56 WEISER IMPERATOR JORA’H
Als sich das Schiff des Weisen Imperators Dobro näherte, beharrte Jora’h darauf, im Kommando-Nukleus zu stehen, so wie als Erstdesignierter an Bord von Adar Kori’nhs Kriegsschiff. Er beobachtete, wie der Planet auf dem Hauptschirm größer wurde.
Dort lebte seine Tochter. Dort war Nira gestorben.
Den Septar Rhe’nh beunruhigte es zu sehen, dass der Weise Imperator nicht in seinem Chrysalissessel ruhte. Er bot an, von seinen Ingenieuren und Technikern eine Ersatzplattform bauen zu lassen, aber Jora’h bestand darauf zu gehen. »Die Tradition hat sich geändert«, sagte er. »Die Solare Marine kann meine Befehle ohne weitere Sorge ausführen. Ich bleibe hier im Kommando-Nukleus.«
»Ja, Herr.« Rhe’nh grüßte mit auf der Brust gefalteten Händen, drehte sich dann um und widmete sich seinen Kommandoaufgaben. Die Crew reagierte mit Ehrfurcht auf die Präsenz des Weisen Imperators, verstand sein ungewöhnliches Verhalten jedoch nicht.
Trotz der Größe des Ildiranischen Reiches hatte sich Jora’hs korpulenter Vater fast nie außerhalb von Ildira aufgehalten und den Prismapalast nur bei besonderen Gelegenheiten verlassen; die Pilger und Bittsteller waren zu ihm gekommen. Jora’h beabsichtigte, seine Pflichten als Oberhaupt des ildiranischen Volkes auf eine andere Weise wahrzunehmen. Er wollte eine aktive Rolle spielen und keine ständig zur Schau gestellte heilige Reliquie sein.
»Wann schwenken wir in den Orbit, Septar?«
»In einer Stunde, Herr. Der Designierte trifft Vorbereitungen für die Entsendung eines offiziellen Shuttles.«
»Ich habe meinen Bruder nicht um Eskortendienste gebeten. Meine Absicht besteht darin, mit eigenen Wächtern aufzubrechen und mir den Planeten anzusehen.« Jora’h zögerte und wollte vermeiden, dass der Septar einen zu genauen Eindruck von dem Groll gewann, den er nach wie vor gegen Udru’h hegte. »Aber ich schätze, es ist akzeptabel. Ich möchte möglichst bald sehen… was dort unten geschieht.«
Durch das Thism hatte Jora’h alle Hintergrundinformationen bekommen und verstand die Gründe für das ebenso verzweifelte wie unmoralische Zuchtprogramm. Trotzdem wollte er alles mit eigenen Augen sehen und in die Gesichter der bedauernswerten menschlichen Versuchsobjekte blicken. So viel schuldete er dem Gedenken an Nira – immerhin war er nicht hier gewesen, als sie ihn am dringendsten gebraucht hatte.
Die sieben Kriegsschiffe erreichten die Umlaufbahn des Planeten. Aus großer Höhe beobachtete Jora’h Kontinente, Seen und Meere, ein Gesprenkel aus Grün und Braun. Dobro schien eine angenehme Welt zu sein, aber auch ein… leerer Ort, wo man sich isoliert fühlte. Bestimmt war Nira sehr einsam gewesen.
Jora’h biss die Zähne zusammen, um sich seine Emotionen nicht ansehen zu lassen. Er war jetzt der Weise Imperator und stand über solchem Elend. Viele Jahre lang hatte er nichts von den Vorgängen auf Dobro gewusst. Jetzt bot sich ihm vielleicht die Möglichkeit, das eine oder andere zu verändern.
Jora’h sah das Glühen feuernder Triebwerke, als ein Shuttle aufstieg und sich den Kriegsschiffen näherte. Er ging zum Ausgang des Kommando-Nukleus, um seinem Bruder zu begegnen.
»Wünschen Sie eine Eskorte, Herr?« Rhe’nh wartete keine Antwort ab und hob die Hand. Mehrere Soldaten der Solaren Marine nahmen Haltung an, dazu bereit, den Weisen Imperator zu begleiten.
»Nein. Gewisse Dinge sollten privat bleiben.«
Als Jora’h durch die Korridore ging, trugen Angehörige des Bediensteten-Geschlechts dort klares Dichtungsmittel auf, wo die Füße des Weisen Imperators den Boden berührt hatten, als wäre das Metall dadurch heilig geworden. Es lag Jora’h nichts an einer derart fanatischen Verehrung, aber er konnte die Einstellungen der Ildiraner nicht ändern.
Als er den Hangar erreichte, sank der Shuttle dort bereits auf die kühlen Metallplatten. Eine Luke schwang auf, und zwei Gestalten wurden sichtbar. Udru’h stand so neben dem Designierten-in-Bereitschaft, als hätte er die Rolle von Daro’hs Vater übernommen. Jora’h fühlte einen Hauch Unmut darüber, dass sich die Denkweise seines Bruders so sehr von seiner eigenen unterschied. Du hast mir meine Tochter gestohlen und willst mir jetzt auch den Sohn nehmen?
Der junge Designierte-in-Bereitschaft trat vor und verbeugte sich. Udru’h folgte seinem Beispiel, ohne dabei irgendwelche Gefühle zu zeigen. »Wir sind bereit, dir das wichtige Projekt zu zeigen, das uns vor den Hydrogern schützen wird, Herr.«
»Ich weiß«, erwiderte Jora’h kühl.
»Eine persönliche Begegnung ermöglicht zweifellos besseres Verstehen.«
Als die drei Ildiraner in den Shuttle zurückkehrten und Platz nahmen, wandte sich Jora’h an seinen jungen Sohn. »Was hältst du von der hiesigen Arbeit, Daro’h? Bald wirst du dafür verantwortlich sein. Ich fürchte, ich habe dich nicht richtig darauf vorbereitet.«
»Ich lerne so schnell und so gut wie möglich. Es ist alles sehr interessant.«
»Er ist sehr begabt, Herr«, fügte Udru’h hinzu. »In der kurzen Zeit, die er hier ist, habe ich ihn als fleißigen und gewissenhaften Schüler kennen gelernt.«
Jora’h bedauerte, dass es notwendig geworden war, seinen Sohn einer solchen Situation auszusetzen. »Aber was hältst du davon, Daro’h? Wie beurteilst du das Projekt? Welche positiven Aspekte hat es? Sollte es trotz aller moralischen Bedenken fortgesetzt werden?«
»Natürlich meint er, dass es fortgesetzt werden soll«, sagte Udru’h, doch der Weise Imperator sah den jungen Mann an und wartete auf eine Antwort von ihm.
»Es gibt noch zu viele Dinge, die ich lernen muss, Vater. Es wäre unangemessen, schon jetzt eine Meinung zu äußern.«
Während des Sinkflugs durch die Atmosphäre erzitterte der Shuttle mehrmals in Turbulenzen. An Bord herrschte unangenehme, angespannte Stille. Durch das Thism spürte Jora’h Hoffnung und Unbehagen. Udru’h schien seine Gedanken absichtlich abzuschirmen, sodass es selbst dem Weisen Imperator schwer fiel, den mentalen Fäden bis zu ihrem Ausgangspunkt zu folgen und Antworten zu finden.
Schließlich sah er den schweigenden Designierten an. Verbarg Udru’h etwas vor ihm? »Du weißt, dass ich die Grundlagen des gegenwärtigen Zuchtprogramms verabscheuungswürdig finde, Udru’h.«
»Ich hoffe, dass du aufgeschlossen bleibst und die Zukunft des Reiches im Auge behältst. Wenn wir unser Ziel erreichen, so hat das Reich erheblichen Nutzen davon. Denk daran, dass du der Weise Imperator bist und kein Mann mehr, der ein Recht auf Meinungen hat. Dieses Recht wurde dir genommen, zusammen mit anderen Dingen, als du die Nachfolge unseres Vaters angetreten und das Thism übernommen hast.«
»Dadurch bin ich auch zu deinem Weisen Imperator geworden«, sagte Jora’h und hielt seinen Ärger in Zaum. »Du musst meinen Anweisungen nachkommen.«
Udru’hs Überraschung schien echt zu sein. »Es fiele mir nie ein, deine Befehle infrage zu stellen, Herr. Aber ich hoffe, du überlegst gründlich, bevor du unwiderrufliche Entscheidungen triffst.«
Jora’h überlegte. Daro’h musterte die beiden Brüder und wusste nicht, wie er ihr Verhalten deuten sollte. Am liebsten hätte der Weise Imperator die menschlichen Gefangenen befreit und sie der Terranischen Hanse übergeben. Niemand von ihnen hatte jemals die Erde gesehen, und wahrscheinlich wussten sie nur wenig darüber, aber sie waren Nachkommen einst hoffnungsvoller Kolonisten. Sie verdienten Besseres als… Dobro.
Seit fast zwei Jahrhunderten verbargen die Ildiraner diese Lüge vor der Hanse. Jora’h wusste: Wenn er das schreckliche Geheimnis jetzt enthüllte, kam es dadurch zu einer diplomatischen Katastrophe, vielleicht sogar zu einem Krieg mit den Menschen. Die ildiranische Solare Marine war zwar älter und mächtiger als die Terranische Verteidigungsflotte, aber Jora’h unterschätzte die innovativen Fähigkeiten der forschen Menschen nicht.
»Vielleicht bleibt uns keine Wahl, Udru’h, trotz meiner Vorbehalte. Glaubst du wirklich, dass meine Tochter das Potenzial hat, diesen Konflikt mit den Hydrogern zu beenden? Die Klikiss-Roboter haben uns im Stich gelassen; ich fürchte sogar, dass wir sie nun zu unseren Feinden rechnen müssen.«
Diese Neuigkeit erzürnte den Dobro-Designierten. »Wenn die Klikiss-Roboter uns im Stich gelassen haben oder sich weigern, als Mittler zu fungieren, so müssen wir Osira’h als Unterhändlerin zu den Hydrogern schicken.«
»Wenn die einzige Hoffnung des Ildiranischen Reiches bei meiner Tochter liegt, so ist es doppelt wichtig, dass ich ihr begegne«, sagte Jora’h mit einem resignierten Seufzen.
Udru’h lächelte. »Ah, jetzt verstehst du, Herr.«
Ja, er verstand. Aber Jora’h hasste auch, was er hier auf Dobro tun musste, um das Reich zu retten.