16 ANTON COLICOS
Im Lauf von Wochen wich die lange Abenddämmerung auf Maratha einer Nacht, die ein halbes Jahr dauern würde. Anton Colicos beabsichtigte, die ganze Dunkelzeit auf dem Planeten zu verbringen, als einziger Mensch auf Maratha und begleitet nur von einigen wenigen Ildiranern. Er freute sich auf die Einsamkeit.
Die Ildiraner, die zurückbleiben mussten, um über die leere Urlaubsstadt zu wachen, fühlten sich wie zu einer monatelangen Gefängnisstrafe verurteilt.
Zwar war der Maratha-Designierte für diese Welt zuständig, aber er kehrte nach Ildira zurück, um der Kremation seines Vaters und der Machtübernahme durch Jora’h beizuwohnen. Der Designierte Avi’h hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er erst dann zurückkehren würde, wenn die Sonne wieder schien und Urlauber kamen.
Anton versuchte, seinem Erinnerer-Freund Trost zuzusprechen. »Lassen Sie uns das Beste daraus machen, Vao’sh. Wenn die Kanonen der Dunkelheit so spektakulär sind, wie ich hörte, so steht uns ein ganz neues Repertoire für das Geschichtenerzählen zur Verfügung. Es geschieht nur einmal pro Jahr, oder?«
Der alte ildiranische Erinnerer hatte sich zunächst über den Auftrag gefreut, der Wartungscrew auf Maratha Gesellschaft zu leisten und dafür zu sorgen, dass sich die Zurückbleibenden nicht zu einsam fühlten. Doch mit dem Beginn der langen Nacht kamen Vao’sh Zweifel. Anton plante, mehr Unterhaltungsarbeit zu leisten, indem er irdische Legenden erzählte.
Die Hautlappen im Gesicht des ildiranischen Historikers veränderten die Farbe und boten damit Hinweis auf unterschiedliche Emotionen. Erheiterung? Resignation? Anton war noch immer nicht imstande, alle Farben und Nuancen zu interpretieren. »Na schön, Erinnerer Anton. Sehen wir uns die Kanonen der Dunkelheit an, wie von Ihnen vorgeschlagen.«
Anton folgte ihm, und sein Interesse wuchs, als sie an einem Ausgang der Kuppeln von Maratha Prime Schutzkleidung überstreiften. Draußen fiel die Temperatur bereits dramatisch. Die Kleidung verwendete die thermische Technik der Ildiraner, war dünn und flexibel, aber warm.
Der Planet rotierte so langsam im majestätischen Schein seiner Sonne, dass Maratha Prime fast ein halbes Jahr lang strahlende Helligkeit genoss. Es folgte eine Abenddämmerung, die einen Monat dauerte, und dann kam die endlose Nacht. Die meisten Bewohner Marathas verließen den Planeten, wenn die Dämmerung einsetzte.
Nach fast zwei Jahrhunderten des Erfolgs als Urlaubswelt sollte bald eine zweite Stadt auf Maratha eröffnet werden, auf der anderen Seite des Planeten. Klikiss-Roboter arbeiteten dort – derzeit im Sonnenschein –, um Secda zu errichten, eine neue große Stadt, die ildiranischen Urlaubern jeden Luxus bieten würde. Nacht für Maratha Prime bedeutete Tag für Secda.
Die beiden in Schutzkleidung gehüllten Männer traten ins matter werdende Zwielicht. Zwar war der Himmel noch längst nicht dunkel, aber Vao’sh aktivierte trotzdem sofort alle Glühstreifen an seinen Schultern.
Bevor Anton und Vao’sh in einem kleinen Bodenfahrzeug Platz nehmen konnten, das sie zu den Kanonen bringen sollte, rief ein anderer ildiranischer Mann: »Bitte warten Sie, ich möchte Sie begleiten!« Anton erkannte Ilure’l aus dem Linsen-Geschlecht, der als Betreuer und Berater für die Wartungscrew auf Maratha geblieben war. »Die Kanonen der Dunkelheit sind faszinierend. Ich fühle mich immer… inspiriert, wenn ich sie sehe.«
Ildiraner des Linsen-Geschlechts verfügten über schwache telepathische Kräfte, mit denen sie angeblich die Sphäre der Lichtquelle interpretieren konnten. Unter den Wartungstechnikern herrschten Schwermut und Niedergeschlagenheit – Anton hoffte, dass Ilure’l für die letzten Ildiraner auf Maratha sowohl Priester als auch Psychologe sein konnte.
»Bitte kommen Sie.« In Vao’shs Stimme erklang ein Hauch von Furcht davor, sich zu weit von seinen Artgenossen zu entfernen. »Bitte.«
Anton bot sich an, das einfache Vehikel zum schattigen Horizont zu fahren. »Sollen wir Mhask’k und Syl’k fragen, ob sie ebenfalls mitkommen möchten? Vielleicht freuen sie sich über die Möglichkeit, ihre landwirtschaftlichen Kuppeln einmal zu verlassen.«
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts sah ihn kurz an. »Sie haben zu arbeiten.«
Hinter ihnen leuchteten und glitzerten die Kuppeln von Prime, ein Schrei aus Photonen vor der heranrückenden Finsternis der Nacht. Drei wabenartige Konstruktionen hockten wie Satelliten am Rand der Stadt, und in ihrem hellen Innern wuchsen Pflanzen.
Die beiden Ildiraner des Bauern-Geschlechts bauten im strahlenden Schein von Lampen Getreide in Düngetrögen und hydroponischen Kanälen an. Das Bauern-Geschlecht produzierte Nahrungsmittel; darauf war es spezialisiert, und alle anderen Dinge interessierten es nicht. Anton war immer bestrebt, mehr über die ildiranische Kultur zu erfahren, und er hatte versucht, einen Eindruck von der Lebensweise der Bauern zu gewinnen, von ihrem speziellen Dienst für den Weisen Imperator. Doch sein Bemühen, mit Mhask’k und Syl’k zu sprechen, blieb praktisch auf einen Monolog seinerseits beschränkt. Wenn sie überhaupt etwas sagten, hielten sie den Blick dabei gesenkt. Ihre Finger blieben in Bewegung, berührten Blätter und Stängel, maßen den Feuchtigkeitsgehalt. Mhask’k und seine Partnerin Syl’k schienen mit wachsenden Dingen besser kommunizieren zu können als mit Personen.
Sie bildeten ein perfektes Paar und erinnerten Anton an seine vermissten Eltern. Margaret und Louis waren wie zwei Seiten der gleichen Medaille gewesen, hatten immer perfekt zusammengearbeitet, die gleichen Leidenschaften und Interessen geteilt. Anton bedauerte zutiefst, nicht zu wissen, was aus ihnen geworden war.
»Die meisten ildiranischen Geschlechter teilen Ihre Neugier nicht, Erinnerer Anton«, erklärte Vao’sh. »Mhask’k und Syl’k kümmern sich um die Treibhauskuppeln und bauen unsere Nahrung an. Das bereitet ihnen Freude und Genugtuung. Für andere Dinge interessieren sie sich nicht.«
Während der Fahrt wurde es dunkler, und Ilure’l schaltete die Innenbeleuchtung ein, sodass Anton Mühe hatte, draußen noch etwas zu erkennen. Weiter vorn sah er weiße Rauchfahnen, wie Abgase aus den Schloten einer Industrieanlage.
»Ich sehe mir dieses Spektakel jedes Jahr an«, sagte Ilure’l. In Vao’shs Gesicht kam es zu einer Symphonie aus Farben, die etwas zum Ausdruck brachten, wofür ihm die Worte fehlten.
Anton stoppte das Bodenfahrzeug an einer Stelle, die Ausblick auf emporsteigenden Dampf gab. Er verließ den Wagen als Erster und trat in die klirrende Kälte, hörte ein dumpfes Grollen, von einer Vibration im Boden begleitet. »Hören Sie das?«
Der Dampf bildete Nebel in der Dunkelheit. Feuchtigkeit gefror zu Schneeflocken, die langsam zu Boden sanken. Eis sammelte sich am Rand der Fumarolen an.
Seismische Untersuchungen hatten ergeben, dass der Boden unter Maratha Prime viele Aquiferen und thermische Kanäle enthielt. In der Stadt gab es zahlreiche heiße Quellen, zur Freude der ildiranischen Besucher. Wenn bei Einbruch der Dunkelperiode die Temperatur sank, kondensierte aufsteigendes Gas, das während der heißen Jahreszeit unsichtbar blieb, zu deutlich sichtbaren Rauchfahnen. Im Verlauf der nächsten Wochen wurde es immer kälter, wodurch der Dampf gefror, und schließlich entstand eine Eiskappe über den Geysiren, brachte sie zum Schweigen – bis sie zu Beginn der nächsten Lichtperiode explosionsartig zu neuem Leben erwachten.
Vao’sh und Ilure’l blieben im Lichtkreis des Fahrzeugs, während Anton furchtlos in die Schatten trat, um die perlweißen Wolken besser zu sehen. »Ich bin immer an Naturwundern interessiert gewesen, aber vorübergehende Phänomene wie dies sind viel… ergreifender.«
»Eine verwelkende Blume ist schöner als eine dauerhafte Statue unseres Weisen Imperators?« Ilure’l klang skeptisch.
»In gewisser Weise… ja. Zu wissen, dass man etwas verliert… Das zwingt einen, es zu schätzen, bevor es verschwindet.«
»Da hat Erinnerer Anton durchaus Recht«, sagte Vao’sh.
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts schien beunruhigt zu sein. »Das Thism ist schön, weil es sich nie verändert und für immer besteht. Seine perfekte Zuverlässigkeit inspiriert unseren Glauben. Zwar kann ich die natürliche Einzigartigkeit dieser Formationen bewundern, aber ich finde sie weniger schön als die Lichtquelle, wegen ihrer Vergänglichkeit.«
»Menschen glauben, dass es zwei und mehr Möglichkeiten gibt, eine Geschichte zu interpretieren«, sagte Vao’sh.
Anton lächelte. »Die Diskussion über solche Dinge hat meine… esoterischen Kollegen, die an Universitäten arbeiten, während ihrer ganzen beruflichen Laufbahn beschäftigt – und schon Generationen ihrer Vorgänger.«
Das Gespräch beunruhigte Ilure’l offenbar. »Wenn ich das Thism interpretiere, Erinnerer Anton, möchte ich nicht, dass andere ildiranische Geschlechter ihre eigenen Schlüsse ziehen. Zu viele Diskussionen bringen Fragen, keine Antworten. Wenn ich eine Antwort gebe, ist die Angelegenheit erledigt.« Nach einem weiteren kurzen Blick auf die Kanonen der Dunkelheit drehte sich Ilure’l um und stieg wieder in den Bodenwagen. »Wenn Sie so weit sind… Ich würde jetzt gern zur Stadt zurückkehren.«
Anton nahm wieder an den Kontrollen Platz, und als sie sich den hellen Kuppeln von Maratha Prime näherten, versuchte er, den erregten Ildiraner des Linsen-Geschlechts zu besänftigen. »Alle Ildiraner sind durch das Thism miteinander verbunden, und deshalb können Sie vielleicht absolute Antworten geben. Aber wenn ich eine unserer Legenden erzähle, so ist das… nur eine Geschichte.«
Daraufhin huschten die Farben höchster Besorgnis durch Vao’shs Gesicht. »Erinnerer Anton, nichts ist nur eine Geschichte.«