulösen ildiranischen Arbeiter mit dicken Armen, breiten Schultern und einem Hals so dick wie der Kopf. Die Ildiraner des Arbeiter-Geschlechts zählten nicht zu den intelligentesten und agilsten ildiranischen Subspezies, aber sie waren fleißig und zuverlässig. Der Arbeiter hob einen schweren Felsen vor einer Erdbewegungsmaschine und stöhnte leise angesichts der Anstrengung, obgleich sein Gesichtsausdruck unverändert blieb.
Da nur wenige Ildiraner in Maratha Prime zurückgeblieben waren, hatte Anton es sich nicht nehmen lassen, sie alle kennen zu lernen. »Hallo, Vik’k. Wo ist Nur’of?«
Als der Arbeiter ihn erkannte, lächelte er wie ein Kind. Vik’k fand großen Gefallen an irdischen Märchen. Seine geringe Intelligenz mochte dabei von Vorteil sein, denn das Konzept erfundener Ereignisse beunruhigte kultiviertere Ildiraner: Fiktion war kein Teil ihrer grandiosen Saga.
Der Arbeiter legte den Felsen neben einem Haufen in der Nähe ab und deutete tiefer in den Tunnel. »Nur’of ist dort. Er repariert etwas.«
Anton dankte ihm und ging munter weiter. Weiter vorn sah er ein unerwartetes Netzwerk aus Tunneln mit glatten Wänden – sie wirkten wie von Säure in den Boden geätzt und nicht von Maschinen gegraben. Außerdem vermittelten sie den Eindruck, viel älter zu sein als der Haupttunnel.
Die Ingenieure sprachen am Ende des neuen Schachtes miteinander, wo die warme, feuchte Luft nach Felsstaub und Schlamm roch. Im hellen Licht der Glänzer stand Nur’of vor einem breiten Wanddiagramm, das eine Skizze der neuen Tunnel unter Maratha Prime zeigte.
Der leitende Ingenieur sah auf, als Anton näher trat. »Der menschliche Erinnerer! Sie müssen Ihrem Volk die Geschichte von dieser überraschenden Entdeckung erzählen. Bei einer unserer Bohrungen stießen wir auf diese bereits existierenden Tunnel. Niemand wusste etwas von ihrer Existenz.«
Nur’of hatte weit auseinander stehende Augen und einen großen Kopf, auch wenn dieser nicht so groß war wie bei den reinblütigen Ildiranern des Wissenschaftler-Geschlechts. Als Kreuzung zwischen Wissenschaftler und Techniker war ein ildiranischer Ingenieur besonders schnell im Kopfrechnen und konnte sich große Datenmengen merken, zum Beispiel in Bezug auf Legierungskomponenten, Schmelztemperaturen und Belastungsgrenzen.
Anton deutete auf die Wandkarte. »Woher kommen all die Tunnel?«
»Das ist nicht wichtig. Diese Schächte bringen uns direkt zu den thermischen Strömen. Wir können sie nutzen!« Der Ingenieur betrachtete wieder das Diagramm. »Wir verlegen Transferleitungen in diesen Tunneln, bis hin zu den kochenden Aquiferen. Maratha Prime wird so viel Energie und Wärme bekommen, wie sich die Bewohner der Stadt wünschen.«
Anton klopfte dem Ingenieur auf die Schulter. Vor einigen Wochen hatte er die Bedeutung dieser Geste noch erklären müssen. »Ich weiß, dass Sie hart daran gearbeitet und sich dies lange erträumt haben.«
Während des langen Tages von Maratha verwendeten die Ingenieure Sonnenkollektoren, um Energie in großen Anlagen außerhalb der Kuppelstadt zu speichern. Aber während der halbjährigen Dunkelheit musste die zurückbleibende Wartungscrew den Energieverbrauch rationieren.
Die meisten Ildiraner des Ingenieur-Geschlechts gaben sich damit zufrieden, die volle Funktionsbereitschaft der Systeme zu erhalten, aber Nur’of liebte eine Herausforderung. Da Marathas Kruste die während des Tages empfangene Wärme bis tief in die Nacht speicherte, hatte er ein System entwickelt, um heißes Wasser aus den tiefen Aquiferen durch Turbinen zu leiten und auf diese Weise Energie zu erzeugen. Nur’of war ganz versessen darauf gewesen, seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber mit der Entdeckung dieses Labyrinths aus bereits existierenden Tunneln hatte er nicht gerechnet.
Anton blickte fasziniert in einen der Kanäle. »Wir sollten losgehen und die Tunnel erforschen.« Er nahm einen mobilen Glänzer und bemerkte sofort, wie sehr es dem Ingenieur widerstrebte, sich in die Dunkelheit vorzuwagen. »Möchten Sie nicht herausfinden, wer diese Schächte gegraben hat?«
»Das würde mich nur interessieren, wenn es Bedeutung für mein Projekt hätte.« Nur’of presste kurz die Lippen zusammen. »Aber gut… Es wäre nicht schlecht, die Funktionalität meiner neuen Entwürfe für den Transport thermischer Energie zu überprüfen.«
Gemeinsam gingen sie durch einen der Tunnel. Anton leuchtete mit dem Glänzer nach rechts und links und zur Decke empor, vertrieb die Schatten. »Seit wann gibt es Maratha Prime? Wann wurde die Stadt gebaut?«
»Vor fast zweihundert Jahren. Von früheren Bewohnern des Planeten wissen wir nichts, aber wir sind zu beschäftigt gewesen, Marathas Geheimnisse zu ergründen.«
Diese Tunnel waren ganz offensichtlich viel älter als Maratha Prime. Wer hatte sie gegraben? Vielleicht die alten Klikiss? Wer außer ihnen und den Ildiranern kam infrage?
Anton leuchtete mit dem Glänzer in eine weitere Passage, doch die Dunkelheit schluckte das Licht. »Hier unten ist es wie in einem Rattennest. Wohin die vielen Seitentunnel wohl führen?«
»Was ist eine Ratte?«, fragte Nur’of, und dann lächelte er plötzlich. »Oh, ja, in Der Rattenfänger von Hameln haben Sie uns von den terranischen Nagetieren erzählt, die Krankheiten übertragen können.«
Dampfschwaden verdichteten sich, als sie den Weg durch den steil nach unten führenden Tunnel fortsetzten. Es dauerte nicht lange, bis sie das Donnern eines unterirdischen Flusses hörten, in dem heißes Wasser floss.
»Ausgezeichnet. Wir können unsere Turbinen und Generatoren sofort installieren. Weitere Bohrungen sind nicht erforderlich.«
Als die beiden Männer zu den hell erleuchteten Passagen zurückkehrten, wo Arbeiter die Schächte für die Installation von Rohren und Transferleitungen vorbereiteten, spähte Anton immer wieder in die Seitentunnel. »Wir könnten Expeditionen organisieren und herausfinden, wohin all die Tunnel führen.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Nur’of. »Dieser Schacht führt uns zum thermischen Fluss. Das genügt.«
»Und wenn es am Ende der anderen Tunnel noch bessere Orte gibt?« Antons Eltern hätten einem solchen Geheimnis niemals den Rücken gekehrt, ohne zu versuchen, mehr herauszufinden.
Nur’of sah ihn an. »Dieser erfüllt seinen Zweck.«
»Wie Sie meinen.« Anton wusste, dass er von den anderen zurückgebliebenen Ildiranern ähnliche Antworten bekommen würde, vielleicht sogar von Vao’sh. Sie interessierten sich einfach nicht für Dinge außerhalb ihres Fachgebiets.
Ildiraner sahen wie Menschen aus, aber ihr Verhalten erinnerte Anton oft daran, dass sie eine fremde Spezies waren. Es blieb ihm unverständlich, warum sie darauf verzichteten, die mysteriösen Tunnel zu erforschen und herauszufinden, von wem sie stammten.
Daraus hätte sich zumindest eine wundervolle Geschichte ergeben.