2 WEISER IMPERATOR JORA’H

Nur wenige Tage nachdem er zum Weisen Imperator geworden war, beobachtete Jora’h, wie Salber den korpulenten Leib seines toten Vaters auf die feierliche Kremation vorbereiteten.

Er hatte nicht erwartet, unter solchen Umständen Oberhaupt seines Volkes zu werden, aber er musste das Ildiranische Reich jetzt regieren. Jora’h wollte Dinge verändern, das Leben der Ildiraner erleichtern und jenen helfen, die gelitten hatten, doch er trug die Fesseln alter Verpflichtungen und musste Pläne weiterführen, von denen er bisher gar nichts gewusst hatte. Er fühlte sich wie in einem Netz aus tausenden von klebrigen Fäden gefangen, und bisher sah er keine Möglichkeit, sich daraus zu befreien.

Doch bevor er sich seinen vielen neuen Pflichten zuwenden konnte, musste er bei der Totenfeier seines Vaters präsidieren, der sich mit Gift umgebracht hatte.

Angehörige des Bediensteten-Geschlechts trugen den Chrysalissessel in den Raum, wo die letzten Vorbereitungen stattfanden. Stumm saß Jora’h auf seinem schwebenden Thron und blickte auf das erschlaffte Gesicht seines Vaters hinab. Dumpfer Zorn brodelte in ihm.

Verrat, Komplotte, Lügen… Wie konnte er all die Dinge ertragen, über die er Bescheid wusste? Jora’h war jetzt Geist, Seele und Galionsfigur des ildiranischen Volkes. Es stand ihm nicht zu, seinen Vater zu verwünschen, aber das hinderte ihn nicht daran…

Der frühere Weise Imperator hatte Selbstmord begangen, im eigenen Tod die einzige Möglichkeit gesehen, seinen Sohn zu zwingen, die grausamen Geheimnisse des Reiches zu erben. Jora’h stand den schrecklichen Offenbarungen noch immer fassungslos gegenüber. So sehr er auch verabscheute, was er erfahren hatte – er verstand die erbarmungslose Logik hinter jenen grässlichen Maßnahmen. Er hatte nichts von der verborgenen Gefahr geahnt, die dem Ildiranischen Reich drohte, auch nichts von der kleinen Chance, dem winzigen Hoffnungsschimmer, den es nur gab, wenn die Experimente auf Dobro fortgesetzt wurden.

Der attraktive Jora’h hatte ein glattes Gesicht und goldenes Haar, zu einem Zopf geflochten, der irgendwann einmal ebenso lang sein würde wie der seines Vaters. Im Lauf der Zeit mochten sich auch seine klassischen Züge verändern, wenn er in die Rolle des gutmütigen, im Chrysalissessel thronenden Herrschers hineinwuchs. Das behütete Leben als Erstdesignierter hatte ihn nicht auf die schrecklichen Geheimnisse vorbereitet. Doch jetzt, durch das Thism, wusste er alles. Es war genau so, wie es sein Vater beschrieben hatte: ein Segen und ein Fluch.

Und jetzt war er gezwungen, den gleichen Weg zu beschreiten, obwohl er sich am liebsten sofort auf den Weg gemacht hätte, um seine geliebte, gefangene Nira wieder zu sehen. An der Entschlossenheit, sie zu befreien, hielt er fest. Wenigstens das war möglich – sobald der Machtwechsel ganz vollzogen war und er eine Möglichkeit fand, den Prismapalast zu verlassen.

Ganz vorsichtig wuschen die Salber die schwere Leiche des früheren Weisen Imperators. Cyroc’hs Fleisch wirkte wie gummiartiger Stoff, der sich leicht von den Knochen lösen ließ.

Bedienstete schnatterten wie verzweifelt und drängten nach vorn, um zu helfen, aber diese Phase der Zeremonie betraf sie nicht, und Jora’h schickte sie fort. Einige von ihnen würden sich vielleicht aus Kummer von einem hohen Turm des Prismapalastes stürzen, doch Jora’hs Elend angesichts der Dinge, von denen er wusste, war noch viel größer. Niemand konnte ihm dabei helfen zu entscheiden, wie er am besten regieren und was er in Hinsicht auf Dobro unternehmen sollte…

»Wie lange dauert es?«, fragte er die Salber.

Die Männer mit den steinernen Mienen sahen auf. »Bei einer so wichtigen Angelegenheit müssen wir besonders gute Arbeit leisten, Herr«, sagte ihr Oberhaupt. »Es ist die bedeutendste Pflicht, die wir jemals erfüllen werden.«

»Natürlich.« Jora’h sah ihnen weiter schweigend zu.

Die Salber trugen spezielle Handschuhe, als sie in Töpfe griffen und ihnen silbergraue Paste entnahmen, die sie liebevoll auf den Leichnam des toten Weisen Imperators strichen. Sie achteten darauf, die ganze Haut damit zu bedecken.

Schon in der Düsternis des Vorbereitungszimmers begann die Paste zu sieden, und Rauch stieg auf. Die Salber arbeiteten schneller, ohne dabei nachlässig zu werden. Als der ganze Körper eingerieben war, hüllten sie ihn in ein undurchsichtiges Tuch und verkündeten ihre Bereitschaft.

»Zum Dach«, sagte Jora’h. »Und gebt den Designierten Bescheid.«

Die Söhne des toten Weisen Imperators und Jora’hs eigene Kinder versammelten sich auf der höchsten transparenten Plattform über den Kuppeln des Prismapalastes. Das Licht multipler Sonnen gleißte auf sie herab.

Während Jora’h im hellen Sonnenschein wartete, dazu bereit, seinen Teil zur Zeremonie beizutragen, musterte er seine Brüder, die früheren Designierten, die von den Splitter-Kolonien des Reiches gekommen waren, trotz des Mangels an Treibstoff für den Sternenantrieb. Jora’hs Söhne – die nächste Designierten-Generation – standen ernst und respektvoll neben ihrem ältesten adligen Bruder Thor’h, der jetzt zum Erstdesignierten geworden war. Pery’h, der Designierte-in-Bereitschaft für den Planeten Hyrillka, stand neben seinem Bruder Daro’h, dem Dobro-Designierten-in-Bereitschaft. Andere warteten bei ihren Onkeln, die sie bald ersetzen würden.

Die Tatsache, dass der Hyrillka-Designierte nicht anwesend war und noch immer bewusstlos im medizinischen Zentrum des Prismapalastes lag, warf einen Schatten auf die Zeremonie. Seine körperlichen Verletzungen waren geheilt, aber Rusa’h verharrte in einem tiefen Subthism-Schlaf, in dem ihn vermutlich Albträume vom Angriff der Hydroger auf seinen Zitadellenpalast plagten. Es musste bezweifelt werden, ob er jemals wieder erwachte, was bedeutete, dass Hyrillka bald ein neues Oberhaupt brauchte. Pery’h war noch nicht vorbereitet, doch er würde seinen Platz ohne Rusa’h als Mentor einnehmen müssen…

Angehörige des Salber-Geschlechts trugen Cyroc’hs Leiche zur Plattform und brachten Linsen und Spiegel in Position. Alles spielte sich in feierlicher Stille ab. Stumme Träger positionierten den Chrysalissessel neben Cyroc’h, der noch immer vom undurchsichtigen Tuch umhüllt war.

Jora’h hob den Blick zu seinen Brüdern und Söhnen, als er mit der linken Hand nach dem dicken Stoff griff. »Mein Vater diente als Weiser Imperator während eines Jahrhunderts des Friedens und auch in der jüngsten Krise. Seine Seele ist bereits den Fäden des Thism in die Sphäre der Lichtquelle gefolgt. Jetzt wird sich auch sein Leib dem Licht hinzugesellen.«

Mit einem plötzlichen Ruck zog Jora’h das Tuch von der Leiche seines Vaters. Das Licht von sieben Sonnen fiel auf ihn und aktivierte die schimmernde metallische Paste auf der Haut des Toten. Sofort umgaben weiße Flammen den massigen Leib. Die photothermische Paste verbrannte den Körper nicht, sondern löste ihn auf. Haut, Muskeln und Fettgewebe verwandelten sich in Gas, das aufstieg und funkelte…

Der tote Weise Imperator verschwand in einer Wolke aus wogendem Dampf und Rauch. Als sie sich verzogen hatte, blieben nur Cyroc’hs glühende Knochen übrig, von biolumineszenten Verbindungen durchsetzt. Sein sauberer, leerer Schädel war ein Symbol für die großartigen Taten, die er vollbracht hatte – und auch für die schrecklichen Dinge, zu denen er gezwungen gewesen war, um das Ildiranische Reich zu erhalten.

Als neuer Weiser Imperator bestand Jora’hs unmittelbare Pflicht darin, die Designierten-in-Bereitschaft loszuschicken, um den Herrschaftswechsel zu besiegeln. Anschließend konnte er nach einer Möglichkeit suchen, Nira zu befreien. Er sah seine Söhne und Brüder an. »Und nun müssen wir uns wieder dem Reich zuwenden.«