38 ANTON COLICOS

Zwar wusste Anton die Aufregung und die rege Betriebsamkeit während des langen Tages von Maratha durchaus zu schätzen, aber die nächtliche Stille nahm er auf eine Weise in sich auf, die seine ildiranischen Freunde nicht nachvollziehen konnten.

Als Kind war er dort, wo seine Eltern archäologische Ausgrabungen vornahmen, oft allein gewesen. Margaret und Louis hatten ihn wie einen kleinen Erwachsenen behandelt; vermutlich wären sie gar nicht in der Lage gewesen, anders mit ihm umzugehen. Abends im Lager hatte er gehört, wie sie über ihre Entdeckungen sprachen, sich manchmal auch darüber stritten. Sie waren immer bestrebt gewesen, die Klikiss-Architektur zu interpretieren, die Raumaufteilung oder die Hieroglyphen an den Wänden. Manchmal hatten sie ihren Sohn gefragt, womit er tagsüber beschäftigt gewesen war. Oft hatte er damals die archäologischen Fundorte durchstreift, aber manchmal hatte er auch seine Eltern belauscht und auf diese Weise an ihrer Leidenschaf für alte, fremde Kulturen teilgenommen.

Hier in der fast leeren Kuppelstadt fühlte sich Anton wie ein Mitglied einer ildiranischen »Familie«. Zwar war er nicht mit dem Thism verbunden, aber er teilte die Faszination der Ildiraner in Hinsicht auf ihr großes Epos.

Eine Geschichte gefiel ihm besonders, und darin ging es um eine exotische ildiranische Malerin, die besessen von ihrer Kunst war. Die gewöhnlichen Materialien stellten sie nicht mehr zufrieden, und deshalb bemalte sie jeden Quadratzentimeter ihres Körpers, vom haarlosen Scheitel bis zu den Fußsohlen. Sie verwandelte sich in ein lebendes Gemälde der ildiranischen Geschichte und ihrer Helden, und die Leute kamen, um ihren prächtigen Leib zu bewundern. Eines Morgens nach der Fertigstellung ihres großen Werks entdeckte die Künstlerin eine kleine Falte in ihrem Gesicht und begriff, das die eigene Sterblichkeit ihr großartiges Kunstwerk schließlich zerstören würde.

Davon überzeugt, dass ihre Kunst wichtiger war als das Leben, entwickelte sie ein konservierendes Gift, das ihre Haut polymerisieren und fossilisieren sollte. Sie trank das Gift und trat auf ein Podest, stand dort breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen, um jedes Detail des Körperbilds zu zeigen. Und dann wartete sie darauf, dass die Chemikalien ihren Körper versteinerten, nahm den schmerzvollen Tod hin, ohne das Gesicht zu verziehen. Vao’sh hatte darauf hingewiesen, dass die Leichenstatue der Künstlerin im Prismapalast ausgestellt war, und Anton hoffte sie zu sehen, wenn sie nach Ildira zurückkehrten.

Anton las Diamantfilm-Blätter mit dem Text der Saga, als Vao’sh in den hell erleuchteten Raum eilte. »Ah, ich dachte mir schon, dass ich Sie hier finden würde, Erinnerer Anton. Eine Septa aus Schiffen der Solaren Marine ist eingetroffen und hat uns Einzelheiten über den Machtwechsel und die Regentschaft des neuen Weisen Imperators gebracht. Der Designierte Avi’h kam mit einem der Schiffe. Er weist uns an, die Arbeit zu unterbrechen, um ihn zu empfangen.«

Anton schob die Diamantfilm-Blätter beiseite und streckte sich. »Wer bin ich, dass ich widersprechen könnte?«

Wegen des frühen Todes des Weisen Imperators Cyroc’h hatte Jora’h nicht genug Zeit gehabt, als Erstdesignierter ausreichend adlige Söhne zu zeugen. Deshalb mangelte es an Designierten-in-Bereitschaft für die ildiranischen Splitter-Kolonien, insbesondere so kleine wie Maratha. Woraus folgte: Jora’hs jüngster Bruder Avi’h musste seine Position behalten, da es keinen Ersatz für ihn gab.

Alle Mitglieder der Wartungsgruppe fanden sich auf dem Platz des Geschichtenerzählens unter der zentralen Kuppel ein, und mehrere Soldaten der Solaren Marine folgten dem Maratha-Designierten, als er in seine grell erleuchtete Stadt zurückkehrte. Der Septar namens Rhe’nh stand stramm und wartete darauf, verabschiedet zu werden – er musste noch weitere Designierte und Designierte-in-Bereitschaft zu ihren jeweiligen Welten bringen.

Anton bemerkte, dass der Designierte Avi’h, der wie üblich einen weiten, gelben und üppig verzierten Umhang trug, kleiner war als die meisten anderen Ildiraner. Er hielt den Kopf hoch erhoben, als könnte er ein wenig größer werden, wenn er den Hals streckte. Wenn es in Maratha Prime von Touristen wimmelte, kam der zugeknöpfte Designierte oft, um Vao’shs Geschichten zuzuhören, aber eher aus Pflichtgefühl und nicht aus Interesse an den Erzählungen.

Sein oberster Beamter Bhali’l, ein getreuer Gefolgsmann und fleißiger Assistent, begleitete ihn. »Alle grüßen den Maratha-Designierten!«, rief Bhali’l mit seiner dünnen Stimme und nahm damit die Aufgaben eines Ausrufers wahr.

Die versammelten Ildiraner falteten die Hände auf der Brust, und Anton folgte rasch ihrem Beispiel. Avi’h stieg die Treppe zum zentralen Podium hoch; der oberste Beamte blieb dabei an seiner Seite, sprach auch weiterhin für ihn: »Der neue Weise Imperator Jora’h hat befohlen, dass der Designierte Avi’h hierher zurückkehrt und selbst während der Dunkelheit über seine Arbeiter wacht. Zwar widerspricht das der Tradition, aber der Designierte ist gekommen, um das Thism zu stärken und sein Wohlwollen zu zeigen.«

Ein gezwungenes Lächeln zeigte sich im leidenden Gesicht des Maratha-Designierten, als Bhali’l seine schrille Proklamation fortsetzte. »Wir werden alle Arbeitsaktivitäten inspizieren und Aufzeichnungen anfertigen, um zu gewährleisten, dass Maratha Prime während der langen Nacht richtig gewartet wird. Die Präsenz des Designierten bedeutet, dass es dieser Stadt auch während der Dunkelheit gut gehen wird.«

Anton vermutete, dass Ingenieur Nur’of und sein thermisches Projekt mehr zur Prosperität der Stadt beitragen würden als Avi’hs Anwesenheit. Ein verwöhnter und verhätschelter Adliger wie der Designierte fühlte sich vermutlich um sein halbes Jahr im Prismapalast betrogen.

Schließlich ergriff Avi’h selbst das Wort, beschrieb die Zeremonie, mit der Jora’h zum neuen Weisen Imperator geworden war, das Feuer der Kremation und die Unterbringung von Cyroc’hs glühenden Knochen im Ossarium des Prismapalastes. Die Ildiraner hörten hingerissen zu, und Vao’sh war sowohl fasziniert als auch traurig. »Schade, dass ich nicht dabei gewesen bin. Ein solches Ereignis findet im Leben eines Ildiraners nur einmal statt.«

Nach der Versammlung kehrten die Arbeiter zu ihren Aufgaben zurück, und Avi’h rief die Erinnerer zu sich, ausdrücklich auch Anton. Der Designierte hatte in einem bunten, bequemen Sessel Platz genommen, und der oberste Beamte stand neben ihm, wurde erneut zu seinem Sprachrohr. »Erinnerer Anton Colicos, eine verspätete Nachricht traf auf Ildira für Sie ein, ein Bericht von der Terranischen Hanse.«

»Warum sollte sie mir eine Mitteilung ins Ildiranische Reich schicken?«, wunderte sich Anton. Und dann ahnte er, was es mit der Nachricht auf sich hatte.

Der zerstreute Designierte sprach in einem gleichgültigen Tonfall. »Offenbar hat man Ihren Vater bei einer archäologischen Ausgrabung auf Rheindic Co tot aufgefunden. Ihre Mutter wird noch vermisst. Der Hanse-Händler, der diese Nachricht brachte, nannte nicht viele Details.«

Anton wankte und sah plötzlich Sterne vor den Augen. Er war sprachlos. Vao’sh ergriff seinen Arm und stützte ihn. »Es tut mir Leid, mein Freund. Ich weiß, dass Sie sich Sorgen gemacht haben…«

Als hätte er gerade ein Zeremonienband durchschnitten, hob der Designierte abrupt die Hand – offenbar hielt er seine Pflicht für getan. »Das ist alles. Mehr gibt es nicht. Sie können beide gehen.«

Antons Füße fühlten sich schwer wie Blei an, als Vao’sh ihn fortführte.