74 ORLI COVITZ

Orli sah auf Corribus nicht viele Gelegenheiten, Freundschaft zu schließen, aber sie beschloss, es zu versuchen, für ihren Vater und auch für sich selbst.

Mit ihren vierzehn Jahren war Orli eigentlich zu jung für die erste Kolonistenwelle auf neuen Welten. Zu Anfang musste enorm viel Arbeit geleistet werden, um die nötige Infrastruktur und alle anderen Grundlagen für eine funktionierende Kolonie auf Corribus zu schaffen. Erst mit der zweiten Welle konnten Familien mit kleinen Kindern kommen, wenn die Kolonie nicht mehr von regelmäßiger Versorgung durch die Hanse abhing.

Aber Orli hatte immer ihren Beitrag geleistet. Schon während ihrer Kindheit war sie bereit gewesen, Erwachsenenverantwortung zu übernehmen, und auf der Pilzfarm auf Dremen hatte sie viele Arbeiten erledigt. Bei seinem Antrag für die Transportal-Kolonisierungsinitiative hatte Jan Covitz Ethik, Reife, Intelligenz und Kreativität seiner Tochter in den höchsten Tönen gelobt und dadurch eine Sondergenehmigung für Orli bekommen.

Zur ersten Gruppe, die auf Rheindic Co das Transportal nach Corribus durchschritt, gehörten fünf andere Personen unter achtzehn, zwei von ihnen Jungen. Am ersten Tag auf Corribus, als Orli die Klikiss-Ruinen erforschte, nach exotischen Geheimnissen und verborgenen Schätzen suchte, begegnete sie zwei Mädchen, Lucy und Tela, beide fünfzehn Jahre alt. Sie kamen von New Portugal und sprachen mit einem starken Akzent. Die beiden Mädchen waren ihr Leben lang miteinander befreundet und erzählten dauernd, wie schlimm es auf New Portugal gewesen war, mit all den Brennereien, Weinkellereien und dem trockenen, felsigen Hügelland. Orli fand, dass die alte Heimat der beiden nicht so schlecht gewesen war wie Dremen, aber Lucy und Tela waren nicht an ihren Vergleichen interessiert, und so verbrachte Orli wieder mehr Zeit mit ihrem Vater.

Die von der Hanse beauftragten Architekten und Bauarbeiter begannen mit einer kartographischen Erfassung und Untersuchung der Klikiss-Gebäude im leeren Canyon. Zuerst wohnten die Kolonisten in Zelten und Hütten, wie im Lager auf Rheindic Co, aber sie wünschten sich natürlich permanente Unterkünfte.

Die Klikiss-Stadt befand sich am Fuß beeindruckender granitener Berge, die steil aus der Ebene aufragten. Jenseits davon erstreckte sich offenes Land, eine trockene Prärie. Die neuen Bewohner von Corribus beschlossen, die Ruinen als Fundament für ihre eigene Stadt zu nutzen.

Die Gebäude der Klikiss waren Teil der Granitwände, und es sah aus, als schmiegten sie sich in die Armbeuge eines Riesen. Die steinerne Zuflucht hatte sich letztendlich als Falle erwiesen, in der die letzten Klikiss in die Enge getrieben und getötet worden waren. Die Entladungen mächtiger Waffen hatten die Felswände weiter oben glasiert.

Auch nachdem die Unersättliche Neugier und Blinder Glaube Ausrüstungsmaterial gebracht hatten, blieben die neuen Kolonisten auf die Werkzeuge angewiesen, die sie selbst mitgebracht hatten, und auf die Dinge, die sie dem Land abgewinnen konnten. Nach seinen ersten Streifzügen schlug der alte Hud Steinman vor, das Holz der Stangenbäume zu nutzen. Eifrige Arbeiter machten sich auf den Weg, um die Bäume zu fällen, und dabei scheuchten sie große Geschöpfe auf, die im hohen Gras verborgen gewesen waren. Als Lucy und Tela die seltsamen Geräusche im Gras hörten, kehrten sie verängstigt in die Sicherheit der Schlucht zurück. Orli war ebenfalls beunruhigt, aber da die beiden Mädchen die Flucht ergriffen hatten, fühlte sie sich verpflichtet, zu bleiben und zu helfen.

Sie biss die Zähne zusammen, stapfte durchs flüsternde Gras und folgte den sonderbaren Geräuschen, bis sie ihre Ursache entdeckte: kaninchengroße Grillen – harmlose Wesen mit schwarzen Beinen, deren Gelenke auffällig groß waren, weichen runden Köpfen und dicklichen Körpern, von braungrauem Pelz bedeckt. Sie wirkten sehr niedlich, und es fiel Orli nicht schwer, eins der Tiere zu fangen. Als sie die pelzige Grille hob, kuschelte sie sich an sie, und Orli beschloss, sie zu behalten. Immerhin hatte ihr Vater sie aufgefordert, Freundschaft zu schließen.

Die Erwachsenen kehrten mit den Stämmen von Stangenbäumen über den Schultern in die Schlucht zurück, und Orli folgte ihnen mit der Grille. Im Lager fertigte sie einen Riedkäfig an, obgleich das Geschöpf nicht den Eindruck erweckte, weglaufen zu wollen. Mit ihren Synthesizer-Streifen spielte sie ihm Musik vor und freute sich, als es schnurrte und zirpte.

Als Lucy und Tela die pelzige Grille sahen, wollten sie ebenfalls welche und bedrängten ihre Väter, sich auf die Jagd zu begeben. Den beiden Männern gefiel es nicht, dass sie ihre wichtige Arbeit unterbrechen mussten, aber sie klopften ihren Töchtern tröstend auf die Schultern – sie wussten, wie schwer es den Mädchen fiel, sich an die neue Heimat zu gewöhnen. Einige Stunden später kehrten sie ins Klikiss-Dorf zurück, mit zwei Pelzgrillen, von denen Lucy und Tela prompt behaupteten, sie wären viel hübscher und niedlicher als Orlis Exemplar.

Orli durchstreifte die Klikiss-Gebäude, auf der Suche nach einem geeigneten Quartier. Ihr Vater schien sich mit dem Zelt zufrieden zu geben, in dem sie wohnten, aber Orli wünschte sich etwas Besseres auf ihrer neuen Welt.

Nachdem Jan einige Tage lang an mühevollen Ausgrabungsarbeiten in der Klikiss-Stadt teilgenommen hatte, gelang es ihm, zum Kommunikationsbeamten der Kolonie gewählt zu werden. Orlis erfreuter Vater verstand nicht mehr von Kommunikationsgeräten als sonst jemand auf Corribus, aber er hatte nun einen Posten, und das war Jan lieber, als mit Schaufeln und energetischen Spitzhacken Schutt beiseite zu räumen.

Abends, während er sich zufrieden entspannte, spielte Orli Musik, und sie sprachen über ihre Zukunft. Jan fütterte die Pelzgrille ebenso oft wie Orli und sah in ihr vielleicht so etwas wie eine verwandte Seele, die ebenso sorglos von einem Tag auf den nächsten lebte wie er selbst.

Corribus schien der perfekte Ort für sie zu sein.