78 OSIRA’H
Nachdem der unheimliche Klikiss-Roboter Dobro verlassen hatte, setzte Osira’h ihre mentalen Studien mit hingebungsvollem Fleiß fort. Erneut gab sie vor, nicht zu wissen, was tatsächlich auf Dobro geschah…
Bisher hatte sich ihr ganzes Leben um eine bestimmte Sache gedreht. Ihre Lehrer, die Ildiraner des Linsen-Geschlechts und auch der Designierte selbst, hatten sich um sie gekümmert und behauptet, Freunde zu sein. Immer wieder hatten sie Osira’h auf die wichtige Rolle hingewiesen, die sie spielen sollte. Sie war immer bestrebt gewesen, ihr Bestes zu geben, und sie hatte sich sehr über Udru’hs Stolz gefreut, wenn es ihr gelang, eine schwierige Übung zu bewältigen.
Bis zu jenem Abend, als sie ihrer Mutter begegnet war.
Sie hatte einen Ruf vernommen, die Sehnsucht einer fremden und doch seltsam vertrauten Frau. Eine telepathische Verbindung hatte Osira’hs Herz berührt und sie veranlasst, gegen die Regeln zu verstoßen, nach draußen zu gehen und durch die Schatten zu schleichen. Dort, am Rand des Zuchtlagers, hatte sie die grüne Priesterin getroffen. Nim Khali. Ihre Mutter – ein Geheimnis, das Udru’h die ganze Zeit über vor ihr gehütet hatte.
Während des telepathischen Kontakts hatte Nira alles mit ihr geteilt, Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, doch zuerst war Osira’h nicht bereit gewesen, all den Dingen zu glauben, die sie plötzlich erfuhr. Inzwischen wusste sie, dass alles der Wahrheit entsprach. Sie trug die Erinnerungen ihrer Mutter in sich, klar und deutlich. Im eigenen Herzen fühlte sie das, was Nira gefühlt hatte, die Freude über ihre Liebe zu Jora’h. Es war fast mehr, als sie ertragen konnte, aber Osira’hs Selbst hatte gelernt, stark zu sein. Das verdankte sie der Ausbildung durch Udru’h.
An jenem Abend hatte Osira’h erfahren, dass im Zuchtprogramm Gefangene verwendet wurden, Nachkommen verschleppter Menschen. Mit großem Kummer hatte sie festgestellt, dass der Designierte – ihr Mentor und der Mann, der behauptete, sie wäre für ihn das Wichtigste im ganzen Ildiranischen Reich – als führender Kopf hinter all dem Schrecken stand. Udru’h hatte ihre Mutter vergewaltigt, wodurch sie mit Osira’hs Bruder Rod’h schwanger geworden war. Als man sie schließlich bei ihrer Mutter entdeckt hatte, war Nira von den Wächtern brutal niedergeschlagen und fortgetragen worden. Das telepathische Band zwischen ihnen war zerrissen und Leere gewichen.
Lügen. So viele Lügen…
Später hatte Osira’h versucht, mithilfe ihrer Telepathie Udru’hs Gedanken zu erfassen. Sie war dabei sehr vorsichtig gewesen, aber es mangelte ihr an Erfahrung, und der Designierte hatte die mentale Sondierung jedes Mal bemerkt. Von der wahren Absicht, die sich dahinter verbarg, ahnte er nichts. Ganz im Gegenteil: Es freute ihn, dass Osira’hs telepathisches Potenzial wuchs.
Von da an hielt sich Osira’h zurück, um dem Designierten keinen Hinweis darauf zu liefern, dass sie die Wahrheit kannte. Sie verzichtete darauf, ihn zur Rede zu stellen, gab durch nichts zu erkennen, dass sie alles verstand. Osira’h setzte ihre mentale Ausbildung fort und arbeitete noch intensiver als vorher, denn sie wollte stark sein – aber aus ganz anderen Motiven.
Dem väterlichen Designierten traute sie nicht mehr, und sie fand auch keinen Gefallen an den Geschichten über ihr Schicksal. Udru’h besuchte sie, war so freundlich wie immer und zeigte Freude über die von ihr erzielten Fortschritte. Osira’h brauchte ihre ganze innere Kraft, um zu verhindern, dass die angenehmen Erinnerungen ihr Herz erweichten. Udru’h schien sie wirklich zu mögen – oder war auch das Täuschung?
Wenn er jetzt zu ihr kaum, schirmte Osira’h ihr Bewusstsein ab, damit er nichts von ihren wahren Gedanken und Absichten merkte. Seit der verhängnisvollen Begegnung mit ihrer Mutter war sie nicht ein einziges Mal offen zu Udru’h gewesen. Sie durfte es nicht riskieren.
Glücklicherweise hatte der Designierte noch immer volles Vertrauen zu ihr. Seit einiger Zeit wirkte er noch angespannter und verzweifelter…
Im Ausbildungsraum riefen die mentalen Instruktoren die Kinder zu sich. Osira’h trat zu Rod’h und ihren anderen Geschwistern.
»Bewegt euren Geist so wie eine Tänzerin ihre Muskeln«, sagte der Ildiraner vom Linsen-Geschlecht, ein dünner, blasser Mann. »Osira’h und Rod’h, ihr habt die stärksten Fähigkeiten; sie sind stärker als meine und die der anderen zusammen. Aber eure Brüder und Schwestern können ihr Potenzial ebenfalls entwickeln.« Der Linsen-Mann faltete die weißen Hände. »Konzentriert euch. Öffnet euer Selbst und schickt eure Gedanken auf die Reise. Seid wie Schwimmer im Meer. Erforscht den unbekannten Ozean zwischen den ildiranischen Welten. Tastet euch bis zu den Gasplaneten vor und… sucht die Hydroger. Bemüht euch, ihre Gedanken zu erkunden.«
Osira’h biss die Zähne zusammen und bereitete sich auf erhebliche geistige Anstrengungen vor. Ihre beiden jüngsten Geschwister, Tamo’l und Muree’n, zitterten voller Nervosität und Furcht, was Osira’h zum Anlass nahm, noch entschlossener zu sein. Neben ihr schloss Rod’h die großen runden Augen. Falten bildeten sich in seiner glatten Stirn, und sie spürte, wie eine kleine Welle seiner Kraft sie erreichte – Osira’h fühlte sie als leichtes Prickeln auf der Haut. Aber Rod’h suchte nicht nach ihrem Bewusstsein, sondern streckte seinen Geist weit über sie hinweg.
Sie versuchte, ihn zu begleiten. Rod’h kam ihrem Potenzial am nächsten, und sie hoffte, dass es weitere Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Sie selbst war zu jung, um alle Details in dem sich ausbreitenden Netz aus Plänen zu verstehen, aber Rod’h ahnte überhaupt nichts.
Osira’h erweiterte ihr Ich, riss geistige Mauern nieder und trotzte physischen Beschränkungen. Wenn der Tag kam, an dem sie ihre Pflicht erfüllen sollte, würde sie den Hydrogern viel näher sein. Derzeit beschränkte sie sich darauf, aus der Ferne zu versuchen, die Fremden zu erreichen, mit denen sie kommunizieren sollte. Sie wusste auf einem rein theoretischen Niveau, dass man von ihr erwartete, Verhandlungen einzuleiten, eine Brücke zu bilden zwischen zwei völlig verschiedenen Spezies. Jene Fähigkeiten waren nicht getestet, denn kein Hydroger hatte ihr jemals erlaubt, sich seinem Geist zu nähern. Osira’h würde nur eine Chance bekommen, und nur dann, wenn es so weit war.
Wenn sie versagte, würde Rod’h die Verantwortung tragen, der kleine Junge, der nie die Anweisungen seines verdorbenen Vaters Udru’h infrage stellte.
Osira’hs Gedanken glitten durch die Leere und erforschten Mysterien. Plötzlich bemerkte sie einen sonderbaren Ruf, ein aufregendes, unvertrautes Echo, das sie an… ihre Mutter erinnerte. Aber das konnte nicht sein! Nira war tot. Osira’h hatte den Schmerz und die leere Finsternis gefühlt, die sie von ihrer Mutter trennte. Gab es eine andere Präsenz? Das fremde Etwas verblasste, bevor sie mehr darüber erfahren konnte. Osira’h schickte ihre Gedanken weiter und suchte mit mehr geistiger Kraft.
Beim Horizont-Cluster fühlte sie eigentümliche Knoten im Thism und unerwartete Dunkelheit – das Phänomen schien seinen Ursprung auf Hyrillka zu haben. Osira’hs Platz im Gespinst aus verbundenen ildiranischen Gedanken war aufgrund ihrer besonderen Herkunft einzigartig. Zwar waren ihre mentalen Kräfte nicht dafür ausgebildet, aber sie konnte trotzdem die Pfade der Lichtquelle wahrnehmen, die der Weise Imperator kontrollierte. Als sie versuchte, die seltsamen Knäuel bei Hyrillka zu berühren, glitten Osira’hs Gedanken daran ab – sie kam sich vor wie ein Kletterer, der an einem schmelzenden, geölten Kristall nach Halt suchte. Es fühlte sich sehr sonderbar an.
Ihre Gedanken wanderten weiter, rasten wie ein Rufsignal durch die Leere des Alls, stießen aber nur auf kalte Stille. Osira’h fühlte sich nicht stark genug, um herauszufinden, ob die quälende Stille auf bewusste Ablehnung von Kommunikation zurückging oder auf eine fehlerhafte Modulation des Signals.
Als Osira’hs Selbst schließlich in den Ausbildungsraum zurückkehrte, fühlte sie sich schwach, als wäre ihr Geist stundenlang unterwegs gewesen und als hätte ihr Körper fast zu atmen vergessen.
Rod’hs Geist hatte sie begleitet und sie gelegentlich berührt, um Trost und Kraft aus ihrer Präsenz zu schöpfen. Er tat Osira’h Leid. Nach all der Zeit beschäftigten sich die anderen Halbschwestern und Halbbrüder lieber mit lehrreichen Spielen. Offenbar hatten sie schon vor einer ganzen Weile das Interesse an diesen Übungen verloren. Nur Osira’h und Rod’h ließen sich nicht davon ablenken.
Die Linsen-Männer und der Mentalist merkten schnell, dass Osira’h und Rod’h von ihrer geistigen Reise zurück waren. »Ausgezeichnet! Heute habt ihr beide große Fortschritte erzielt.«
Osira’h sah die Lehrer und ihre Geschwister an, in dem Wissen, dass sie alle Werkzeuge waren. Die meisten Ildiraner hatten keine klare Vorstellung davon, was auf Dobro geschah, aber Osira’h wusste Bescheid. Ihre Mutter hatte sich geopfert, damit sie alle Informationen bekam.
Einer der Ildiraner des Linsen-Geschlechts lächelte. »Du näherst dich allmählich dem Leistungsvermögen deiner Schwester, Rod’h. Es wird den Designierten Udru’h freuen, dem Weisen Imperator davon zu berichten. Deine Kraft gibt uns eine wichtige zweite Chance.«
Der Mentalist fügte hastig hinzu: »Und Osira’h wird stärker, als wir zu hoffen gewagt haben. Du wirst dem Ildiranischen Reich eine strahlende Zukunft geben.«
»Ja«, sagte Osira’h. »Rod’h ist sehr stark.«
Vielleicht wäre er sogar der bessere Kandidat gewesen, dachte sie. Osira’h war als Heldin aufgewachsen, aber sie hatte eine Schwäche, die Rod’h fehlte – ihren Bruder belasteten keine Fragen und Zweifel.