49 ERSTDESIGNIERTER THOR’H

Zwar waren noch nicht alle Spuren des Hydroger-Angriffs verschwunden, aber Hyrillka erholte sich schnell. Der Erstdesignierte Thor’h freute sich darüber, wieder auf dieser Welt zu sein, wo er glücklich gewesen war und die Privilegien seines hohen Rangs ohne unangenehme Verantwortung genossen hatte. Er empfand Hyrillka als sein Zuhause, noch mehr als den Prismapalast in Mijistra.

Die helle primäre Sonne war bereits untergegangen, und die sekundäre hing tief am Himmel, der orangefarben glühte und wie verbrannt wirkte – er zeigte nicht die Helligkeit, die sich Thor’h wünschte. Das Diadem der hellen Sterne des nahen Horizont-Clusters ging auf und schmückte das Zwielicht. Auf dem Hügel des Zitadellenpalastes schien das Licht von Glänzern durch Straßen und in Zimmer, spendete den Ildiranern Trost. Der fleißige Pery’h befasste sich mit Aufzeichnungen und Berichten, die Hyrillkas Vergangenheit und Produktivität betrafen. Der junge Designierte-in-Bereitschaft war ein guter Verwalter, der sich pflichtbewusst um seine Arbeit kümmerte.

Doch Thor’h genoss jeden Moment, den er allein mit seinem Onkel verbringen konnte.

Er und Rusa’h wanderten durch die Nialia-Felder, weit von den hellen Lichtern entfernt. Beim Wiederaufbau von Hyrillka hatte Thor’h große Mühe auf die Restaurierung des Zitadellenpalastes verwendet, der von den Hydrogern in einen Trümmerhaufen verwandelt worden war. Er wollte, dass Hyrillka wieder so wurde wie während seiner glücklichsten Jahre, und deshalb hatte Thor’h unverhältnismäßig viel Zeit und Anstrengung in die Wiederherstellung von Skulpturen, Friesen, Kacheln, Brunnen und Mobiliar investiert und dabei nicht einmal die Kletterpflanzen vergessen, die einst an den Wänden des offenen Gebäudes emporgewachsen waren. Die Arbeit hatte ihm dabei geholfen, den hilflosen Schrecken während des Angriffs zu überwinden. Thor’h konnte jetzt voller Stolz von sich behaupten, etwas geleistet zu haben.

Er wollte diese schöne Welt nicht für die Pflichten im Prismapalast aufgeben, wusste jedoch, dass ihm eines Tages keine andere Wahl bleiben würde. Aber noch war es nicht so weit…

Rusa’h ging ein kleines Stück vor ihm. Der sich erholende Designierte blieb seltsam stumm, während er im Schatten der langen Reihen aus dicken Nialia-Reben schritt. Die männlichen Nialias flatterten aufgeregt hin und her, als sie an ihnen vorbeikamen. Die im Boden verwurzelten weiblichen Rebenbündel zuckten, neigten sich erregt von einer Seite zur anderen.

»Die Schiing-Produktion hat wieder das Niveau wie vor dem Angriff der Hydroger erreicht, Onkel«, sagte Thor’h und schloss zu Rusa’h auf. Die Droge war überall im Ildiranischen Reich beliebt und bewirkte ein euphorisches Gefühl von entrückter Klarheit und hellem Leuchten, so als könnte die unter dem Einfluss von Schiing stehende Person die Lichtquelle deutlicher erkennen. »Die Nialias wachsen schnell, und ich habe keine Kosten gescheut, um genug Dünger und Lockstoffe zu beschaffen. Die Eiswellen der Hydroger haben die Felder erfrieren lassen, doch in diesem Jahr wird die Ernte fast wieder normal sein. Schiing ist nach wie vor unser wichtigster Exportartikel.«

Rusa’h ging weiter, still und gleichgültig. Der Designierte schien an Gesprächen nicht mehr so großen Gefallen zu finden wie sonst. Früher hatten Thor’h und Rusa’h voller Begeisterung Tänzern, Erinnerern, Künstlern und Sängern zugeschaut und sich über die Himmelsparaden gefreut, die immer dann stattfanden, wenn Schiffe der Solaren Marine nach Hyrillka kamen. Der Designierte Rusa’h hatte die Gesellschaft seiner Vergnügungsgefährtinnen genossen und wäre fast bei dem Versuch gestorben, sie zu retten.

Doch jetzt veranstaltete Rusa’h keine großen Feiern mehr. Er war still und in sich gekehrt, als hätte nur ein Teil von ihm die Rückkehr aus der lichtüberfluteten Sphäre geschafft, in der sein Geist während der langen Bewusstlosigkeit gefangen gewesen war. Vergnügungsgefährtinnen umgaben ihn im wieder aufgebauten Zitadellenpalast, doch Rusa’h schien nicht mehr an ihren sexuellen Verlockungen interessiert zu sein, obgleich er ihre Gesellschaft akzeptierte.

Angesichts der Verschlossenheit des Designierten runzelte Thor’h besorgt die Stirn. »Was… was ist mit dir, Onkel?«

Rusa’h strich mit dem Finger über die fleischigen Blätter der Nialias. »Ich lausche den Pflanzenmotten. Schiing ist mehr als nur eine Droge, Thor’h – es beinhaltet eine wichtige Komponente der Lichtquelle, wie kraftvolles, fließendes Blut.« Seine Stimme schien aus der Ferne zu kommen.

Thor’h betrachtete die vertrauten Gewächse an den silbrigen Bewässerungskanälen. Selbst im matten orangefarbenen Sonnenschein herrschte Unruhe in den langen Reihen der Nialias: Frisch geschlüpfte Pflanzenmotten flatterten von Rebe zu Rebe, auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin.

Nialias waren halb Pflanze und halb Tier. Der hölzerne Hauptkörper wurzelte im Boden, während die mobile männliche Komponente sich in Form einer weißgrauen Motte manifestierte. Im Anfangsstadium öffnete sich eine knollenartige Knospe, und die männliche Pflanzenmotte der Nialia flog los, erfreute sich am Licht und tanzte in der Luft.

Die weibliche Nialia-Blume war mit den dicken, gewundenen Stängeln verbunden und etwa so breit wie eine Hand. Sie wies lavendelfarbene und blaue Blätter auf. In ihrer Mitte gab es einen weißen Ring aus fedrigen, mit Pollen bedeckten Staubgefäßen, die nach oben ragten und die Motten mit ihrem süßen Duft anlockten, sodass sie sich auf die Stiele setzten und sie befruchteten.

Thor’h beobachtete, wie eine Pflanzenmotte eine stark duftende Blume umkreiste. Der Hyrillka-Designierte starrte mit besonderer Intensität darauf, als wollte er die Motte mit seiner geistigen Kraft zur Landung zwingen. Schließlich landete das kleine silberweiße Geschöpf auf den Blumenblättern und schob die Beine tief in den Pollenring. Langsam und sanft wölbten sich die Blumenblätter nach oben und umgaben die Motte, fügten das männliche dem weiblichen Element hinzu. Die fleischigen Seiten der Blume und ihr Stängel pumpten mehrmals, als sich männliche und weibliche Nialia vereinten, ihre Flüssigkeiten miteinander vermischten. Nach kurzer Zeit würden die Flügel der Motte abfallen, und später wuchs dann eine reife Nialia-Frucht aus der vereinten Form.

Mit einer plötzlichen, raubtierhaften Bewegung riss Rusa’h die Blume mit der männlichen und weiblichen Komponente ab und zerdrückte das sich hin und her windende Gebilde. Er hob die zur Faust geballte Hand, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Finger noch fester um die Blume. Silbrig blauer Saft tropfte in den offenen Mund des Designierten, rann ihm über Lippen, Wangen und Kinn. Rusa’hs Augen glänzten, und sein Blick reichte in die Ferne.

Als er getrunken hatte, sah er Thor’h an, ohne sich den Blutsaft vom Mund zu wischen. »Frisches Schiing ist das beste und stärkste. Es wirkt… intensiver als die verarbeitete Form und bringt mich näher zur Lichtquelle.«

Thor’h hatte bisher nur verarbeitetes Schiing zu sich genommen. In größeren Dosen trübte es die Verbindung mit dem Thism-Netzwerk. Manche fanden das vorübergehende Gefühl entspannend; Thor’h empfand es als befreiend. Lichter waren heller, Gedanken klarer. Unter dem Einfluss von Schiing fühlte er sich schwungvoll, wie in einem Zustand geistiger Schwerelosigkeit. Aber frisches Schiing hatte Thor’h noch nie probiert.

Die tiefe, raschelnde Stille der Nialia-Felder beunruhigte Thor’h. Er sehnte sich nach einem Gespräch, um das Unbehagen zu überwinden, das Rusa’h mit seinem Verhalten in ihm geweckt hatte. »Zwar bin ich der Erstdesignierte, aber ich wünschte, ich könnte hier bei dir bleiben, Onkel. Pery’h wäre im Prismapalast besser aufgehoben, aber er ist der Designierte-in-Bereitschaft.«

Rusa’h bedachte ihn mit einem sonderbaren Blick und wischte sich klebrige Tropfen vom Kinn. Er ließ die zerquetschte Pflanzenmotte fallen und leckte sich die Finger. »Du musst tun, was für das ildiranische Volk am besten ist. Darin besteht dein Schicksal.«

Thor’h wusste, welche Antwort man von ihm erwartete, doch er gab sie nicht gern. »Ja, ich werde dem Weisen Imperator, meinem Vater, gehorchen. Ich werde meine Pflicht erfüllen… und das Reich stark machen.«

Sein Onkel überraschte ihn. »Vielleicht ist es nicht das Beste für dich, dem Weisen Imperator zu gehorchen, Thor’h. Manchmal ist die Lichtquelle nicht für jeden klar. Jeder Ildiraner kann geblendet oder getäuscht werden, selbst dein Vater.«

Thor’h wusste nicht, was er sagen sollte. »Aber er ist der Weise Imperator.«

»Er ist… Jora’h.«

Thor’h runzelte die Stirn, und sein Unbehagen nahm zu. »Sollen wir zum Zitadellenpalast zurückkehren, Onkel? Wo es heller ist?«

»Kehr zurück, wenn du möchtest. Ich bleibe lieber hier allein.«

»Allein?« Es erschien Thor’h überaus seltsam, dass sich ein Ildiraner so etwas wünschen konnte.

»Allein.«

»Sind die Schatten hier nicht zu bedrückend für dich? In einigen Stunden geht die primäre Sonne wieder auf, und wir können diesen Ort erneut aufsuchen, wenn es heller ist…«

Rusa’h drehte den Kopf und sah ihn an, überhaupt nicht beunruhigt von den Schatten. »Wenn ich das Licht in mir trage, fürchte ich die Dunkelheit nie.«

Thor’h schauderte. »Du bist in der Sphäre der Lichtquelle gewesen und weißt daher von Dingen, die ich nicht verstehe.«

»Oh, du wirst verstehen, Thor’h.« Das trocknende Schiing in Rusa’hs Gesicht glitzerte im Licht. »Ich werde dafür sorgen, dass du verstehst.«