65 WEISER IMPERATOR JORA’H

In der Residenz des Dobro-Designierten begegnete der Weise Imperator Jora’h zum ersten Mal seiner Tochter. Angeblich sollte sie dazu bestimmt sein, das Ildiranische Reich zu retten, aber sie war noch ein kleines Mädchen!

Das Auftreten Osira’hs war weitaus sicherer, als es ihr Alter hätte vermuten lassen. Ihre großen Augen blickten unschuldig, und der Glanz in ihnen ging auf Jora’hs Gene zurück. Das schmale Kinn und den sanften Gesichtsausdruck hatte sie von ihrer Mutter geerbt.

Seine Tochter zu sehen… Für Jora’h war es wie ein elektrischer Schlag, der eine Flut von Erinnerungen an die Zeit freisetzte, in der er die schöne Nira geliebt hatte – mit ihr war er öfter intim zusammen gewesen als mit jeder anderen Partnerin vor und nach ihr. Inzwischen waren Jahre vergangenen, und er glaubte die grüne Priesterin tot, aber seine Sehnsucht nach ihr hatte nicht nachgelassen.

Als Jora’h nun vor Osira’h stand, löste sich ein großer Teil von Kummer und Trauer auf. Es überraschte ihn, ihre unglaubliche Kraft und Intelligenz im Thism zu fühlen, obgleich das Mädchen dank seiner Mutter eine andere Verbindung und ein fremdartiges geistiges Muster hatte. Selbst als Weiser Imperator konnte er keinen direkten Kontakt mit Osira’h herstellen. Trotzdem gewann er den Eindruck von Stärke, wobei ihm ihr tatsächliches Potenzial verborgen blieb.

»Osira’h«, sagte er, und es klang wie ein Seufzen. »Du bist… wunderschön.«

Das Mädchen verneigte sich und mied seinen Blick. »Es ehrt mich, dir zu dienen, Weiser Imperator.« Osira’hs Förmlichkeit war wie ein kristallenes Messer in seiner Brust, bis sie schließlich aufsah. Er bemerkte einen sonderbaren Wissensdurst in ihren Augen, ein Erkennen, so als teilte sie viele Erinnerungen mit ihm, obgleich sie sich jetzt zum ersten Mal begegneten. Ihre Gedanken und Gefühle waren wie ein Echo, wie Rauch im Thism.

»Wir sind sehr zufrieden mit Osira’hs Entwicklung«, sagte Udru’h und unterbrach Jora’hs Überlegungen. »Die besten Lehrer und Linsen-Ildiraner haben sie unterwiesen, und ihre Leistungen sind hervorragend. Ihre Fähigkeiten gehen über all das hinaus, was wir bisher gemessen haben. Der Krieg dauert an, und wir wissen, dass nur sehr wenig Zeit bleibt. Osira’h ist fast bereit, als geistige Brücke zwischen Ildiranern und Hydrogern zu fungieren und die Verbindung herzustellen, die wir dringend brauchen.«

Jora’h legte seiner Tochter sanft den Finger unters Kinn und hob ihren Kopf, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Stimmt das?«

»Ich bin bereit.« Die funkelnden Augen blinzelten. »Wenn ich gebraucht werde.« Osira’h war noch jung, aber Jora’h trauerte um all die Zeit, die er nicht mit ihr hatte verbringen können. Er war ihr Vater und hätte beobachten sollen, wie sie aufwuchs und lernte, so wie bei seinen anderen Kindern, bei all den Designierten-in-Bereitschaft. Doch Osira’h war etwas Besonderes, und nicht nur im Rahmen des Zuchtprogramms von Dobro.

Er wandte sich an den ernsten Designierten. »Ich möchte mit Osira’h das Grab ihrer Mutter besuchen. Ich nehme an, dass du es markiert hast, damit wir…« Fast wäre seine Stimme gebrochen. »… sie besuchen und uns gemeinsam an sie erinnern können.«

Udru’hs Gesicht blieb ausdruckslos. »Wie du wünschst, Herr.«

Niras Gedenkstein stand auf einem der Hügel, dessen Vegetation sich vom Feuer während der letzten Trockenzeit erholte. Die Asche hatte den Boden wieder fruchtbar gemacht, und das Gras wuchs hoch und dicht, bedeckte die Brandwunden.

Das Grab befand sich neben einigen Dornbäumen, die das Feuer überlebt hatten. Die nahen Pflanzen rochen frisch und lebendig, wie ein schwaches Echo des theronischen Weltwaldes. Ja, ein solcher Ort hätte Nira gefallen.

Jora’h nahm die Hand des Mädchens und kniete im Schatten der Dornbäume. Der Gedenkstein war ein Block, der einen kleinen Projektor enthielt. Über dem Holoring sammelte ein facettierter Kristall das Sonnenlicht für eine Projektion von Niras schönem Gesicht – die dreidimensionale Aufnahme stammte vermutlich aus Aufzeichnungen des Zuchtprogramms.

Der Anblick zerriss Jora’h fast das Herz. Osira’h schien ebenfalls traurig und betroffen zu sein, obwohl sie ihre Mutter nach Udru’hs Angaben nie gesehen hatte. Stumm betrachteten sie das Gesicht, vereint im Kummer. Jora’h bedauerte, dass er seine Erinnerungen an Nira und die Liebe für sie nicht mit Osira’h teilen konnte. Erneut überraschte ihn seine Tochter mit ihrer Aufmerksamkeit und einem tiefen intuitiven Verständnis – sie schien ebenso um Nira zu trauern wie er.

Eine Zeit lang gab sich Jora’h Erinnerungen und Gram hin. Er hätte nie gedacht, dass ihn sein Vater bewusst täuschen könnte. Inzwischen wusste er es besser…

Mit den Fingern der freien Hand strich Jora’h über die angesengte Rinde der nahen Bäume. »Ich wünschte, deine Mutter könnte ihrem Wald näher sein. Wenn sie ihn doch noch einmal sehen könnte. Sie liebte Theroc so sehr… Und jene Bäume erholen sich jetzt von dem Angriff der Hydroger.« Und du, Osira’h, musst irgendwie einen Frieden mit ihnen aushandeln, dachte er.

Er ließ Osira’hs Hand los und tastete nach Niras Gesicht, murmelte Entschuldigungen und hätte fast geweint. »Was du erleiden musstest, tut mir schrecklich Leid, Nira. Ich hätte alles für dich getan, aber jetzt ist es zu spät. Ich kann es nicht wieder gutmachen… Aber vielleicht bin ich imstande, das ildiranische Volk zu retten.«

Osira’h blieb an seiner Seite. Sie wirkte beunruhigt und verwirrt, aber auch entschlossen. »Wenn ich Erfolg habe, wenn ich eine Brücke zu den Hydrogern baue, damit sie aufhören, Ildiraner zu töten… Ist dann alles gerechtfertigt?«

»Hast du Zweifel?« Er musterte sie und spürte ihre kraftvolle Präsenz durchs Thism, ohne Osira’h so sondieren zu können wie seine anderen Kinder. Fast erschien es so, als schirmte sie sich ab.

»Ich zweifle nicht daran, wozu ich fähig bin und warum es getan werden muss.« Das Mädchen zögerte. »Aber… keiner der Menschen auf Dobro ist freiwillig hier. Meine Mutter war ebenso gefangen wie sie. Schließt du das Lager?«

Jora’h fröstelte und wusste, dass Udru’h mit Osira’h nicht über solche Dinge gesprochen hätte. »Das möchte ich sehr. Aber die Hydroger greifen uns immer wieder an, und die Klikiss-Roboter sind keine zuverlässigen Verbündeten mehr. Wir stehen so dicht vor dem Ziel – wie soll ich die Arbeiten einstellen, bevor du Gelegenheit bekommst, deine Fähigkeiten zu beweisen? Die Menschen hier wurden nach Dobro gebracht, lange bevor ich etwas von dem Projekt wusste. Wenigstens erinnern sie sich an nichts anderes und kennen kein anderes Leben.«

»Meine Mutter kannte ein anderes Leben«, sagte Osira’h, und dabei zeigte sich sonderbare Strenge in ihrem jungen, unschuldigen Gesicht.

Jora’h richtete einen verblüfften Blick auf Jora’h. »Woher weißt du das? Wie kommst du darauf?«

»Sie… hat mit einigen der Gefangenen darüber gesprochen«, erwiderte Osira’h mit plötzlicher Nervosität. »Aber sie glaubten ihr nicht die Geschichten über freie Welten fern von dieser.«

Erneut musterte Jora’h seine Tochter, die so tapfer neben ihm stand. »Osira’h, du ahnst nicht, wie sehr ich bedauere, dass du deiner Mutter nie begegnet bist. Sie war eine wundervolle Person, schön und lustig. Sie gewann mein Herz wie keine andere Frau, und jetzt kannst du sie nicht mehr kennen lernen.«

Osira’h berührte Jora’h vorsichtig an der Schulter, und er spürte einen warmen Fluss überraschender Liebe. »Ich kenne sie bereits. Es gibt keine Geheimnisse.«

Jora’h sah sie an, aber mehr sagte das zurückhaltende Mädchen nicht.