42 CESCA PERONI
Als Cesca mit dem sonderbar veränderten Jess in ihrem Büro allein war, hätte sie sich am liebsten in seine Arme geworfen. Doch das warnende Glühen der Energie in ihm hinderte sie daran. Seine Haut knisterte, als stünde sie unter Strom.
»Was ist mit dir geschehen? Erklär mir, wie… du dich verändert hast, Jess.« Sie sah in sein attraktives, offenes Gesicht, in seine blauen Augen, und erinnerte sich daran, wie sie sich geküsst hatten.
Er stand so weit von ihr entfernt, wie es die Felswände erlaubten, und hob die Hände, damit Cesca nicht näher kam. Sie sah die ölige Feuchtigkeit an seiner Haut und der wie Perlmutt schimmernden Kleidung. Gesicht und Hände wirkten wie durchsichtig; der ganze Körper schien die gespenstische Phosphoreszenz von Tiefseegeschöpfen gewonnen zu haben. Die Luft in Jess’ Nähe roch nach Ozon.
»Ich lebe, was ich den Wentals verdanke, aber ich bin nicht länger menschlich, Cesca. Ich kenne noch nicht die Hälfte der Dinge, zu denen ich imstande bin… es ist phantastisch.«
»Wenn der Mann, den ich kannte und liebte, noch irgendwo da drin ist, finden wir einen Weg, zusammen zu sein, Jess. Unser Leitstern wird ihn uns zeigen.«
Wieder hielt Jess Cesca mit einer knappen Geste auf Distanz. »Diese Sache ist wichtiger als wir beide. Es gibt so viel, das ich tun kann, für uns alle. Die Überwindung unserer Krise rückt in Reichweite. Mithilfe der Roamer kann ich nicht nur ein Volk retten, sondern zwei. Menschen und Wentals.«
Cesca sank in den Sessel hinter ihrem Schreibtisch und blinzelte verwirrt. »Ich brauche einige Erklärungen von dir. Wer oder was sind die… Wentals?«
»Unglaubliche Wasserentitäten, möglicherweise ebenso stark wie die Hydroger. Und sie befinden sich jetzt in mir. Wentals und Droger waren tödliche Feinde bei einem Konflikt vor über zehntausend Jahren. Ich muss ihnen Gelegenheit geben, sich wieder auszubreiten, damit sie uns in diesem Krieg helfen können.«
»Aber was hat das mit uns beiden zu tun?«
Jess sah auf seine Hand hinab und beobachtete, wie die Wassertropfen lebenden Wesen gleich über die Haut krochen. Er berichtete Cesca, was geschehen war. »Mein Körper enthält eine Energie, die nicht ganz meiner Kontrolle untersteht. Ich wage es nicht, jemanden zu berühren, denn es könnte sein, dass ich anderen Personen dadurch schade. Ich bin jetzt… anders, und ich trage Verantwortung. Es geht hier um viel mehr als nur um uns beide.«
Cesca nickte und richtete einen traurigen Blick auf ihn. Es ging immer um mehr, und sie war immer bereit, das notwendige Opfer zu bringen. Mit diesem Schicksal hatte sie sich abgefunden, als sie Sprecherin aller Clans geworden war. »Es ist eine unmögliche Situation, Jess.«
»Gib mir Zeit, Cesca. Die Wentals sind erstaunlich und mächtig. Ich werde einen Weg für uns finden, dies gemeinsam zu machen, zusammen zu sein… irgendwie. Du weißt, dass sich an meiner Liebe für dich nichts geändert hat.«
»Ja, das weiß ich, Jess. Aber dadurch wird dies nicht einfacher.«
Er senkte die Stimme. »Ich habe nicht um diese Macht gebeten, aber jetzt verfüge ich darüber, und ich muss einen Preis dafür bezahlen. Die Ausbreitung der Wentals und der Sieg über die Hydroger – das sind derzeit meine obersten Prioritäten.«
»Dann lass mich dir helfen. Auf jede mögliche Weise. Du brauchst nur zu fragen.«
»Ich benötige die Hilfe der Clans. Allein kann ich dies nicht schaffen.«
Cesca bemerkte, dass Jess nicht atmete. Er holte nur Luft, um zu sprechen.
Sie blieb am Schreibtisch sitzen und versuchte, kühle Sachlichkeit wie bei einem geschäftlichen Gespräch zu zeigen. »Ich werde dir die Möglichkeit geben, zu den Roamern zu sprechen. Sie alle wollen deine Geschichte hören, insbesondere wenn du uns eine Chance gibst, die Droger zu schlagen.«
»Danke.«
Später, als sie zur Versammlungshöhle gingen, schien Jess zu befürchten, dass er sie durch Zufall berühren könnte. Sein gewelltes braunes Haar hing glatt und nass herab, und das Leuchten unter seiner feuchten Haut wies auf eine Energie hin, die sich entladen konnte, wenn er nicht aufpasste.
Cesca sah ihn an und bemerkte ein Schimmern in seinen Augen, aber nicht von Tränen, sondern wie von einem Ozean aus Sternen. Jess vermittelte den Eindruck von brodelnder Kraft, und der Geruch von Ozon umgab ihn, als hätte ihn jemand mit Generatoren verbunden und sie anschließend auf volle Leistung hochgefahren.
Cesca trat gefährlich nahe an ihn heran und bedauerte sehr, nicht seine Hand nehmen zu können. »Gehen wir gemeinsam hinein, Jess.«
Ein aufgeregtes Stimmengewirr erwartete sie in der Höhle, als Jess und Cesca zum Podium gingen. Einige von Jess’ früheren Freunden riefen ihm ermutigende Worte zu; selbst von den höchsten Plätzen aus war seine Veränderung zu sehen. Inzwischen wussten alle, dass er mit einem seltsamen Wasser-und-Perlmutt-Raumschiff gekommen war.
Cesca hob die Stimme und bat um Stille. Sie trug ein Cape, das sie von Jhy Okiah bekommen hatte, mit vielen Stickereien auf dem dunkelblauen Stoff: die Symbole aller Roamer-Clans wie Konstellationen um das Peroni-Symbol, feierlicher Hinweis auf das gemeinsame Erbe und die Familienverbindungen. »Wir sind Roamer! Wir stellen uns Herausforderungen und ungewöhnlichen Aufgaben.« Sie senkte die Stimme und fügte in einem gut aufgelegten Ton hinzu: »Aber nie zuvor in unserer Geschichte geschah etwas, das sich mit den Dingen vergleichen lässt, von denen uns Jess Tamblyn erzählen wird.«
Als Jess zu der Versammlung sprach, brauchte er weder Mikrofone noch Lautsprecher. Niemand sah ihn atmen, und doch hallten seine Worte wie Donnerschläge durch die Höhle. Stumm und fasziniert hörte das Publikum zu, als er beschrieb, wie er mit dem Nebelsegler interstellares Gas gesammelt und dabei einen Teil des Körpers einer mächtigen Entität destilliert hatte, den letzten Überlebenden eines Volkes, das ein tödlicher Feind der Hydroger gewesen war.
Voller Leidenschaft fuhr er fort, zögerte nie und musste nicht einmal nach Worten suchen. »Jetzt bin ich nach Rendezvous zurückgekehrt und bitte die Roamer um Hilfe. Diese Wesen sind bereit, uns vor den Hydrogern zu schützen – aber zuerst müssen wir dafür sorgen, dass sie wieder stark werden. Ich brauche alle, die ein gutes Schiff haben, um die Saat der Wentals im Spiralarm auszubringen. Wenn ihre Zahl steigt, haben wir einen wirklich mächtigen Verbündeten.«
Nikko Chan Tylar rief von einer der nächsten Sitzreihen: »Wir alle sehen, wie der Wental Sie verändert hat, Jess. Wenn wir dieses Superwasser zu anderen Welten tragen… Wie können wir sicher sein, dass es dabei nicht zu einem Kontakt und weiteren Infektionen kommt?«
Eine schroffe Stimme erklang. »Shizz, wenn Jess Tamblyn ohne Schutzanzug im All herumspazieren kann… Ich schätze, einige von uns wären an solchen Vorteilen interessiert. Warum sollten wir nicht ebenfalls das Wental-Wasser trinken? Wie fühlt es sich an, Jess?«
»Ich bin eine Anomalie, und hoffentlich bleibe ich die einzige«, antwortete er. »Ich darf niemanden berühren, denn die Energie in mir könnte andere Personen wie ein Blitz töten. Denken Sie daran: Die Wentals mussten diese dramatische Maßnahme ergreifen, um mir das Leben zu retten, aber sie werden nicht zulassen, dass es noch einmal geschieht. Allein der Kontakt mit dem Wental-Wasser führt nicht zu einer derartigen… Kontamination.«
»Woher sollen wir wissen, dass die Wentals wirklich so altruistisch sind, wie Sie behaupten?«, rief Anna Pasternak. »Vielleicht schaffen wir letztendlich etwas so Abscheuliches wie die Hydroger.«
Cesca ließ den Blick übers Publikum schweifen und wusste: Einige Roamer waren überzeugt, und andere blieben skeptisch. »Vergesst nicht, dass die Wentals vor zehntausend Jahren gegen die Hydroger kämpften. Jess hat darauf hingewiesen, dass sie auch mit dem Wald von Theroc verbündet waren. Ich sehe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«
Jess dachte über seine Antwort nach. »Ich bin noch immer ein Roamer und bitte euch, mir zu vertrauen.«
»Das genügt mir«, sagte Alfred Hosaki. »Roamer haben sich immer aufeinander verlassen. Wir müssen einander vertrauen, insbesondere jetzt, nach dem Abbruch der Handelsbeziehungen. Wer allem misstraut, sollte zur Großen Gans gehen.«
In seiner Sitzreihe sprang Nikko so abrupt auf, dass er sich an einer Ankerstange festhalten musste, um in der niedrigen Schwerkraft nicht nach oben zu schweben. »Ich melde mich als Erster für Jess’ Mission. Ich habe mein eigenes Schiff. Je schneller wir die Hydroger besiegen, desto eher können wir wieder unsere Himmelsminen in Betrieb nehmen.«
Cesca lächelte. Jess würde viele Freiwillige bekommen.