94 ORLI COVITZ

Die Kolonisten nutzten die Klikiss-Ruinen als Basis und verwandelten das behelfsmäßige Lager auf Corribus schnell in eine dauerhafte Siedlung. Es galt, eine ganze neue Welt zu zähmen. Es musste so viel grundlegende Arbeit geleistet werden, dass den Siedlern kaum Zeit blieb, die Umgebung zu erforschen.

Orli hingegen hielt das für einen Teil ihrer Aufgabe.

Vor Jahren hatten sich Xeno-Archäologen in der Ruinenstadt umgesehen und so viele Informationen wie möglich gesammelt, bevor ihnen das Geld ausgegangen war. Später hatten Hud Steinman und andere Scouts der Hanse den vorgesehenen Siedlungsbereich untersucht. Doch Orli wusste, dass es hunderte von Winkeln und Spalten gab, die sich noch niemand angesehen hatte.

Zwar war ihr Vater derjenige, der hoffte, eines Tages verborgene Schätze zu finden, aber ein Teil seiner unerschöpflichen Phantasie hatte auf Orli abgefärbt. Sie stellte sich vor, dass die Klikiss während ihres letzten Kampfes in dieser Schlucht vielleicht irgendwo Aufzeichnungen versteckt und kostbare Dinge vergraben hatten.

Wenn sie auf Entdeckungstour ging, ließ sie ihre Pelzgrille im Käfig. Ihr Vater hatte seine Schicht in der Empfangsstation des Kommunikationsturms begonnen, wo er sich vermutlich die Zeit damit vertrieb, an den Entwürfen neuer Erfindungen zu arbeiten…

Orli ging dorthin, wo die Schlucht schmaler wurde und die glasierten granitenen Wände steil aufragten. Im Lauf von Jahrtausenden hatte Regen Mineralien aus dem Gestein gewaschen, und dadurch waren Ansammlungen von Alaunkristallen entstanden, wie aus einzelnen Schichten aufgebaute Glaswürfel. Sie funkelten und glitzerten an den Schluchtwänden. In ihrem ersten Bericht hatte Margaret Colicos diesen Ort als »der Berg, der kristallene Tränen weint« beschrieben. Margaret hatte sich damals gefragt, ob die Anordnung der Kristalle auf eine Botschaft der Klikiss hinwies oder gar eine Art Schaltkreis bildete. Aber die Ergebnisse der Analysen machten deutlich, dass die Kristalle lange Zeit nach dem verheerenden Angriff gewachsen waren, der das Gestein glasiert hatte.

Als Orli die Kristalle an den Schluchtwänden betrachtete, sah sie gute Kletterhilfen in ihnen, eine Art Trittleiter, die sie zu den Rissen und Spalten weiter oben bringen konnte.

Sie begann zu kletterten, trat auf die Kristalle, griff mit den Händen nach den Vorsprüngen und zog sich hoch. Orli lächelte bei dem Gedanken, dass sie zu Orten vorstieß, die von den archäologischen Expeditionen nicht verzeichnet worden waren. Margaret und Louis Colicos waren alte Leute, ebenso wie Hud Steinman. Etwas so Riskantes und Anstrengendes hätten sie bestimmt nicht gewagt.

Auf halbem Weg nach oben hielt sie inne, blickte nach unten und begriff dann, dass dies keine besonders gute Idee gewesen war. Der Schluchtboden lag tief unter ihr. Die Wand ragte weiterhin steil auf, und die Kristallbrocken erschienen ihr plötzlich kleiner und brüchiger. Wenn sie losließ oder in Ohnmacht fiel… Der Sturz in die Tiefe würde ihren sicheren Tod bedeuten.

Orli schluckte und beschloss, nach oben zu sehen und den Weg fortzusetzen. Eine schwarze vertikale Kerbe, halb verborgen in einer Falte des Gesteins, weckte ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht war es einmal eine große Höhlenöffnung gewesen, aber der Granit hatte sich vor Jahrtausenden in enormer Hitze verflüssigt und war dann wieder erstarrt. Auf diese Weise war eine Art Vorhang entstanden, hinter dem sich der Rest der Höhlenöffnung verbarg.

Orli war inzwischen des Kletterns müde geworden. Als sie die richtige Höhe erreichte, fand sie, wonach sie suchte. Sie näherte sich der Öffnung, und dabei rutschte der eine Fuß an einem glatten, schiefen Alaunblock ab. Mit beiden Händen hielt sich Orli an einem scharfkantigen Granitvorsprung fest, atmete mehrmals tief durch und zog sich dann in die dunkle Höhle.

Viele Räume in der Klikiss-Stadt waren halb eingestürzt und dunkel, weshalb die Kolonisten kleine Lampen bei sich führten. Orli kroch nach vorn, bis sie eine Kammer erreichte, griff dann in die Tasche. Sie hatte jetzt beide Hände frei und daher keine Mühe, die Lampe einzuschalten. Licht strich über die Höhlenwände.

Hier war der Granit rau und nicht wie draußen glasiert, aber Orli sah auf den ersten Blick, dass die Höhle, in der sie sich befand, unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte – dafür waren die Wände viel zu symmetrisch. Sie stellte sich vor, wie viele Arbeiter – Klikiss? – einen runden, fünf Meter durchmessenden Raum aus dem Fels meißelten. Aber warum so weit oben in der Schluchtwand? Sie leuchtete zur Decke hoch, ließ das Licht dann über die Wände streichen und hielt dabei nach Tunneln oder irgendeinem Ausgang Ausschau. Doch im Schein der Lampe erschien nur die netzartige Klikiss-Schrift, Hieroglyphen und Gleichungen, die spiralförmig von einem zentralen Punkt ausgingen.

Schließlich leuchtete Orli auf den Boden – und schnappte nach Luft.

Die letzten von Margaret Colicos übermittelten Berichte enthielten Bilder von einem mumifizierten Klikiss-Körper, gefunden auf Rheindic Co. Als Orli nun die Leiche auf dem Boden sah, erkannte sie sofort die ledrige, schabenartige Gestalt eines Klikiss. In diesem Fall war der Körper nicht mehr intakt: Das Ektoskelett schien von innen heraus explodiert zu sein, als wären zahlreiche verschluckte Minen detoniert. Die Gliedmaßen und Flügeldecken wirkten angenagt, als hätte sich etwas einen Weg aus dem Leichnam nach draußen gefressen. Vielleicht ein schrecklicher, auf Corribus beheimateter Parasit? Oder ein Raubtier?

Die Schatten in der Höhle schienen dunkler zu werden, die Temperatur schien zu sinken. Orli lauschte aufmerksam, hörte aber nur den eigenen rasenden Puls im Ohr, ihren Atem und das leise Seufzen des Winds jenseits des Höhlenzugangs.

Neben der Klikiss-Leiche bemerkte sie eine zweite zerfetzte Gestalt, größer und dunkler, wie von öligen Schatten überzogen. Sie hatte die gleiche äußere Form, bestand aber aus Metall und schwarzer Keramik – ein Klikiss-Roboter!

Die käferartige Maschine war ebenfalls auseinander gerissen, so wie die Klikiss-Leiche. Die einzelnen Komponenten wirkten wie zerschmettert. Kaum mehr identifizierbare Fetzen lagen überall in der Höhle verstreut, als hätte sich eine ganze Horde Aasfresser über den metallenen Kadaver hergemacht. Teile des fast unzerstörbaren Panzers waren geborsten und zerrissen. Orli schauderte, als sie sich vorzustellen versuchte, welche enorme Zerstörungskraft hier am Werk gewesen war.

All dies hatte sich vor vielen tausend Jahren ereignet, doch die Szene der Gewalt wirkte wie ein Schrei in der klaustrophobischen Stille. Etwas Schreckliches hatte einen Klikiss getötet und einen ihrer Roboter zerstört. Welche Art von Raubtier fiel sowohl über ein Lebewesen als auch eine Maschine her?

Die Höhle erschien Orli plötzlich viel kleiner, und die Luft in ihr fühlte sich dicker an. Sie wich zurück, stieß an den rauen Felsen der Wand und schrie unwillkürlich auf. Dies war nicht der mysteriöse Schatz, den sie zu finden gehofft hatte.

Sie versuchte, sich zu beruhigen, summte eine der Melodien, die sie auf dem Synthesizer komponiert hatte. Immer wieder sagte sie sich, dass es nichts zu befürchten gab. Was auch immer damals die Klikiss angegriffen hatte – es war seit Jahrtausenden von Corribus verschwunden.

Der rationale Teil ihres Selbst begriff, dass ihre Entdeckung tatsächlich ein wichtiger archäologischer Fund sein konnte. Doch obwohl Orli einen klaren Kopf hatte und ganz logisch dachte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Alles in ihr drängte danach, die Höhle so schnell wie möglich zu verlassen.

Sie befürchtete, dass der Abstieg an der steilen Felswand ziemlich lange dauern würde.