96 CESCA PERONI
Auf dem Weg zur Erde hatte Cesca reichlich Zeit, darüber nachzudenken, was die Hanse getan hatte.
Nachdem sie Theroc verlassen hatte, war sie sofort zu dem mit Nikko Chan Tylar vereinbarten Treffpunkt geflogen. Jess Tamblyns Wasserträger verbreiteten die Nachricht bereits in den abgelegenen Außenposten der Clans, doch Cesca brauchte nicht nur Informationen, sondern auch hieb- und stichfeste Beweise. Mitten in der Leere wartete sie und hielt mit den Sensoren nach Nikkos Schiff Ausschau. Schließlich erschien die Aquarius, fast pünktlich.
Der junge Mann war ebenso aufgeregt und bestürzt wie bei der Entdeckung der Trümmer von Raven Kamarows Schiff, als er der Sprecherin gegenübertrat. In seinen Händen hielt er die Datenmodule, die Bilder und Aufzeichnungen der Kommunikationssignale der Tiwi-Schiffe beim Hurricane-Depot enthielten.
»Es wird immer schlimmer, Sprecherin«, sagte er und ließ die Bilder auf einem kleinen Schirm im Cockpit von Cescas diplomatischem Schiff ablaufen. Sie beobachtete den rücksichtslosen Angriff, den Diebstahl von Ressourcen und die Gefangennahme zahlreicher Roamer, gefolgt von der Vernichtung der Station. Im Cockpit ihres Schiffes schien es plötzlich sehr kalt zu werden.
»Den Überfall auf Ravens Schiff versuchten die Tiwis geheim zu halten«, sagte Cesca. »Aber dies ist offener Krieg.« Sie hob die Datenmodule. »Die Große Gans glaubt, uns einfach so angreifen zu können, aber ich garantiere Ihnen: Andere Kolonien werden sich daran erinnern, was auf Yreka geschah, als die TVF auf Bürger der Hanse schoss, nur weil sie einen kleinen Ekti-Vorrat für sich selbst behielten.«
»Roamer sind nicht einmal Bürger der Hanse«, sagte Nikko. »Die Gans hat uns nichts zu befehlen.«
»Sie hat große Streitkräfte. Manche Leute glauben, das genügt.«
Der junge Roamer wirkte noch immer erschüttert. »Was haben Sie jetzt vor, Sprecherin?«
Cesca sammelte Kraft und Entschlossenheit, bedauerte dabei, dass die Clan-Oberhäupter sie zu dem Embargo gezwungen hatten. Ihr war klar gewesen, dass sich daraus unangenehme Konsequenzen für die Roamer ergeben würden, aber es verblüffte sie, dass der König – oder steckte der Vorsitzende dahinter? – so aggressiv reagierte.
»Ich werde die Tiwis auf ihre Fehler hinweisen, Nikko. Jemand in der Terranischen Hanse muss auf die Stimme der Vernunft hören.«
Als ihr Schiff schließlich die Erde erreichte, nahm Cesca Kurs auf den Palastdistrikt. Sofort setzte sich die Flugüberwachung mit ihr in Verbindung und wies sie an, im Orbit zu bleiben, bis sie Landeerlaubnis bekam, doch die Sprecherin achtete nicht darauf. Remoras der TVF näherten sich und drohten mit einem Abschuss, woraufhin Cesca ihnen mitteilte: »Ich bin Cesca Peroni, Sprecherin der Roamer-Clans. Ich habe dringende Angelegenheiten mit der Hanse zu besprechen.«
»Niemand hat mir mitgeteilt, dass die Roamer eine Repräsentantin zur Erde schicken«, erwiderte der Flugleitoffizier. »Sie müssen Ihr Anliegen durch die üblichen diplomatischen Kanäle vortragen, wenn Sie mit jemanden von der Hanse sprechen möchten.«
»Ich möchte nicht mit ›jemandem‹ sprechen, sondern mit dem König«, sagte Cesca kühl.
»Wir haben keinen Einfluss auf den Terminkalender des Königs«, lautete die schroffe Antwort.
»Erst schneiden sie uns vom Ekti-Nachschub ab, und jetzt glauben sie, der ganze Spiralarm gehört ihnen«, brummte einer der Remora-Piloten und wusste, dass Cesca ihn hörte.
Am Ziel ihrer Reise angekommen fragte sich Cesca, ob sie mit Verhandlungen überhaupt etwas erreichen konnte. Die Clans hatten bereits die Handelsbeziehungen mit der Hanse unterbrochen – womit sollte sie sonst noch drohen? Man würde vermutlich glauben, dass sie bluffte, dass die Roamer vom Handel ebenso abhingen wie die Große Gans. Doch die Roamer konnten den Gürtel auf die eine oder andere Weise enger schnallen.
Cesca dachte an die Möglichkeit, dass die Hanse sie als Geisel gefangen nahm, so wie die Bewohner des Hurricane-Depots. Wenn König und Vorsitzender glaubten, dass sich die Clans erpressen ließen, so hatten sie keine Ahnung vom Stolz und der Unabhängigkeit der Roamer.
Schließlich ertönte die Stimme eines Hanse-Sprechers aus dem Kom-Lautsprecher. »Wir erlauben Sprecher Peroni zu landen. Ein Treffen wird so bald wie möglich stattfinden.«
Cesca steuerte ihr Schiff tiefer und befolgte die von den Remoras übermittelten Kursanweisungen. Unmittelbar nach der Landung erschienen uniformierte Eskorten und führten sie fort. Während ihrer Abwesenheit würde man im Schiff zweifellos nach Informationen suchen und vielleicht sogar Überwachungsgeräte verstecken. Und wenn schon. Cesca hatte die wichtigen Daten mit einem speziellen Kode gesichert, der sie bei einer Schutzverletzung löschen würde. Und Wanzen irgendeiner Art konnte sie leicht finden und unschädlich machen. Mit Duplikaten der Datenmodule, die Bilder vom Angriff auf das Hurricane-Depot enthielten, machte sich Cesca auf den Weg.
Durch die Wental-Kommunikation hatten die Roamer eher von der Zerstörung der Station erfahren, als es die TVF erwartet hatte. Das war Cescas Trumpf. Vielleicht hatte die Große Gans noch keine Zeit gehabt, Lügen und Rechtfertigungen vorzubereiten.
Sie hatte König Peter immer für vernünftig und mitfühlend gehalten. Er war mit Reynalds Schwester Estarra verheiratet, und Cesca hoffte, bei ihm einen größeren Sinn für Gerechtigkeit zu finden als bei Sarein.
Wächter geleiteten sie in einen privaten Besprechungsraum im Flüsterpalast. Dort nahm sie Platz, sammelte ihre Gedanken und legte sich Worte zurecht.
Als ein Kompi-Bediensteter die Tür öffnete, stand sie auf, bereit dazu, den König zu begrüßen. Doch sie sah nicht Peter, sondern den Vorsitzenden Wenzeslas. »Ihr Besuch ist ziemlich überraschend, Sprecherin Peroni. Ich wollte Ihnen eine Mitteilung schicken, aber Roamer sind schwer zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollen.«
»Ich glaube, Ihre Mitteilung in Form des Angriffs auf unser Hurricane-Depot ist ziemlich deutlich«, sagte Cesca scharf und beobachtete, wie Erstaunen durch das Gesicht des Vorsitzenden huschte. »Wo ist König Peter? Ich habe um ein Gespräch mit ihm gebeten.«
»Ich treffe hier die Entscheidungen. Sprechen Sie mit mir.«
»Wenn Sie die Entscheidungen treffen… Liegt die Verantwortung dann bei Ihnen? Stecken Sie hinter den wiederholten aggressiven Aktionen gegen Schiffe und Stützpunkte der Roamer?« Cesca hob die Datenmodule mit den Untersuchungsergebnissen. »Wir haben die Trümmer eines Roamer-Schiffes analysiert, das eindeutig von Jazern zerstört wurde, nach dem Diebstahl der Ekti-Ladung – hier sind die Resultate.« Sie wollte die Speichermodule dem Vorsitzenden übergeben, der sie aber ignorierte.
»Und diese Bilder zeigen den Angriff der TVF auf unser Hurricane-Depot.« Cesca aktivierte einen Flachschirm, und die von Nikko aufgezeichneten Szenen erschienen. Ganz deutlich waren die Molochs und Mantas zu sehen, die sich der Station näherten. Alle wertvollen Dinge wurden an Bord der TVF-Schiffe gebracht, und dann wurde die Station aus ihrem stabilen Orbit gerissen, was zu ihrer Vernichtung führte. »Ich habe Sie auf das Problem hingewiesen, doch eine Antwort von Ihnen blieb aus.«
Der Vorsitzende lächelte humorlos. »Unsere Antwort dürfte klar sein, oder? Die Sache mit dem Hurricane-Depot ist unsere Reaktion auf Ihr illegales Embargo, und ich werde weitere militärische Maßnahmen genehmigen, bis Sie kapitulieren. Die Hanse kann nicht zulassen, dass Sie uns vom Ekti-Nachschub abschneiden, obwohl wir den Treibstoff dringend brauchen.« Er setzte sich und faltete die Hände. »Genug mit diesem Unsinn, der uns beiden schadet, Sprecherin. Bestimmt können wir uns auf akzeptable Bedingungen einigen.«
»Bedingungen? Unsere Bedingungen waren einfach genug, Vorsitzender. Aber anstatt das Problem zu lösen, haben Sie alles noch schlimmer gemacht.« Cesca deutete auf den Flachschirm. »Angesichts dieser Bilder von Ihrem völlig ungerechtfertigten Angriff auf das Hurricane-Depot kann niemand unsere Vorwürfe in Zweifel ziehen.«
Der Vorsitzende Wenzeslas wirkte noch immer nicht beunruhigt. »Glauben Sie? Im letzten Monat haben unsere Medien immer wieder Berichte über Unzuverlässigkeit, Verrat und Egoismus der Roamer gebracht. Ein Wort von mir genügt, und Dutzende von Experten wären bereit, diese Bilder als dilettantische Fälschungen zu bezeichnen. Alle werden davon überzeugt sein, dass Sie nur eine Schau abziehen, um das Embargo zu rechtfertigen – das wir bereits als einen Trick dargestellt haben, mit dem Sie höhere Ekti-Preise durchsetzen wollen.«
Wenzeslas beugte sich vor. »Ich möchte Ihnen eine Erklärung zeigen, die der König unterschreiben wird.« Er schaltete den Tischschirm ein, und Worte erschienen. »Wenn wir all die blumigen diplomatischen Ausdrücke weglassen, läuft es auf Folgendes hinaus: Hiermit wird das Kriegsrecht über die Roamer-Clans verhängt und Ihnen ausdrücklich das Recht auf Unabhängigkeit und eine eigene Regierung abgesprochen.«
Er betätigte die Kontrollen, und eine andere Seite erschien. »Hier sehen Sie ein Faksimile der Vereinbarung, die von den Kolonisten aller Generationenschiffe unterschrieben wurde, auch von denen der Kanaka. Darin heißt es, dass keine Kolonisten, Besatzungsmitglieder und deren Nachfahren der Erde Schaden zufügen dürfen – und mit dem Ekti-Embargo richten Sie Schaden an.« Eine Taste klickte, und ein drittes Dokument erschien. »Dies ist die offizielle Aufforderung an die Roamer, uns alle Ekti-Vorräte zu übergeben, damit wir sie unter den Menschenwelten verteilen können, in Abhängigkeit vom Bedarf.« Wenzeslas sah die Sprecherin an und lächelte dünn. »Ich stelle Ihnen gern einen Ausdruck zur Verfügung, wenn Sie möchten.«
Cesca lachte kurz. »Dies ist so absurd, dass es keiner rechtlichen Anfechtung standhalten wird.«
»Oh, es wird keine Anfechtungen geben. Die Dokumente bringen zum Ausdruck, was die Mehrheit der Hanse-Bürger wünscht. Interessiert Sie das Ergebnis der letzten Umfragen? Die Roamer-Clans gelten derzeit als Feinde der Menschheit. Als Sie so dumm waren, die Handelsbeziehungen mit uns abzubrechen, haben Sie der Erde den Krieg erklärt, Sprecherin Peroni.«
»Sie hatten nie einen Anspruch auf unser ganzes Ekti.«
»Doch, den hatten wir. König Peter wird es verkünden. Und Ihr Starrsinn zwingt uns, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Ihr…« Wenzeslas sah auf den Schirm und las den Namen. »… Hurricane-Depot ist nur die erste von mehreren möglichen Übernahmen, die wir geplant haben.«
»Übernahmen?«
»Einige Asteroiden-Siedlungen, Verarbeitungsanlagen, Frachter… Alles ungeschützt. Wenn Sie mich weiterhin zum Handeln zwingen, weise ich die TVF an, alles zu nehmen, was sie finden kann, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.« Er richtete einen aufreizend »vernünftigen« Blick auf Cesca. »Dieser Konflikt dauert nur so lange, wie Sie es wollen, Sprecherin Peroni. Übergeben Sie uns Ihr Ekti und kehren Sie in die große Familie der Menschheit zurück.«
Angesichts der Schnelligkeit, mit der die TVF das Hurricane-Depot erst ausgeraubt und dann vernichtet hatte, rechnete der Vorsitzende sicher damit, dass Cesca sofort nachgab. Aber er kannte sie nicht, und er wusste nicht genau, womit er es zu tun hatte. Mit solchen Bedingungen konnte sie unmöglich nach Rendezvous zurückkehren. Die Roamer hätten sie aus der nächsten Luftschleuse geworfen und einen neuen, stärkeren Sprecher gewählt.
»Und da ich jetzt hier bin… Vermutlich wollen Sie mich als Geisel festhalten, als politische Gefangene?«
Der Vorsitzende neigte überrascht den Kopf zur Seite. »Etwas so Taktloses würde ich nie tun, Sprecherin Peroni. Es gibt zu viele Zeugen für Ihre Ankunft, und es wären sehr schlechte diplomatische Manieren, Sie zu verhaften. Wahrscheinlich würde das bei den Roamern zu noch mehr Desorganisation führen, und dann wäre es noch schwerer, diese Angelegenheit zu erledigen. Sind Sie bereit, uns allen viel Mühe zu ersparen, indem Sie sofort kapitulieren?«
Cesca stand auf und sprach so ruhig wie der Vorsitzende. »Es war ein Fehler, Sie für vernünftig zu halten, Vorsitzender Wenzeslas. Dies läuft auf Erpressung hinaus. Als Sprecherin aller Clans bestätige ich hiermit den Abbruch der Handelsbeziehungen zwischen Roamern und der Hanse. Es gibt kein Ekti mehr für Sie, keine Ressourcen irgendeiner Art.«
Basil wirkte verärgert. Zweifellos glaubte er, dass sich durch Cescas Weigerung, seinen Forderungen nachzugeben, nur alles unnötig in die Länge zog.
»Wir werden Sie zur Strecke bringen«, sagte er und blieb sitzen. »Wir werden alle Ihre Stationen und Stützpunkte übernehmen.«
Cesca ging zur Tür, öffnete sie und erschreckte den Wächter, der draußen wartete. »Sie vergeuden Ihre Zeit, wenn Sie mit Kriegsschiffen nach uns suchen lassen, Vorsitzender. Sie werden feststellen, dass wir wie Rauch verschwinden.«