33 JESS TAMBLYN

Jess flog mit seinem wundervollen Wasser-und-Perlmutt-Schiff, und als er sich Rendezvous näherte, sahen die Asteroiden anders aus. Vielleicht lag es an den Wentals hinter seinen Augen: Wenn er durch die transparente Hülle des Schiffes blickte, verschwammen die großen Felsbrocken im All wie hinter einem Tränenschleier. Die Rückkehr erfüllte Jess mit großer Aufregung.

Er fragte sich, ob Cesca da war und ob sie in der Zwischenzeit Reynald von Theroc geheiratet hatte. Er gehörte nicht länger zu den Roamern und war nicht mehr ganz Mensch. Wie sollten Cesca und er mit diesen Veränderungen fertig werden?

Doch Roamer verstanden es, Unmögliches zu schaffen.

Es würde alle Clans erstaunen, ihn und sein seltsames Raumschiff zu sehen. Vielleicht hielten sie ihn für einen Fremden, für eine mögliche Gefahr, und nahmen seine Annäherung zum Anlass, die Flucht zu ergreifen. Jess hätte sie gern beruhigt, aber es gab keine direkte Kommunikationsmöglichkeit für ihn. Trotz seiner vielen Wunder verfügte das Wasser-und-Perlmutt-Schiff nicht über ein Kom-System, das es ihm erlaubt hätte, eine Verbindung mit den Roamern herzustellen.

Das exotische Schiff glitt anmutig dem Asteroidengürtel entgegen. Die peripheren Felsen drifteten langsam auf individuellen Bahnen dahin und bildeten eine Art Tarnschirm, der die Sensoren von Schiffen der Großen Gans an einer gründlichen Sondierung hindern sollte. Große Konstruktionsgerüste verbanden die zentralen Habitatfelsen von Rendezvous miteinander, und Drahtseile spannten sich zwischen kleineren. Andere umkreisten sich langsam, von der Gravitation aneinander gebunden. Als sich Jess dem zentralen Bereich näherte, entdeckte er zahlreiche Schiffe der Roamer: Kurzstreckenshuttles, Ekti-Eskorten und Langstreckenfrachter für den Transport von Nachschubgütern und Ausrüstungsmaterialien – sie wirkten wie Bienen in der Nähe ihres Stocks. Endlich zu Hause.

Jess lenkte sein Schiff langsam zum Hauptandockring, und dabei ergaben sich weitere Fragen. Wie sollte er ins Innere von Rendezvous gelangen? Er blickte an seinem von Energie imprägnierten Leib herab und sah die glühende Haut. Die Wentals durchdrangen sein Gewebe und gaben ihm viele Fähigkeiten, die normalen Menschen fehlten. Er überlegte, ob er im Vakuum überleben konnte.

Ja. Wir schützen dich.

Aber die Wentals konnten ihm nicht dabei helfen, die vielen Fragen der Roamer zu beantworten. Dieser Herausforderung musste er sich selbst stellen. Cesca würde ihn dabei unterstützen, wenn sie wieder zusammen waren.

Während die Clan-Schiffe in Panik fortsausten und die Bewohner von Rendezvous zu den Gefechtsstationen eilten oder Vorbereitungen für die Evakuierung trafen, ließ Jess sein großes, sonderbares Schiff außerhalb eines runden Zugangskraters schweben. Er hoffte, dass die Clan-Schiffe nicht auf ihn feuerten, aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre: Vermutlich konnte sein Wental-Schiff solchen Angriffen standhalten. Normalerweise griffen Roamer nicht einfach an, sondern hielten sich zurück. Sie würden abwarten und sehen, was er beabsichtigte. Das hoffte Jess jedenfalls.

Licht fiel aus Fenstern in Felswänden, die wie Augen der Asteroiden aussahen. Jess stellte sich vor, wie Alarmsirenen heulten und Roamer durch die Tunnel liefen, um sich auf den Kampf oder die Notevakuierung vorzubereiten.

Jess’ Schiff hing einfach da, bewegungslos. Er verzichtete auf alles, das als Drohung interpretiert werden konnte, gab den Roamern Gelegenheit, sich an seine Präsenz zu gewöhnen. Schiffe verharrten in sicherer Entfernung, um das Geschehen zu beobachten.

Schließlich näherte sich ein kleines Schiff und wagte einen Vorbeiflug. Jess blickte durch die wogende Wasserwand und sah einen jungen Roamer an den Kontrollen. Sein Gesicht mit den asiatischen Zügen zeigte mehr Neugier als Furcht. Nikko Chan Tylar. Jess erinnerte sich an den jungen Mann von Clan-Versammlungen her.

Er schwamm durch die flüssige Atmosphäre, mit der Absicht, sich ganz deutlich zu zeigen. Dicht an der transparenten Hülle hob er die Hand, davon überzeugt, dass Nikko seine menschliche Gestalt sehen konnte. Er winkte, langsam und freundlich. Nikko riss verblüfft die Augen auf, und Erkennen huschte durch sein Gesicht, bevor er fortflog.

Jess begriff, dass nicht nur seine glühende Haut die Verblüffung ausgelöst hatte, sondern auch der Umstand, dass er nackt war. Roamer liebten es, sich zu schmücken. Sie bestickten ihre Kleidung, trugen bunte Schärpen und Tücher. Sie waren nicht prüde, aber wenn Jess Rendezvous unbekleidet betrat, bewirkte er zusätzliche Aufregung.

Dieses Problem lässt sich leicht lösen.

Im Wasser vor ihm entstand ein winziger Molekülstrang, aus Mineralien des Meerwassers und den metallüberzogenen Korallen des Schiffsgerüstes. Aus dem Faden wuchs ein silbriges Netz, das immer größer wurde.

Wir schaffen einen Stoff der der Energie in deinem Körper standhält.

Das silbrige Netz verwandelte sich in ein Gewebe mit dem Glanz und der Farbe von Perlmutt. Wie eine zweite Haut wickelte sich der Stoff um ihn, bedeckte Arme und Beine, Rumpf und Hüften. Hände und Füße blieben von ihm unberührt.

»Sehr elegant«, sagte Jess.

Es erfüllt seinen Zweck.

Jess brachte das Wental-Schiff in den Krater und presste eine Stelle der Außenhülle ans große Hangarschott. Die wässrige Membran veränderte ihre Struktur und formte ein flüssiges Siegel, sodass Jess das Schott öffnen konnte.

Er trat so durch die Membran, als wäre sie nicht fester als Gelatine, stand dann im Licht des Rendezvous-Hangars. Seine Haut war feucht, aber das Wasser tropfte nicht ab. Es blieb an Ort und Stelle, als Teil seines Wesens, erfüllt von phosphoreszierender Energie. Zwar brauchte er nicht zu atmen, aber trotzdem schöpfte er tief Luft und nahm den metallischen Geruch einer wieder aufbereiteten und gefilterten Atmosphäre wahr. Es war ein seltsames, herrliches Gefühl.

Erinnerungen und Emotionen durchströmten ihn. Hier in Rendezvous war er Cesca zum ersten Mal begegnet. Er hatte an Versammlungen teilgenommen und den Familien dabei geholfen, wichtige Entscheidungen in Hinsicht auf Handel, Expansion und ihre Zukunft zu treffen. Tiefe Erleichterung erfasste ihn, als er erneut begriff, wo er sich befand. Zu Hause.

Dann sprachen die Wentals in seinem Kopf und übermittelten eine Warnung, die seine Hoffnungen unter einer eiskalten Lawine begrub. Erlaube dir keinen physischen Kontakt mit einer anderen Person. Du musst Abstand wahren. Es besteht Gefahr.

»Warum?« Jess dachte daran, Cesca wieder zu sehen, selbst wenn sie verheiratet war. Sie hatten sich so nahe gestanden…

Es befindet sich zu viel unkontrollierte Energie in dir. Dein Körper ist gerade imstande, das Wental-Wasser in den Zellen zu bewahren. Durch den Kontakt mit deiner Haut könnte eine andere Person überflutet werden, wie bei einem Dammbruch.

»Soll das heißen… ich darf niemanden berühren? Nicht einmal ein Händedruck ist möglich?« Oder ein Kuss.

Es sollte nicht schwer für dich sein, von anderen Menschen getrennt zu bleiben. Wir helfen dir dabei. Deine Mission ist wichtig.

Jess sammelte seine Gedanken und erinnerte sich daran, worum es ging – er brachte den Clans, und der ganzen Menschheit, einen mächtigen Verbündeten. »Na schön.« Er musste sich damit zufrieden geben, Cesca zu sehen. Hoffentlich weilte sie in Rendezvous.

Das Geräusch eiliger Schritte wurde lauter. Dutzende von neugierigen Männern, Frauen und Kindern näherten sich, tanzten wie Gazellen in der niedrigen Schwerkraft. Besorgt und gleichzeitig fasziniert kamen sie näher. Vermutlich hatte Nikko schon Bericht erstattet. Die Rückkehr von Jess Tamblyn, noch dazu mit einem so erstaunlichen Schiff, sorgte natürlich für Aufruhr.

Jess sah in große Augen und lächelte. Einige Roamer trugen Waffen, Strahler oder Projektilschleudern. Zwar konnten sie Jess nicht verletzen, aber er achtete trotzdem darauf, plötzliche Bewegungen zu vermeiden. Langsam breitete er die Arme aus, und seine seltsame Perlmutt-Kleidung glitzerte im Licht. »Ich weiß, dass meine Ankunft unerwartet und… ungewöhnlich ist, aber es gibt nichts zu befürchten, das versichere ich Ihnen.«

Immer mehr Roamer kamen in den großen Hangar und wahrten instinktiv einen sicheren Abstand von dem Heimkehrer, in dessen Körper sonderbare Energie glühte. »Ich bin zurück… ich bin wirklich zurück. Und ich habe eine Geschichte zu erzählen, die so phantastisch ist, dass nicht einmal die ildiranischen Erinnerer wüssten, was sie davon halten sollen.«

Und dann sah er Cesca Peroni.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, noch aufgeregter als die anderen. Wie ein Verdurstender trank Jess ihren Anblick, ihre vollen Lippen, den wundervollen Körper, und er erinnerte sich… Viele Roamer hatten von ihrer Beziehung gewusst oder etwas geahnt, doch derzeit dachte niemand an Klatsch.

Jess sehnte sich danach, Cesca zu umarmten, doch die Wentals hinderten ihn daran. »Komm nicht näher, Cesca. Bitte. So sehr es mir auch widerstrebt, dir das zu sagen, aber du solltest dich von mir fern halten.« Er hob eine leuchtende Hand und zeigte ihr das Glühen in den Fingern.

Cesca blieb stehen. Ihre großen braunen Augen schienen ihn zu verschlingen, und in ihrem Gesicht strahlte Freude. Das fast schwarze Haar war länger geworden, die olivfarbene Haut noch immer glatt und makellos. Doch sie wirkte müde – die Verantwortung der Sprecherin lastete schwer auf ihr.

Warum war sie nicht mit Reynald zusammen?

»Du hast dir Zeit gelassen für deine Rückkehr, Jess Tamblyn. Monatelang haben wir nach dir gesucht. So viel…« Cesca musste sich zwingen weiterzusprechen. »So viel hat sich verändert.«

Jess lachte leise. »Du ahnst nicht wie viel, Cesca.«